ANETTE L. DRESSLER: Brockesstraße Beletage

Ein Debütroman in der Stroux edition: “Brockesstraße Beletage” erzählt die Geschichte zweier Frauen, die kurz nach Kriegsende eine Zweckgemeinschaft eingehen müssen.

Die altansässige Lübeckerin Alma Curtz muss im Jahr 1947 zwangsweise die aus Masuren geflüchtete Frieda Markuweit in ihre Wohnung in der Brockesstraße aufnehmen. Beide Frauen sind Kriegerwitwen, sonst gibt es aber keine Übereinstimmung. Alma träumt davon, ihren Kurzwarenladen wieder eröffnen zu können und endlich wieder einmal tanzen zu dürfen. Frieda sehnt sich zurück nach der verlorenen Idylle ihres Beamtenhaushaltes. Der Roman schildert die auseinanderklaffenden Lebenswelten dieser beiden Frauen vor dem Hintergrund von Gaunereien, Schwarzhandel, Tanzwut, Swing, vom Hunger nach Leben und Liebe.

Die Autorin:
Anette L. Dressler wuchs mit ihrer Schwester in Lübeck und am Ostseestrand auf. Sie studierte in Berlin Französisch und Englisch und unterrichtete die Fächer als Lehrerin und Dozentin. Sie lebt mit ihrem Mann in Berlin und Lübeck und schreibt Kurzrezensionen für ein Kulturportal.
Die Spurensuche nach der Herkunft und dem Ankommen ihrer Familie in Schleswig-Holstein nach Ende des Zweiten Weltkrieges inspirierte sie zu ihrem Debütroman „Brockesstraße Beletage“.

Informationen zum Buch:
ANETTE L. DRESSLER
Brockesstraße Beletage
in Lübeck St. Lorenz Nord
STROUX edition, München
328 Seiten, Hardcover
€ 24,00 [D]
ISBN 978-3-948065-28-7
https://stroux-edition.de/

Leser*innenstimmen zum Buch:

“Was der 300-Seiten-Roman auf jeden Fall leistet, ist ein sehr nahbarer Einblick in das Nachkriegsdeutschland in Bezug auf Alltäglichkeiten: Ein Mocca faux, hier des Öfteren Mukkefukk bezeichnet, hinterlässt ein Lächeln. Man erfreut sich über das Wissen um Nylonstrümpfe, Lebensmittelbeschaffung, Flohbeseitigung oder Ausgehmöglichkeiten der damaligen Zeit in Lübeck. Sehr sanft und verhalten wird die Annäherung zwischen den beiden Frauen erzählt und doch bietet sich ein Exempel für die Migration der Gegenwart – Fremdes wird irgendwann zu Vertrautem.” – katkaesk

“Anette L. Dressler ist in Lübeck aufgewachsen. Ihr erster Roman „Brockesstraße Beletage“ ist nicht nur eine Hommage an ihre hanseatische Heimatstadt, sondern vor allem auch ein zeitgeschichtlich hochinteressantes Porträt der Nachkriegszeit des Jahres 1947, das zwei starke Frauen mit bemerkenswertem Schicksal in den Mittelpunkt stellt.” – Kulturbowle

Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag

#MeinKlassiker | Hildegard E. Keller sagt: Endlich! Etty Hillesum – Chronistin ihrer Zeit

Erstmals liegen sämtliche Schriften Etty Hillesums in deutscher Sprache vor. Endlich, sagt Literaturexpertin Hildegard E. Keller. Denn die Tagebücher der jungen Niederländerin werden als philosophische Lebenskunst, Mystik des Alltags und Ethik des Mitleidens gefeiert. Für Keller ist Hillesum #MeinKlassiker.

2016 bat ich einige Literaturblogger*innen, Autor*innen und andere Menschen aus dem Literaturbetrieb, doch einmal ganz frei über ihre Klassiker zu schreiben: Schriftstellerinnen und Schriftsteller und Bücher, die einen das ganze Leben über begleiten. Der Zuspruch und das Interesse war enorm: Es gab 35 Beiträge unter dieser Rubrik auf dem Blog, der seinerzeit noch unter Sätze&Schätze firmierte. Sie werden nach wie vor gelesen: Klassiker machen neugierig. Allen, die bisher zu der Reihe beigetragen haben, an dieser Stelle nochmals mein herzlichster Dank!
Inzwischen ist mein Literaturblog wiederbelebt. Und als ich neulich einen Beitrag über meinen Klassiker schrieb, “Die Insel des zweiten Gesichts” von Albert Vigoleis Thelen, wurde einmal mehr deutlich, wie groß, auch im Trubel der Neuerscheinungen, das Interesse an Autor*innen ist, deren Werke die Jahre überdauern.
Die Idee, #MeinKlassiker mit dem Blog wieder mit neuem Leben zu erfüllen, war da – und ich war ganz positiv überrascht, dass schon einige literaturaffine Menschen meiner Einladung gefolgt sind und hier über ihre Klassiker schreiben werden. Ich freue mich sehr über den Auftakt zu #MeinKlassiker 2.0 durch Hildegard E. Keller, die mit Etty Hillesum eine ganz besondere Frau vorstellt.
Ein Werk, das die Jahre überdauert hat und eine Neuerscheinung ist.


Ein Gastbeitrag von Hildegard E. Keller

Im Mittelalter stellte man sich die Liebe als noble Dame vor: Vrouwe Minne, Frau Minne, Lady Love. Die ersten Dichterinnen im deutschen und niederländischen Sprachraum, deren Namen wir kennen und deren Werke erhalten geblieben sind, dienten ihr als Sprachrohr. Es sind grosse Namen. Es sind Klassikerinnen. Es sind auch die einzigen schreibenden Frauen zwischen 1100 und 1300. Dichten ist für sie Dienst an ihrer Chefin, denn die Liebe ist die heimliche Göttin an Gottes Seite.

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Im Hörspiel Der Ozean im Fingerhut (2011) brachte ich drei dieser Klassikerinnen zusammen: die alte Hildegard von Bingen (1098-1179), die in ihrem langen Leben über fast alles geschrieben hat; Mechthild aus Magdeburg (um 1207-1282), die uns ihr Buch Das fliessende Licht der Gottheit hinterliess und die geheimnisvolle Hadewijch (sie schrieb um 1250), die in mittelalterlichem Niederländisch Lieder, Visionen und Briefe dichtete. Die inoffizielle Hauptperson des Hörspiels ist aber Etty Hillesum (1914-1943). Sie gehört zu den Klassikerinnen, die genug bekannt sind, dass sich jemand für ihr Werk interessiert, genug unbekannt, dass man sie neu entdecken kann. Das Hörspiel inszeniert eine fiktive Begegnung. Da die vier nur jenseits von Ort und Zeit zusammenfinden konnten, erschuf ich mit literarischen Mitteln einen Begegnungsraum. Für mich war es Forschung mit künstlerischer Freiheit, ein Abenteuer, auf Mittelhochdeutsch âventiure.

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Etty Hillesum spricht mit ihren christlichen Kolleginnen über die gemeinsamen Themen: das Schreiben, die Liebe, Gott und die Welt. Etty sah sich selbst als Chronistin ihrer Zeit, ist aber weit mehr als eine jüdische Zeitzeugin. In ihrem nur neunundzwanzig Jahre langen Leben, das in Auschwitz gewaltsam beendet wurde, hat sie lieben gelernt wie keine. Zwei Jahre lang beschreibt sie in Tagebüchern ihren inneren Weg. Sie schildert auch, wie sich im nationalsozialistisch besetzten Amsterdam ihr Lebensraum verengt, wie es sie immer stärker nach innen drängt. Ihre Tagebücher und Briefe wirken auch achtzig Jahre nach ihrem jähen Abriss atemberaubend und erfrischend. Als ich 2010 mein Hörspiel schrieb, musste ich mich auf internationale Ausgaben ihres Werks stützen, die niederländische Originalausgabe, die englische, italienische, französische und spanische, denn die gab es alle, meist gut kommentiert. Was fehlte, war die deutschsprachige Gesamtausgabe. Dies fand ich so unerhört, dass ich einen deutschen Verlag zu gewinnen suchte, doch das Projekt versandete. Das ist gut so. Denn vor wenigen Tagen ist sie endlich bei C.H. Beck erschienen: die erstmals vollständige und neu übersetzte Gesamtausgabe: «ICH WILL DIE CHRONISTIN DIESER ZEIT WERDEN. Sämtliche Tagebücher und Briefe 1941–1943.» Hg. von Pierre Bühler. Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth ausgezeichnet übersetzt. Die rund tausend Seiten lesen sich hervorragend, man ist dankbar für den grosszügigen Kommentar- und Bilderteil, diese Ausgabe erfüllt einen meiner Herzenswünsche. Eine Pflichtlektüre für alle.

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Wie schon die meisten internationalen Ausgaben hilft das neue Gesamtwerk beim Lesen. Damit meine ich den wichtigen Zwei- und Mehrsprachenraum, in dem Etty Hillesum gelebt, gedacht, geschrieben hat. Literatur, Weltliteratur, aber besonders auch russische und deutsche Literatur bedeuteten ihr viel. Einer ihrer Hausdichter, Rainer Maria Rilke, vor allem aber die Begegnung mit Julius Spier, nach der Reichskristallnacht aus Berlin nach Amsterdam geflohen, trugen dazu bei, dass Etty Hillesum zahlreiche Passagen auf Deutsch in ihr niederländisches Original einfügte. Diese Koexistenz von Niederländisch und Deutsch, die in der neuen Ausgabe mit Serifen bzw. serifenloser Schrift sichtbar gemacht wird, ist wesentlich. Etty Hillesum pflegte das Neben- und Miteinander der zwei Sprachen ganz bewusst, in Amsterdam wie auch später im Durchgangslager Westerbork. Es war eine Geste des inneren Widerstands gegen den Hass, den die Situation aufoktroyierte. Sprachlich und überhaupt in nur jeder denkbaren Weise nutzte Etty Hillesum jeden Moment, um in ihrer Liebesfähigkeit zu wachsen.  

Mittwochmorgen, 29. April [1942].

Dass ich so stark lieben kann! Mein Inneres blüht in alle Richtungen auf und die Liebe wird immer stärker und größer und ich lerne auch immer besser, sie zu ertragen und nicht darunter zermalmt zu werden. Und durch dieses Ertragen fühlt man, dass man immer stärker wird. Dass ich so sehr lieben kann!
Er ist ganz großartig. (S. 450)

5 Uhr nachmittags.

An ihm bin ich eigentlich erst schöpferisch geworden – verrückt, manche Dinge kann ich überhaupt nicht mehr auf Niederländisch sagen. An ihm sind meine schöpferischen Kräfte zum ersten Mal erwacht und an ihm werden sie auch zum ersten Mal eine Form annehmen. Er muss mich später wieder von sich wegstoßen, in den Raum hinein. In einem einzigen klaren Augenblick sehe ich dies plötzlich sehr deutlich: dass ich mich nicht danach sehnen sollte, ein Leben lang bei ihm zu bleiben oder ihn heiraten zu wollen. An ihm bin ich zu einer Form gelangt, aber er muss sich von mir wegstoßen, sodass ich später in einem kosmischen Raum zu einer neuen Form gelangen werde, unabhängig von ihm. (S. 451)

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Endlich kann diese Klassikerin des literarischen Humanismus neu gelesen werden. Alle, die diese bahnbrechende Gesamtausgabe in die Welt gebracht haben, verdienen Hochachtung. Das gilt ganz besonders für die Übersetzerinnen. Am 5. April findet die Buchpräsentation in Zürich statt, mit dem Herausgeber Pierre Bühler, der Übersetzerin Christina Siever, Marja Clement und mir; Moderation Verena Mühlethaler. Am 12. April werde ich den Experimentalfilm Der Ozean im Fingerhut, den ich 2012 auf der Grundlage des gleichnamigen Hörspiels produziert habe, zeigen.

Ein Beitrag von Hildegard E. Keller


Bibliografie:

Etty Hillesum
Ich will die Chronistin dieser Zeit werden
Sämtliche Tagebücher und Briefe (1941 – 1943)
C.H.Beck Verlag, München, März 2023
Hardcover, 989 S., mit 46 Abbildungen
ISBN 978-3-406-79731-6

Von Etty Hillesum. Herausgegeben von Klaas A.D. Smelik, Deutsche Ausgabe herausgegeben von Pierre Bühler. Mit einem Vorwort von Hetty Berg. Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth.

Buchvernissage in Zürich:
https://citykirche.ch/buchvernissage-und-mystikreihe-zu-etty-hillesum/


Zur Autorin dieses Beitrags:

Von 2009 bis 2019 war Hildegard Keller Literaturkritikerin im Fernsehen (Jurymitglied beim Bachmannpreis, ORF/3sat; Kritikerteam des Literaturclubs SRF/3sat). Seit 2019 konzentriert sie sich auf ihre künstlerischen Projekte (Literatur, Film, Storytelling) und gibt die Edition Maulhelden heraus. Seit den frühen 1990er Jahren lehrte sie deutsche Literatur an Universitäten im In- und Ausland (USA, GB, NL, D, ARG, TUR), zehn Jahre lang als Professorin an der Indiana University in Bloomington (USA), wo sie ihren ersten Dokumentarfilm (Whatever Comes Next, 2014) geschaffen hat; heute lehrt sie Multimedia-Storytelling an der Universität Zürich. Ihr Werk umfasst Romane, Hörspiele, Radiofeatures, Podcast, Filme und Performances. Ihr Hörspiel DIE STUNDE DES HUNDES war für den Deutschen Hörbuchpreis 2009 nominiert und wurde mit dem Theophrastus-Preis ausgezeichnet. Sie ist zudem Herausgeberin, Übersetzerin und Biografin von Alfonsina Storni; die fünfbändige Werkauswahl wurde in der Edition Maulhelden veröffentlicht. 2021 erschien mit WAS WIR SCHEINEN ihr erster, vielbeachteter Roman: Eine Lebensreise mit Hannah Arendt. Am 28. März erscheint er auf Italienisch (Quel che sembriamo. Übersetzt von Silvia Albesano. Guanda; Buchpremiere am 30. März in Venedig).

Homepage von Hildegard Keller:
https://www.hildegardkeller.ch/

Edition Maulhelden:
https://www.editionmaulhelden.com/

Den Film und das Hörspiel “Der Ozean im Fingerhut” gibt es zu kaufen, weitere Information und Bestellmöglichkeiten unter info@hildegardkeller.ch.

Gabriele Tergit: Der erste Zug nach Berlin

„Der erste Zug nach Berlin“ ist eine literarische Überraschungstüte und eindrucksvolles Zeitzeugnis zugleich: Knallbunt und doch auch düster, tragisch und komisch zugleich, wie von leichter Hand geschrieben und doch voll tiefem Ernst.

„Anfang Mai verabschiedete ich mich von der ganzen Bande und wir gingen noch mal ins Twenty-One. Ich ging in meinem großen Abendkleid von Chanel zum Aerodrom mit einem Pfauenfächer, das Neueste aus Paris.“

Gabriele Tergit, „Der erste Zug nach Berlin“, Schöffling & Co, 2023

Voilà, hier haben wir sie: Die 19-jährige Maud, eine nicht dumme, aber zunächst reichlich naiv daher plaudernde Angehörige des amerikanischen Geldadels. Mehr durch Zufall ­– und auch, weil sie vor der Heirat mit dem Sohn vom Governor Perry noch eine kleine Sause erleben will – wird sie Mitglied einer amerikanischen Mission ins Nachkriegsdeutschland. Der Verlobte sieht das kritisch:

„Er sagte, ich sei eine Närrin, nach dem wilden Europa zu gehen, wenn ich in dem schönen New York mit seinem sanften Klima und noch sanfteren Sitten bleiben könnte. Dass ein Mensch aus Vergnügen nach Europa ginge, habe er überhaupt noch nicht gehört.“

In der Tat betrachtet Maud die Reise, die die Gruppe nach London und dann in das zerbombte Deutschland und in den Osten führt, zunächst wie einen abenteuerlichen Jux. Sie ist Zeugin zahlreicher erregter politischer Diskussionen, die sie kaum nachvollziehen kann – ein handwerklicher Kunstgriff, der den Lesern auch heute noch die Augen öffnet für das Klima, in dem die Nachkriegspolitik der Besatzungsmächte stattfand. Die Erfahrung des Krieges als Nährboden für überbordenden Patriotismus und kapitalistische Gier: Im Preisausschreiben einer englischen Zeitung wird dazu aufgerufen, „alle Dinge aufzuschreiben, die wir aus dem Empire bekommen können oder auf die wir verzichten können und die noch immer woanders gekauft werden“. Der Brexit lässt grüßen.

„Der erste Zug nach Berlin“ ist ein schmaler Roman Gabriele Tergits, den die jüdische Schriftstellerin unter dem Eindruck ihrer eigenen ersten Berlin-Reisen 1948 und 1949 schrieb. Man kann davon ausgehen, dass die Autorin, die sich vor ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland auch als Journalistin beim Berliner Tageblatt und Gerichtsreporterin einen Namen gemacht hatte, die Verhältnisse in Deutschland weitaus scharfsinniger und klüger kommentierte als ihre Kunstfigur Maud. Doch gerade deren Blauäugigkeit ist ein genialer Kunstgriff Tergits, der es dadurch gelingt, die Grausamkeiten, Härten und Absurditäten dieser Zeit aus einer quasi neutralen Position zu schildern – nicht nur die Kriegsgewinnler und Kollaborateure erhalten so einen Auftritt, sondern auch die Interessensvertreter aus den Besatzungsmächten, die zum Teil durchaus auch Sympathien für den Antisemitismus des Hitlerstaates hegten. So bekommt in diesem schmalen Buch, das nun erstmals nach dem Original-Typoskript erschien (zu Lebzeiten von Gabriele Tergit blieb es unveröffentlicht), jeder sein Fett ab.

In ihrem Nachwort betont Herausgeberin Nicole Henneberg, die sich um die Wiederentdeckung Gabriele Tergits verdient gemacht hat, zur Erzählerin Maud:

„Aber Maud ist nicht nur naiv, sondern auch abenteuerlustig und fest entschlossen, ihre Augen weit aufzureißen und alles mitzumachen, auch wenn sie die Verhältnisse um sie herum nicht versteht und die Gespräche noch viel weniger.“

Sie werde so zu einer „Kamera mit weit geöffneter Blende“.  Ein idealer Ausgangspunkt, meint Henneberg, „um alles ohne Unterschied aufzunehmen und zu schildern (…), ohne zu werten oder zu zensieren. Was so entsteht, ist eine Szenenfolge, die auf dem schmalen Grat zwischen Satire und Tragik balanciert (…).“

Maud ist zwar Ohrenzeugin – „Ich hörte gespannt zu und dachte, wie schön es ist, etwas zu lernen“ – aber stürzt sich in ihrer Blauäugigkeit erst einmal von einer Verliebtheit in die andere, bis sie in den Armen eines Deutschen landet, dessen exzellente Manieren und selbstsicheres Auftreten Eindruck hinterlassen. Erst spät erkennt sie, dass dieser Herbert Stegen, der sich als Journalist bei den Engländern andient, einst ganz eng mit Goebbels war: Nur einer von mehreren Mittätern und Mitläufern in diesem Roman, die zeigen, wie nahtlos es für viele Hitler-Anhänger auch nach dem verlorenen Krieg weiterging. Überhaupt trifft Maud auf zahlreiche Deutsche, die der Nazi-Ideologie ungebrochen anhängen, so auf ein Zimmermädchen, „sie war sehr groß, hatte blonde Zöpfe um den Kopf“, das sich weigert, „den Feinden den Koffer auszupacken“. Die anschließende Diskussion mit den englischen Reisemitgliedern zeigt die Schizophrenie jener Zeit:

Miss Battle-Abbey sagte: „Jeder kann sich ein Beispiel daran nehmen. Hitler hat wirklich den Selbstrespekt des deutschen Volkes wieder hergestellt.“

Für das langsame Erwachen und den Erkenntnisgewinn Mauds sorgen letztlich nicht nur ihre eigenen Erlebnisse, sondern vor allem der Kontakt zum amerikanischen Journalisten Merton, der ihr „das andere Deutschland“ zeigt. Eine Schlüsselszene dieses trotz seines leichten Grundtons, der mitunter auch an die Romane Irmgard Keuns erinnert, düsteren Romans ist der Besuch der beiden bei dem deutschen Journalisten Reinhold, der von den Nazis gefoltert und im KZ gequält vor den Augen der Amerikaner an Auszehrung stirbt. Die Suche durch „Schutt und Asche“ nach einem Arzt wird für Maud wie zu einem Abstieg in die Hölle, insbesondere beim Blick ins ärztliche Wartezimmer:

„Es saßen da Tod und Teufel, Krankheit und Hunger, eine alte Frau, fett und gierig und neidisch, und ein junger Mann, er hielt eine Uhr in der Hand und grinste, ein Geschöpf war da voll von Bandagen mit Auswuchs und ein kleines Kind mit einem aufgeblähten Bauch. Ich stand im Zimmer und ich wusste, Krankheit, Tod und Teufel und Hunger würden mich holen, wenn ich nicht aufhörte zu denken und mitzuleiden und zu wollen, wenn ich nicht so rasch wie möglich aus Europa floh.“

Die ganze Erschütterung, die auch Gabriele Tergit bei ihren beiden Berlin-Reisen Ende der 1940er-Jahre erfahren haben muss, werden hier spürbar. Und wie Maud zog es Tergit, die an „ihrem“ Berlin hing, nie mehr zurück, sie blieb in London, das ihr zur neuen Heimat geworden war und wo sie 1982 starb. Maud, das Mädchen im Chanelkleid und mit dem Pfauenfächer, kehrt nach drei Monaten um einiges klüger und reifer geworden, in die Vereinigten Staaten zurück, heiratet ihren Clark Perry und lebt im „modernsten Flat in New York“. Merton, jene Romanfigur, die die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge am klarsten durchschaute und kommentierte, sieht sie nur noch einmal, als „lay preacher“, etwas verkommen aussehend, an einer Ecke stehen:

„Nur drei Leute hörten ihm zu: der eine war bucklig, der andre war blind, der dritte war lahm.“

„Der erste Zug nach Berlin“ ist eine literarische Überraschungstüte und eindrucksvolles Zeitzeugnis zugleich: Knallbunt und doch auch düster, tragisch und komisch zugleich, wie von leichter Hand geschrieben und doch voll tiefem Ernst.

Eine ausführliche und kenntnisreiche Besprechung von Fabian Wolff erschien in der Süddeutschen Zeitung.

Der Roman erschien im Schöffling Verlag, der mir für diese Besprechung ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte.

Das letzte Wort soll Merton gehören:

„Dieses Spiel spielt die Menschheit seit einigen tausend Jahren“, sagte Merton. „Ich bin der Letzte, der findet, dass es auf ein paar Hundert Quadratmeilen ankommt. Aber solange das der Maßstab für Ehre ist, solange alle nationale Leidenschaft sich auf ein paar Quadratmeilen Land irgendwo erstrecken kann, soll man sehr vorsichtig mit territorialen Änderungen sein, die nächste Generation muss immer dafür sterben. Wir alle leben in einer Welt.“

Karl Alfred Loeser: Requiem

Zu seinen Lebzeiten konnte Karl Alfred Loeser keines seiner Manuskripte veröffentlichen. Sein Roman “Requiem” ist nun die späte Neuentdeckung eines Romans, der ein vielstimmiges Bild von Unterdrückung und Judenverfolgung im Nationalsozialismus zeichnet.

„Erich Krakau war ein bedeutender Künstler. Für ihn müsste es leichter sein, ins Ausland zu gehen. Aber nichts da, man misstraute ihr, verlangte Kontakte und Zertifikate und machte ihr immer neue Schwierigkeiten, einfach nur, wie sie bald entdeckte, weil er Jude war. Auch die aufgeklärten Länder, die sich auf ihre Freiheit und Werte so viel einbildeten, wollten keine Juden mehr. Es war wie eine ansteckende Krankheit, die um sich griff und allerorten Anhänger und Nachbeter fand. Lisa begriff, dass der Mensch in der Welt von allen Dingen das wertloseste und überflüssigste war.“

Karl Alfred Loeser, „Requiem“, Klett-Cotta Verlag, 2023

Wie fragil, wie leicht zerbrechlich die Existenz eines Menschen ist, dies hat Karl Alfred Loeser am eigenen Leib erlebt: Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten flüchtet der junge Mann, 1909 in Westfalen geboren, zunächst nach Amsterdam, wo sein Bruder Norbert, ein bekannter Musiker, bereits lebt. Mit seiner Frau Helene, die er in Holland kennenlernt, geht die Flucht bis Brasilien weiter. In São Paulo findet Loeser eine Anstellung bei einer holländischen Bank, wird Vater, baut sich und seiner Familie eine neue Existenz auf, spielt in seiner Freizeit Geige in einem Laienorchester. Und: Schreibt. Erst nach seinem Tod 1999 findet die Familie ein Konvolut von unveröffentlichten Manuskripten, darunter Novellen, Romane, Theaterstücke.

Wie anders dieses Leben verlaufen wäre, vielleicht als freie Künstlerexistenz, vielleicht als anerkannter Schriftsteller, hätte es nicht die gnadenlose Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten gegeben, darüber lässt sich heute nur spekulieren. Aber zumindest kommt nun einer seiner Texte doch an die Öffentlichkeit – ein grandioser Fund, der einer anderen sensationellen Wiederentdeckung zu verdanken ist: Als „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz fast 80 Jahre nach der Wiederveröffentlichung erneut erschien und um die Welt ging, wurde auch der Urenkel von Karl Alfred Loeser auf diesem Roman, der mitten aus dem Reich der Finsternis berichtete, aufmerksam. Und wandte sich an dessen Herausgeber Peter Graf. Der erkannte den Wert von „Der Fall Krakau“, wie Loeser den Text selbst betitelt hatte, editierte und lektorierte das Manuskript behutsam, wie er in seinem Nachwort zu „Requiem“ schreibt:

„Schwer war das in diesem Fall nicht, denn ein so geschickt durchkomponierter Roman macht es einem leicht (…). Requiem ist ein erstaunlich zeitloses und auch berührendes Buch, es unternimmt auf sehr eigenständige Weise den Versuch, zu verstehen, was unbegreiflich ist, und jenseits aller schmerzhaften Erfahrungen ist es nicht ohne Hoffnung.“

Loeser erzählt „den Fall Krakau“, die Vertreibung des letzten jüdischen Musikers an einem renommierten Theater in Westfalen aus dem Orchester, seiner Stadt und seinem Land spannend, beinahe in der Art eines Politkrimis. Erich Krakau ist ein weithin anerkannter Cellist, der sich trotz der dunklen Vorzeichen noch wohlaufgehoben in seinen Künstlerkreisen glaubt. Als ein befreundeter Arzt bei Nacht und Nebel vor der Gestapo flüchtet, hilft er diesem, glaubt sich aber immer noch in Sicherheit. Doch da setzt eine ungeheure Intrige ein: Der 22-jährige Fritz Eberle, ein musikalisch untalentierter Bäckersohn, mit Minderwertigkeitskomplexen behaftet, will Krakaus Stelle als Cellist am städtischen Sinfonieorchester. Und setzt dafür alle Hebel in Gang: Er besticht einen schmierigen Journalisten, der eine Hetzkampagne auslöst, SA-Claqueure stören ein Konzert, das Krakau gibt, schließlich wird der Musiker der Polizei und den Ränkespielen eines ehrgeizigen stellvertretenden Gauleiters ausgeliefert, der Krakau im „Judenkäfig“ unter der Erde des örtlichen Gefängnisses festsetzt. Dass dem Musiker mit seiner Frau Lisa in letzter Minute die Flucht aus dem deutschen Reich gelingt, ist dem couragierten Eintreten einiger Künstlerfreunde mit guten Beziehungen zu verdanken.

Dass die Erzählung mit zunehmendem Tempo auch atmosphärisch immer beklemmender wird und beim Lesen mitreißt, ist nicht die einzige Qualität des Romans. Vielmehr sind es die verschiedenen Perspektiven, aus denen Loeser erzählt, und die ein glaubhaftes Bild von der Stimmung im sogenannten Dritten Reich, aber auch vom Schicksal der Exilanten vermitteln. Loeser lässt Opportunisten, Gewalt- und Machtmenschen, aber auch die „alte Garde“ am Beispiel des Gauleiters von Oertzen (ein Militär, der, die Flucht Krakaus ermöglicht und sich danach das Leben nimmt) auftreten, zeigt auf, wie in einer Diktatur allmählich Entmenschlichung einsetzt und Gleichschaltung funktioniert. Ebenso kommen in „Requiem“ aber auch die Stimmen aus dem Untergrund und dem Widerstand zu Gehör, die der Geflüchteten und Geknechteten. Ein vielstimmiger Chor, der diese Tragödie begleitet.

Wenn Loeser über sein Alter Ego Erich Krakau aus diesem Roman zu uns spricht, dann erhebt sich auch eine Stimme aus der Vergangenheit, die etwas zeitlos Mahnendes sagt, in diesen Zeiten so aktuell wie je:

„Es ist die verderbliche Sucht der Kleinlichen, Menschen einzuteilen, zu klassifizieren und Schuldige zu suchen. Hier Gut, dort Böse, hier Licht, dort Schatten, hier Arier, dort Jude.“ Doch, so der Musiker im Gespräch mit einem Kollegen: „Ist es denn Lüge, dass ich den Himmel liebe, unter dem ich geboren, die Landschaft, in der ich groß geworden bin? Ist es denn Lüge, dass ich Beethoven und Brahms liebe? Wenn das alles Lüge ist, dann gibt es nichts Wahres mehr auf der Welt.“

Es ist auch der Glaube an den Teil im Menschen, der in der Kunst so unglaublich Schönes zu erschaffen mag, ebenso wie der Glaube an die Liebe seiner Frau Lisa, der Erich Krakau in „Requiem“ aufrechterhält, als er allmählich erwacht und die bedrohlich zunehmende Gefahr für Leib und Leben erkennt. Es ist auch dieser Glaube an die Schönheit der Musik, die ihn mit der zunehmenden Entmenschlichung seiner Umwelt fertig werden lässt. Und vielleicht war dies auch der Glaube, von dem sich Karl Alfred Loeser in seiner Exilexistenz tragen ließ.

„Karl Loeser behielt recht“, meint Peter Graf in seinem Nachwort: „Die Finsternis wich einem neuen Licht, und wie den dunklen Wolken womöglich zu begegnen ist, die unentwegt und immer wieder aufs Neue aufsteigen, ist eine der Lehren, die sein Roman für uns Lesende bereithält.“

Der Roman erschien im Klett-Cotta Verlag, der mir für diese Besprechung ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte.

Francis D. Pelton: Sprung über ein Jahrhundert

1934 erschien ein utopischer Roman, der eine neue Wirtschaftsordnung feiert. Sein Autor entwarf ein Bild von einer besseren Welt, als diese besonders düster war. Das Buch bietet auch heute noch diskussionswürdige Denkanstösse.

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„Übrigens: Was ist Utopie? Alle Wirklichkeit ist die Utopie von gestern. Vor hundertfünfzig Jahren glaubte niemand, dass der Mensch je würde fliegen können. Und so ist alle Utopie nur die Wirklichkeit von morgen.“

Francis D. Pelton, „Sprung über ein Jahrhundert“, Erstveröffentlichung 1934.


Eine todbringende Pandemie, ein Krieg in Europa, Kriege und Krisen in der ganzen Welt, Inflation und Rezession und nicht zuletzt die über allem drohende Klimakatastrophe: Wer wünschte sich derzeit nicht zurück in die Zukunft, einen Trip in der Zeitmaschine, einen Ausweg in eine bessere Welt? So ähnlich muss es auch dem Helden aus diesem eigenartigen kleinen Roman gegangen sein, der 1932 auf seinem schwäbischen Anwesen die Zeitmaschine aus H.G. Wells Roman entdeckt und kurzerhand einsteigt. 100 Jahre später landet Hans Bachmüller genau dort, wo die Reise losging. Und doch in einer ganz anderen Welt.

Es ist eine kleine humoristische Petitesse, dass der Schwaben nach seiner Zeitreise sich zunächst nach Spätzle sehnt. Ansonsten aber ist dieses Buch geprägt von einem tiefen Ernst, literarisch etwas spröde – aber gerade darin liegt sein außerordentlicher Wert und auch seine Aktualität für unsere Zeiten: Denn diese Utopie zeigt eine Welt auf, in der der gnadenlose Raubtier-Kapitalismus überwunden wurde zugunsten einer Gesellschaft freier, gleichgestellter Menschen. Die aufgezeigte Alternative ist jedoch kein kommunistisches Modell, von dem der Autor, zu dem wir gleich noch kommen, ebenfalls nicht viel hielt:

Der von Max Bill gestaltete Umschlag der Erstausgabe ziert auch die Wiederauflage im Quintus-Verlag.

„Der Kommunismus war nichts als das fotografische Negativ des Kapitalismus: schwarz wo weiß, weiß wo schwarz war.“

Der Kommunismus sei ein System, das den Menschen als „Maschinenteilchen“ betrachtet hat, so bekommt es Hans Bachmüller von seinen Nachfahren aus dem Jahr 2032 erklärt. Der Kapitalismus befördere die Herrschaft einiger weniger Menschen und höhle die Demokratie aus. Kommt einem das bekannt vor?

Aufhebung der Klassen

Das ideale Gesellschaftssystem liegt, so will es der Roman vermitteln, in der Akratie, der Aufhebung der Klassengesellschaft, die das Ideal einer Gesellschaft ist, die von jeder wirtschaftlicher Ausbeutung befreit ist. Wie das im Praktischen geschehen kann, das erfährt Hans Bachmüller bei seinem Besuch in der Zukunft. Statt großer Monopolisten gibt es kleine Produktionseinheiten, die die Zusammenarbeit fördern, die Genossenschaftsidee steht im Vordergrund. Im Roman wird das insbesondere an der Landwirtschaft deutlich gemacht: Die Bauern behalten ihren eigenen Besitz, der in jedem Fall die ausreichende Selbstversorgung garantiert, und arbeiten darüber hinaus in der Lebensmittelproduktion zusammen. Ein Modell, das, wenn auch nur vereinzelt, auch in unserer heutigen, tatsächlichen Welt von 2021 umgesetzt wird: Landwirtschaftliche Kollektive von Bauern, die sich vom Brüsseler Subventionstopf unabhängig machen wollen und auf Direktvermarktung sowie genossenschaftliches Handeln setzen.

Auch der Autor dieses Romans versuchte solche Genossenschaftsmodelle, unter anderem in Palästina, durchzusetzen. Der Urheber dieser Fiktion war, wenn man zu Schubladen greifen will, ein liberaler Sozialist, eigentlich der „Großvater“ unserer sozialen Marktwirtschaft: Franz Oppenheimer (1864 bis 1943), der erste Inhaber eines Soziologie-Lehrstuhls in Deutschland. Einer seiner Schüler war Ludwig Erhard, der im Gedenken an ihn sagte:

„Etwas hat mich so tief beeindruckt, dass es für mich unverlierbar ist, nämlich die Auseinandersetzung mit den gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit. Er erkannte den »Kapitalismus« als das Prinzip, das zur Ungleichheit führt, ja das die Ungleichheit geradezu statuiert, obwohl ihm gewiss nichts ferner lag als eine öde Gleichmacherei. Auf der anderen Seite verabscheute er den Kommunismus, weil er zwangsläufig zur Unfreiheit führt. Es müsse einen Weg geben – einen dritten Weg -, der eine glückliche Synthese, einen Ausweg bedeutet. Ich habe es, fast seinem Auftrag gemäß, versucht, in der Sozialen Marktwirtschaft versucht, einen nicht sentimentalen, sondern einen realistischen Weg aufzuzeigen.“

Auf der schwarzen Liste der Nationalsozialisten

Als Oppenheimer 1933 seinen Roman beginnt, ist für den in Berlin geborenen Juden die Situation in Deutschland schon unhaltbar geworden: Zwei seiner Bücher, so Herausgeberin Claudia Willms, die den Roman für seine Wiederauflage 2017 ans Licht hob und mit einem kenntnisreichen Nachwort versah, standen bereits auf der Schwarzen Liste der Nationalsozialisten. Und dennoch wollte Oppenheimer zu den Krisen seiner Zeit nicht schweigen, die Menschen nochmals aufrütteln. So wählte er die Form einer Fiktion, so wählte er zudem ein Pseudonym, um „Sprung über ein Jahrhundert“ überhaupt veröffentlichen zu können. Der Roman erschien dann 1934 in der Schweiz.

„Sein Inhalt ist unter der Verkleidung von Science-Fiction ein dialogisierter Traktat über eine andere Möglichkeit des 20. Jahrhunderts, die zum Zeitpunkt seiner Entstehung ziemlich das genaue Gegenteil dessen darstellte, was sich gleichzeitig beim Aufstieg von Nationalsozialismus und Stalinismus vollzog“, schrieb Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung zur Wiederentdeckung dieses schmalen Buches.

Der an ein Traktat erinnernde Stil sowie insbesondere das etwas mystisch verbrämte Schlusskapitel mindern etwas den literarischen Genuss dieses Werkes, das aber andere Qualitäten zu bieten hat: Denkanstöße, wie eine bessere Welt wie die unsere, die momentan eigentlich Konkurs anmelden müsste, zu gestalten wäre. Neben den wirtschaftlichen Ideen ist dieses Buch auch in politischer (wenn auch nur eurozentrischer) Hinsicht visionär: In der Welt des Jahres 2032 gibt es keine Nationalstaaten mit ihren patriotisch-egoistischen Auswüchsen mehr, sondern – und hier war Oppenheimer außerordentlich modern – ein „Europa der Regionen“, das von unten her gestaltet wird und lediglich von einer Weltregierung aus Experten zurückhaltend verwaltet wird. Grundlage dafür ist die Überwindung der deutsch-französischen Erbfeindschaft. Und diese gelingt durch einen Wissenschaftler, der die Folgen für alle durch eine neue Massenvernichtungswaffe aufzeigt: Wer in diesem Herrn Albert Einstein zu erkennen glaubt, täuscht sich nicht, wie das Nachwort verdeutlicht.

Eurozentrischer Ansatz

Natürlich war Oppenheimer nicht in allem auf der Höhe der Zeit: Von der Klimakatastrophe konnte er noch nichts ahnen und so ist es ein Fortschritt 2032, dass jeder ein Auto besitzt. Frauenrechte lagen für ihn darin, dass dieselben zwar gebildet sein durften, aber nicht mehr berufsmäßig sein mussten. Und der Blick ist auf Europa verengt, der Umgang mit den Kolonialländern etwas schwierig. Dagegen aber spricht er in diesem Roman Dinge an, die heute immer wieder diskutiert werden: Eine Reichensteuer beispielsweise, neue Wirtschaftsformen, Arbeitszeitverkürzung.

Noch einmal Gustav Seibt:
„Man könnte lange fortfahren, die Details dieser in vielen Zügen urdeutschen, sogar patriotischen, ein bisschen sogar mystischen Technik-Garten-Fortschritts-Idylle aufzuzählen. Denn natürlich zeigt das Buch wie alle vergangene Zukunft tiefe Spuren seiner Entstehungszeit (…) Am besten man liest das Buch selber und staunt, was schöpferische Vernunft im düstersten Moment der europäischen Geschichte ausdenken konnte. Es ist eigentlich unglaublich.“

Birgit Böllinger


Nachtrag: Ich wäre auf dieses Buch nicht gestoßen ohne einen Hinweis von Wolfgang Hempel von der Wilhelm-Fraenger-Gesellschaft, die in der „Bibliotheca Fraengeriana“ dafür sorgt, dass solche Werke nicht vergessen werden.

Bemerkenswert ist nicht nur der Inhalt des Romans, sondern auch die Umschlaggestaltung – eine frühe Arbeit des später renommierten Formgestalters, Architekten und Künstlers Max Bill, der obendrein auch noch sein eigenes Konterfei – von seiner Frau fotografiert – in die Collage hineinmontiert hat.


Informationen zum Buch:

Francis D. Pelton (Franz Oppenheimer)
Sprung über ein Jahrhundert
Quintus Verlag, Bibliotheca Fraengeriana, Bd. II
Broschur, 192 Seiten
ISBN: 978-3-947215-01-0