#VerschämteLektüren (23): Christiane und der liebe Augustin

Mit ihrer verschämten Lektüre führt uns Christiane Schlüter nach Lindau an den Bodensee auf Spuren eines ganz besonderen Gesellen: O du lieber Augustin…

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Das Augustin-Denkmal in Lindau. Bild: Birgit Böllinger

EIN GASTBEITRAG VON CHRISTIANE SCHLÜTER

Ein Kollege hatte mir vor Jahren den “lieben Augustin” aus Lindau (nicht zu verwechseln mit dem Wiener “Ach Du lieber Augustin, alles ist hin…) in die Hand gedrückt – das sei ein wunderbares Buch für Bodenseeliebhaber. Und so nahm ich es seither auch wahr: Als kleinen, verschmitzten, lebensfrohen Schelmenroman, den man allenfalls am “Schwäbischen Meer” kennt. Doch nun wurde ich eines Besseren belehrt – das Buch ist laut Kindlers Literatur Lexikon nicht nur seit drei Jahrzehnten Bestandteil der Deutschlektüre an amerikanischen Universitäten, sondern traf auch im fernen Frankfurt eine Schülerin mitten ins Herz. Lest hier die Geschichte einer besonderen Leidenschaft:

Christiane Schlüter und ihr lieber Augustin

Verschämt war diese Lektüre nie. Nur ein wenig aus der Zeit gefallen, wie ihr Held auch. Augustin Sumser ist Spieldosenmacher und mit einer Rokokoseele auf die Welt gekommen. Als er zwölf Jahre alt ist, beginnt die Französische Revolution, und alle Welt empfindet fortan heroisch. Nur Augustin nicht. Er lebt ein flatterleichtes Leben am Ufer des Bodensees und stellt immer nur so viele Spieldosen her, wie er zum Leben braucht. Der ideale Gegenentwurf zur Burn-out-Existenz.

Ich lernte ihn kennen, als ich mit 14 in der Büchersammlung meiner Oma stöberte – um die Mitte der 70er-Jahre. Das Wort Burn out war noch nicht erfunden, in meinem Frankfurter Gymnasium zerfielen Schüler- und Lehrerschaft in rechts und links, einmal stand die Polizei mit Wasserwerfern vor dem Schulhof. Ich aber las „Der liebe Augustin. Die Geschichte eines leichten Lebens“. Ich wanderte mit dem Helden um den Bodensee, lächelte über seine vielen kleinen Amouren und beweinte mit ihm seine beiden großen Lieben. Ein bisschen aus der Zeit gefallen, wie gesagt.

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Die beeindruckende Augustin-Sammlung von Christiane Schlüter.

Bis heute ist dieses Buch für mich das perfekte Beispiel dafür, wie etwas leicht und schön sein kann und trotzdem ganz und gar unkitschig. Das liegt zum einen an der Sprache, die genauso leicht ist wie das Leben, das sie beschwört. Zum anderen gibt Horst Wolfram Geißler, der Schöpfer des Augustin, seinem Helden einige Schicksalsschläge mit, weshalb die Idylle so ungebrochen eben doch nicht ist. Das Idyllische speist sich vielmehr daraus, wie Augustin seine Welt sieht: heiter und dabei unaufdringlich weise. Und schließlich findet das Ganze zwar in einer höchst realen Gegend statt: an den Ufern des Bodensees. Aber der Erzähler öffnet den Vorhang zu diesem Schauplatz mit einem Augenzwinkern, indem er sagt: Leute, diese Geschichte spielt in einer anderen Welt. Einer, die es so vielleicht nie gab.

Als ich Jahre nach der Lektüre zum ersten Mal am Bodensee war, bin ich auch nach Lindau gefahren, wo der liebe Augustin gewohnt haben soll. Ich fand ein Häuschen in der Altstadt, eine Skulptur am Hafen und in einer Buchhandlung die aktuelle Ausgabe des Augustin. Daheim standen schon fünf andere: Ich hatte angefangen, die Ausgaben zu sammeln. Ein befreundeter Bibliothekar versorgt mich bis heute damit, inzwischen besitze ich 35 Exemplare und habe begonnen, meine Sammlung nach Tausendern weiter zu untergliedern. Anfallende Doubletten schenke ich weiter. Und ich freue mich, wenn ich auf Leute treffe, die den Augustin ebenfalls mögen, so wie jetzt Birgit Böllinger. Ab und zu aber, wenn ich das Bedürfnis habe, mal wieder aus der Zeit zu fallen, lese ich das Buch erneut. Natürlich das allererste Exemplar aus dem Bücherschrank meiner Oma. Es gibt Lieben, die vergehen nie.

Christiane Schlüter


Was ich über mich sage:

Ich stelle immer nur so viele Texte her, wie ich zum Leben brauche … Nein, stimmt nicht. Schreiben ist für mich nicht nur Profession, sondern Passion. Deshalb entstehen neben Ratgebern, Sachbüchern, Geschenkbüchern, Memoirs und Reden auch Texte wie der obige, und dazu manches noch Verschämte. Außerdem wichtig: meine Kurse in Autobiografie und Journalismus, wo wir übers Schreiben auch reden. Und vor allem das Psychodrama als kreative Methode, neue Handlungsmöglichkeiten zu erschließen – auf dem Papier wie im echten Leben. Die ganze Mischung findet sich hier: www.christiane-schlueter.de.

#VerschämteLektüren (22): Bernhard Blöchl und “Die perfekte Masche”.

Warum Autor Bernhard Blöchl zu den “Bekenntnissen eines Aufreissers” griff, das verrät er in den verschämten Lektüren.

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Bild von Elias Sch. auf Pixabay

Als Bernhard Blöchl (unter anderem der Mann hinter www.lieblingssaetze.de) mir einen Beitrag für die Verschämten Lektüren ankündigte, war ich schon sehr gespannt: Was kann da wohl noch kommen? Denn sein Julian Hartmann, auch genannt Juli, Held seines Debütromans, hat eigentlich schon so ziemlich alle Peinlichkeiten durchlebt…
Ein “Schelmenroman” wurde “Für immer Juli” genannt, und das ist er tatsächlich – und ein großes Lesevergnügen. Für den “sensiblen Gleichberechtigungsbefürworter” Julian, der aus Liebeskummer zum Macho mutieren will, muss man einfach Sympathien hegen. Woher die Inspiration zum Buch kam, das verrät der Autor hier – ganz verschämt:

Als ich zuletzt ein Buch bis zur Unkenntlichkeit vollgekritzelt, Ecken geknickt und Zeilen farbig markiert hatte, war ich noch Student gewesen, und das Einzige, was ich damals aufgerissen hatte, waren die Fertigsuppen gegen den Instant-Hunger. Zehn Jahre später – ich war inzwischen Journalist und Autor, und sowohl die Sache mit der Ernährung, als auch die mit den Frauen hatte sich verbessert – malträtierte ich erneut ein Buch auf so respektlose Weise. Das silberne Taschenbuch hieß „Die perfekte Masche“ und im Untertitel: „Bekenntnisse eines Aufreissers“.

Für die herrlich rotwangige Blogreihe „Verschämte Lektüren“ habe ich das silberne Taschenbuch aus der zweiten Reihe des untersten, am meisten verstaubten Regals hervorgezogen – und staune gerade über die vielen Eselsohren und Markierungen (in rosa übrigens, blau war wohl gerade aus).

Damit Sie mir glauben, dass ich das Buch „vom Casanova der Gegenwart“, wie der Autor Neil Strauss mitunter genannt wird, nicht aus persönlicher Verzweiflung studiert habe, muss ich etwas weiter ausholen (ob Sie mir hinterher glauben werden, bleibt Ihnen überlassen).

Vor vier Jahren, zu einer Zeit, die so aufregend war wie jeden Abend Frühlingsflirts, arbeitete ich an meinem ersten Roman. „Für immer Juli“ (erschienen 2013 im MaroVerlag) sollte eine schelmische Komödie über die Identitätskrisen des modernen Mannes werden.

Ich erfand Julian Hartmann, genannt: Juli, den metrosexuellen Protagonisten der Geschichte, und überlegte mir allerlei Hürden und Konflikte, mit denen ich ihn bei seiner Suche nach der verlorenen Männlichkeit konfrontieren konnte. Wie man das halt so macht als Schriftsteller, der es seinen Figuren bei ihrer Wandlung nicht zu leicht machen will. Durch einen Artikel in der GQ wurde ich aufmerksam auf die Pickup-Szene, auf professionelle Aufreißer und auf Strauss’ Buch, das ursprünglich 2005 in New York als „The Game“ erschienen war. Da ich noch in keinem deutschen Roman von den schrägen, wilden, verrückten oder bescheuerten Erlebnissen in einem Aufreißer-Seminar gelesen hatte, spielte ich mit dem Gedanken, etwas Ähnliches in meiner Geschichte stattfinden zu lassen.

Also las ich das Buch. Ich lernte Begriffe wie EFL (ewig frustrierter Loser) und HB (Heißes Babe), erfuhr, was “Opener”, “Pfauentheorie”, “Drei-Sekunden-Regel” und “beiläufige Herabsetzung” zu bedeuten hatten und stieß auf Sätze wie diese: “Wer eine Frau erobern will, muss zuweilen das Risiko eingehen, sie gleich wieder zu verlieren”, oder: “Es ging um die Eleganz des Spiels, die Grazie des avancierten Flirts”, oder: “Ein echter Profi-Aufreißer gibt prinzipiell keine Drinks aus, solange er nicht mit dem betreffenden Mädchen geschlafen hat; Geschenke sind ebenfalls tabu.” Solche Sachen.

Sprachlich eher so der Playboy-Style, literarisch belanglos, sind die Bekenntnisse ein wilder Ritt durch eine derbe und sexistische Parallelwelt. Rainer Brüderle ist ein Altherrenwitz dagegen, das können Sie mir ruhig glauben. Mich hat das Buch erschüttert, die Lehren sind gefühlskalt, frauenfeindlich und egoistisch – aber auch raffiniert, denn unterschätzen sollte man UMAT (ultramännlichen Alphatiere) keineswegs, trotz der affigen Abkürzungen. Der internationale Bestseller in Ich-Form basiert auf den persönlichen Erfahrungen des Journalisten Neil Strauss, die Szene und die Lehren sind keine Erfindung. Und auch wenn der Autor mit der Erkenntnis das Projekt beschließt, wahre Liebe brauche keine Tricks, so bleibt doch ein dystopisch anmutendes Nachgefühl. Bei mir zumindest.

Für meinen Roman war klar: Ja, ich wollte Juli mit dieser knallharten Männerwelt konfrontieren, schon weil er als sensibler Gleichberechtigungsbefürworter einen schreiberisch starken Kontrast dazu verkörpert. Allerdings wollte ich die deprimierende Emotionslosigkeit dieser Underground-Szene satirisch überhöhen, schon um im Genre der Komödie zu bleiben. Also trifft Juli in Wien, wo er ein derartiges Seminar besucht, unter anderem auf Frauen, die die immergleichen “Opener” und Maschen im Fünf-Minuten-Takt hören und sich langweilen, punktet unfreiwillig bei einem homosexuellen Mann und landet mit einer Fremden im Stunden-Hotel, in dem er es aber keine Stunde aushält …

Was mir das verschämte Experiment gezeigt hat: Manchmal dienen unbequeme Bücher eben auch als Inspiration. Ein Autor, der sich nur in Kreisen bewegt, in denen er sich wohlfühlt, ist ein schlechter Autor – so viel Phantasie er auch immer haben mag.

Bernhard Blöchl, Jahrgang 1976, ist Autor und Kulturjournalist aus München, der hauptsächlich für die Süddeutsche Zeitung und SZ Extra über Film, Pop und Literatur schreibt. Unter http://www.lieblingssaetze.de hat er ein Museum der schönen Sätze eingerichtet, wo er Romananfänge und Songzeilen sammelt und kommentiert. Sein Debütroman “Für immer Juli” ist 2013 im Maro-Verlag erschienen. Das begleitende Sachbuch, der satirische Ratgeber “Schluss mit luschig! Anleitung zum Mannsein”, kam beim Rowohlt Verlag im Juli 2014 heraus – unter dem Namen der Romanfigur Julian Hartmann. Es ist das Buch zum Blog zum Roman und damit der dritte Teil eines schelmischen Literaturexperiments. Derzeit schreibt Blöchl an seinem zweiten Roman. Die Pickup-Szene wird darin keine Rolle spielen.

Mehr Lesestoff von ihm gibt es unter:

www.bernhardbloechl.de

www.lieblingssaetze.de

www.schlussmitluschig.de

#VerschämteLektüren (21): Jutta Reichelt und der verdammt gute Roman

Schriftstellerin Jutta Reichelt gesteht ein: Zu ihren verschämten Lektüren gehören auch Bücher darüber, wie man einen verdammt guten Roman schreibt.

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Bild von Michal Jarmoluk auf Pixabay

Vor etwa 25 Jahren wurde ich einmal von einer Muse geküßt. Am nächsten Morgen schrieb ich den ersten Satz meines immer noch unvollendeten Romans. Offenbar war jedoch ein Kuss nicht genug – bei dem einen Satz sollte es fortan bleiben. Wie das so ist mit den Musenküssen. Ob Schreiben-Können auch mit dem Viel-Schreiben kommt, was Übung ist, was Routine, wieviel Talent wiegt und wieviel Zu- und Selbstvertrauen, Handwerk und Übung ausmachen – darüber macht sich die Schriftstellerin Jutta Reichelt auf ihrem Blog “Über das Schreiben von Geschichten” viele Gedanken. Man kann dabei mitlesen, davon lernen und zwischendurch sogar mitspielen – beispielsweise, wenn Christoph einfach verschwindet.
Und das führt zu ihrer “verschämten Lektüre”: Denn selbst Schriftstellerinnen träumen anfangs noch ein wenig vom “Musenkuss”, wenn er in Form eines verkappten Sachbuches daherkommt…

Jutta Reichelt bringt so einen ganz neuen Aspekt in die #VerschämteLektüren. Und wie das so ist mit den verdammt guten Romanen, das kann man dann im Frühjahr 2015 sehen: Da erscheint ihr neuer Roman beim Verlag Klöpfer & Meyer, den ich wegen seines ambitionierten Programms und seiner schön gemachten Bücher sehr schätze. Zur Verlagsvorschau mit Einblick in “Wiederholte Verdächtigungen” geht es hier: http://www.book2look.com/book/HdJvCpFdt2

Jetzt aber Jutta und der Roman vom Musenkuss:

“Ich habe mich entschlossen (nach mehreren schlaflosen Nächten), diese Möglichkeit der #VerschämteLektüren für eine Offenbarung zu nutzen, die geeignet ist, meinen halbwegs guten Ruf als literarische Autorin zu ruinieren.

Ich muss dazu etwas ausholen: Als ich zu schreiben begann, wusste ich nicht, wie ich was schreiben wollte, aber ich wusste, dass die Autorinnen und Autoren, die ich schätzte und die meinen inneren Referenzrahmen bestimmten (hätte ich damals nicht so sagen können) „literarische“ Autoren waren.

Ich wusste nicht, wie und was sich schreibend lernen lässt und ob es dafür Regeln gibt. Ich wusste auch nicht, warum die Texte, die ich schrieb, mir nicht gefielen. Jedenfalls nicht so richtig. Ich versuchte, genauer darauf zu achten, wie „andere“ schrieben – und vergaß diese Frage aber über der Lektüre immer wieder sofort.

Trotzdem schrieb ich weiter. Ich hatte das Gefühl, das sich etwas an meinem Schreiben in die richtige Richtung entwickelte, ohne dass ich hätte sagen können, was es war. Ab und zu gab ich, was ich schrieb, meinem Bruder, der mir mit großer Geduld erzählte, was er in meinen Texten las – und wie sie vielleicht gewinnen könnten. Nannte auch AutorInnen, die mir vielleicht gefallen könnten. So ging viel Zeit dahin.

Schön wäre es gewesen, wenn es einfacher gewesen wäre. Und dann las ich diesen Titel (Trommelwirbel!): „Wie man einen verdammt guten Roman schreibt“ von James N. Frey!

Ich habe das Buch gelesen. Ich habe es sogar verschlungen. Es ist lange her, aber es war so! Ich habe für zwei bis vier Monate gedacht, ich wäre gerettet. Meine Texte wären gerettet. Ich habe gedacht, dass alles viel einfacher ist, als ich je für möglich gehalten hätte. Eine Prämisse! Alles, was mir fehlte, war eine Prämisse! Und: „Konflikt! Konflikt! Konflikt!“

Leider ist es dann alles doch komplizierter und einfacher zugleich und mittlerweile weiß ich, dass Schreibratgeber wie Medizin sind: Sie können wirkungslos sein, hilfreich – oder schädlich. Wir wissen meist, wie ein Text sein sollte, wir wissen nicht, was mit unserem Text nicht stimmt. Wir halten unsere Texte ja für spannend oder komisch oder unglaublich berührend und irren uns nicht über „die Regeln“, sondern über unseren konkreten Text. Das ist das Problem …

Mittlerweile weiß ich auch, dass „Schreibratgeber“ und noch dazu solche mit einem derart marktschreierischen Titel für manche Autorinnen „eigentlich“ in die zweite Reihe gehören – und weil ich immer noch viel zu viele Bücher besitze, sind sie da auch gelandet. In ehrenwerter Gesellschaft …”

Hier geht es zum Blog der Autorin: http://juttareichelt.com/

Und auch beim Literaturhaus Bremen kann man sie finden: http://www.literaturhaus-bremen.de/autor/jutta-reichelt

#VerschämteLektüren (20): Der Krimiblogger mag es auch mal cozy – Ludger Menke und Inspector Jury.

Wenn Inspector Jury ermittelt, ist er dabei: Der Krimiblogger Ludger erweist sich als großer Fan von Martha Grimes.

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Bild: Karl Ludger Menke

Allen meinen Leserinnen und Lesern hier wünsche ich ein SUPERGUTES NEUES JAHR!!! Ich hoffe, Ihr seid gut gerutscht, hattet einen guten Start in 2015 und seid auch bereit für eine neue Runde an verschämten Lektüren.
Zum Start in 2015 wird es spannend mit Ludger Menke alias Krimiblogger. Ludger schreibt über Kriminalliteratur auf mehreren social media-Kanälen – am besten mache man sich ein Bild über seine Aktivitäten unter krimiblog.com.
In einem Interview im  Forum SteglitzMind sagt Ludger über sich:
“Mein Aliasname Krimiblogger verrät es: Ich mag Krimis, Thriller, Spannungsromane und auch Schund. Was genau Krimi ist, kann ich nicht sagen, meine Blogs spiegeln auch meine Suche nach Definitionen und Begriffserklärungen wider. Im Laufe der Zeit bin ich vorsichtiger geworden, ein Buch als „Krimi“ zu bezeichnen. Daneben versuche ich aber auch über den literarischen Tellerrand zu schauen.”
Wenn einer gesteht, “Schund” zu mögen, dann macht das durchaus neugierig, was Ludger wohl bei den verschämten Lektüren auspackt. Here we go:

Sie sind die “guilty pleasures” der Krimileser, Krimikritiker hingegen rümpfen oft die Nase über sie: die Cozies. Rätselkrimi, Landhauskrimi, Häkelkrimi – so lauten die Etiketten, mit denen im Deutschen die kuscheligen Spannungsromane bezeichnet werden. Cozies gehören schon lange zu den Unterarten der Kriminalliteratur. Bereits im “Goldenen Zeitalter” der Detektivgeschichten, zwischen den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert, wurden massenhaft Cozies veröffentlicht. Nicht nur berühmte Autoren wie Agatha Christie, Dorothy L. Sayers (red. Anmerkung: Bei Sätze&Schätze rangiert sie unter der Kategorie “Flutschbuch”:
http://saetzeundschaetze.com/2014/09/21/flutschbuch-11-dorothy-sayers-hochzeit-kommt-vor-dem-fall/)
oder Margery Allingham schrieben damals die mittlerweile oft als harmlos verspotteten Geschichten, auch längst in Vergessenheit geratene Schriftsteller wie Mavis Doriel Hay, John Bude oder John G. Brandon erreichten mit ihren Geschichten ein großes Publikum.

Die Tradition der Mordsgeschichten, die in der Regel im ländlichen England spielen, deren Morde zwar skurril ausschauen, aber kaum detailliert geschildert werden, und bei denen es meistens einen kleinen und überschaubaren Kreis von Verdächtigen gibt, wurde bis heute von Schriftstellern fortgesetzt. Die US-amerikanische Autorin Martha Grimes, 1931 in Pittsburgh geboren, begann Anfang der 1980er Jahre mit der Veröffentlichung ihrer Inspektor-Jury-Reihe, die mittlerweile 22 Bände umfasst. “The Man With a Load of Mischief” heißt ihr erster Roman, der 1987 in der Übersetzung von Uta Goridis unter dem Titel “Inspektor Jury schläft außer Haus” bei Rowohlt erschien. Und in ihm finden sich alle wichtigen Aspekte, die einen guten Cozy ausmachen: Der Krimi spielt im ländlichen und hübsch verschneiten Long Piddelton, bizarre Morde an Zugereisten geschehen in den örtlichen Pubs, eine exzentrische Gesellschaft von Schriftstellern, Schauspielern und Adeligen beherrscht das Geschehen und selbstverständlich muss einer von ihnen die Morde – denn natürlich bleibt es nicht bei einem Toten – begangen haben. In dieses schaurige Spektakel schickt Scotland Yard den charmanten Inspektor Richard Jury als Aufklärer, der sich, wie es sich für einen Cozy gehört, in eine der Verdächtigen verliebt, der Lyrikerin Vivian Rivington.

Neben ihr zählen der windige Kriminalschriftsteller Oliver Darrington und seine gar reizende Sekretärin Sheila Hogg, der attraktive Wirt und ehemalige Schauspieler Simon Machett, der schwule Antiquitätenhändler Marshall Trueblood, die exzentrische Lady Agatha Ardry und ihr Neffe, Melrose Plant, der freiwillig seinen Adelstitel abgegeben hat, zu dem Ensemble der Verdächtigen. Wie es sich für einen Cozy gehört, führen die aktuellen Verbrechen – ein Opfer wird an einer Skulptur an einer Kneipe zur Schau gestellt, ein anderes Opfer landet mit dem Kopf in einem Bierfass – zurück zu Gewaltverbrechen in der Vergangenheit. Angereichert wird diese harmlose und kurzweilige Mörderjagd mit literarischen Anspielungen. Melrose Plant, der sich zum mitermittelnden Freund von Inspektor Jury mausert, zitiert mühelos französische Lyriker, dezente Hinweise zu Agatha Christie und Arthur Conan Doyle werden gestreut und selbstverständlich spielt Shakespeare eine wichtige Rolle, denn der Schlüssel zur Aufklärung der aktuellen Morde könnte in einer “Othello”-Aufführung liegen, die bereits vor vielen Jahren über die Bühne ging.

Dem strengen Blick eines Literaturkritikers können diese literarischen Anspielungen wohl kaum genügen. “The Man With a Load of Mischief”, ist, wie fast jeder Cozy, Unterhaltungsliteratur, die sich mit Klischees schmückt und die keinen literarischen Anspruch hat. Stilistisch ist der Roman handwerklich sauber und unaufregend verfasst, Martha Grimes stellt das Ensemble-Spiel ihrer Figuren in den Mittelpunkt und geht vor allem der Frage nach, wie sich Menschen verhalten, wenn sie mit Mord konfrontiert werden. Der Roman – wie fast alle Inspektor-Jury-Bücher – hat kaum einen politischen oder gesellschaftlichen Anspruch, wirkt in sich sogar eher konservativ und verklärend. Dennoch habe ich mich über zwanzig Jahre nach meiner ersten Lektüre auch beim erneuten Lesen gut amüsiert. Wie so oft bei Unterhaltungsliteratur sind es oft die Freiräume, die der Autor seinen Lesern lässt. Grimes schafft skurrile Figuren und beschreibt dennoch nicht alles bis ins Detail, sondern lässt ihren Lesern den Platz für eigene Bilder. Vielleicht liegt darin die Kraft und das Geheimnis guter Cozies: Das Erschaffen der Landschaften und der Personen. Doch zum Leben erweckt sie letztlich erst der Leser in seinem Kopf. Und das macht mir auch heute noch, nach vielen, vielen kriminalliterarischen Meisterwerken, immer noch einen Heidenspaß!

P.S.: Wer die deutschen Ausgaben heute sucht, der schaue in Antiquariaten bitte nach den alten Ausgaben mit den schönen Umschlag-Illustrationen von Bruce Meek. Leider wurden die späteren Jury-Romane mit Umschlägen versehen, die an die bunten Zeichnungen von Meek nie heranreichten. Und Meek gab mit seinen Bildern die Atmosphäre der Grimes-Romane perfekt wider.

Bibliographische Angaben:
Martha Grimes: The Man With A Load of Mischief. – Boston : Little, Brown & Company, 1981. – ISBN: 0316328804

E-Book-Ausgabe: Martha Grimes: The Man With A Load of Mischief. – New York: Scribner, 2013. – ISBN 978-1-4767-3294-7

Deutsche Ausgabe: Martha Grimes: Inspektor Jury schläft außer Haus / Deutsch von Uta Goridis . – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1987, ISBN 3-499-15947-3

Und hier geht es zum lesens – UND! – sehenswerten Blog von Ludger: https://krimiblog.com/

#VerschämteLektüren (19): Wie der krasse Grass einen Leser zur Beschämung trieb

Von den Leiden eines eingefleischten Grass-Fans erzählt Marc in seiner beschämten Lektüre.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Verschämte Lektüren bedeutet nicht unbedingt, dass man die Bücher im Regal weit hinten vor den Augen der Besucher versteckt. Manchmal geht es auch anders herum: Man versteckt sich vor dem Buch. Weil es einen aus dem Regal her angrinst – aber man es einfach nicht leiden mag… Oder weil man vom Autoren viel hält, ihn verehrt, aber dieses eine Buch so fürchterlich daneben ging… Das ist dann literarisches Fremdschämen sozusagen. Von so einem Fall handelt dieser Beitrag. Denn so erging es jedenfalls Marc, der sonst von sich wie von seinem Blog sagt: “lesenmachtglücklich”.

Marc ist so nett und stellt sich gleich selbst vor:
Da es um Literatur geht, möchte ich mich auch mittels bestimmter Werke und Autoren näher bringen, ohne Wertigkeit versteht sich. Also, meinen Vornamen habe ich vom Twain entliehen, allerdings, um nicht aufzufallen, wurde er mit einem c am Ende versehen. Nicht weiter schlimm, so taucht man eben unter. Die Zeit, von der “Der Turm” (der von Tellkamp, nicht Stephen King) erzählt, habe ich als kleiner Zwerg erlebt und kann da nur insofern mitreden, dass ich zu besagter Zeit, zu der dieser Roman spielt, in dieser Region gelebt habe. Nach Stationen Schule (auch Lessing trieb sich früher da rum) und Studium (Uwe Tellkamp hat hier ebenfalls studiert, nur war es bei mir stattdessen Maschinenbau) hat es mich mittlerweile in die Region verschlagen, in der der Verlag “ars vivendi” sein Unwesen treibt und diverse regional verwurzelte und überregionale Literatur veröffentlicht. Soviel zu meiner Person und ansonsten lasse ich gerne meinen Blog sprechen, schaut einfach auf www.lesenmachtgluecklich.wordpress.com vorbei.

Marcs verschämte Lektüre:

Es gab mal einen Autor im Nachkriegsdeutschland, der das heiße Eisen „Aufarbeitung der Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges“ in die Hand nahm und mit „Die Blechtrommel“ erfolgreich in die Tat umsetzte. Dazu muss ich noch ein wenig weiter ausholen, denn es liegt schon einige Jahre zurück, dass ich mich diesem Autor widmete. Es begab sich also zu meinen Schulzeiten, das war noch in grauen Vorinternetzeiten Mitte/Ende der 90er, als unser Deutschlehrer in der Sekundarstufe II die Wahl überlassen hatte, ein Buch aus seinem ganz persönlichen Kanon vorzustellen. Da waren viele illustre Werke dabei, doch keines sprach mich mehr an als die eingangs erwähnte Geschichte um Oskar Mazerath. Es war eines der wenigen, die übrig blieben. Warum ich mir ausgerechnet diesen dicken Wälzer ausgesucht habe, weiß ich bis heute nicht, aber es war das einzige, welches mich interessierte. So nahmen die Dinge ihren Lauf und ich entdeckte Günter Grass für mich. Das Buch musste ich aus unterschiedlichsten Gründen (zum Glück) nicht vorstellen, aber das gab dem Lesegenuss noch mehr Vorschub. Bis heute habe ich dieses Werk schon dreimal gelesen und finde es jedesmal aufs Neue interessant und faszinierend. Doch um der Rubrik auf meine etwas verquere Logik gerecht zu werden, will ich ehrlich sein: Oh Wunder, um dieses Buch geht es gar nicht.

Ich begann eine etwas innigere Beziehung mit dem Werk von Günter Grass, der als Schüler nicht gerade der Autor ist, den man gerne liest. Und – keine Sorge, ich habe mich auch der Trivialliteratur zugewandt gefühlt, aber seltsamerweise hat es mir Grass voll krass angetan (ich liebe dieses Wortspiel). Lange Rede kurzer Sinn, ich verschlang seine Danziger Trilogie (die steht immer noch sehr prominent bei mir zu Hause im Wohnzimmer und fleht mich jedes Mal an, sie wieder aufzuklappen); verspeiste den Butt und ging mit der Rättin spazieren. Doch dann kam der unglückselige Tag, an dem ich mich dem Werk „Ein weites Feld“ zuwandte, welches mein erstes Buch in meinem Leseleben werden sollte, dessen Lektüre sich über Monate hinzog. Dass ich es nicht abgebrochen habe, liegt wohl eher daran, dass ich der Typ Leser bin, der einfach zu Ende liest, was er begonnen hat und nicht, weil mich die literarische Qualität abschreckt oder das Werk langweilig ist, abbricht. Ich habe keine weitreichenden Erinnerungen mehr an dieses Buch, außer dass es sich sehr, sehr, sehr zäääääääääääh in die Länge zog und ich mir geschworen habe, es Marcel Reich-Ranicki gleich zu tun, dessen Bild vom Spiegel sich mir in Verbindung mit diesem Buch ins Gedächtnis gebrannt hat (siehe hier der Link zum Spiegel-Artikel von MRR). Zerrissen habe ich es nicht und auch nicht weggegeben, doch verstanden habe ich es bis heute nicht. Es steht immer noch bei mir im Bücherregal und grinst mich immer, wenn ich daran vorbeigehe, hämisch an und sagt lachend zu mir, wann ich mich denn mal wieder quälen möchte. Ich lass es dann links liegen, gehe verschämt (im Sinne von, warum ich das Buch denn überhaupt noch im Buchregal lasse) vorbei und lasse es so lange lachen, bis es sich dieses hicksend verkneift. Damit bleibt nur als Schlussfazit: Bücher und wie sie sich im Kopf festsetzen, sind ein weites Feld. Heute Abend gehe ich wieder meine Regalreihen entlang und ich fürchte schon jetzt wieder das Kichern, dass in meinem Rücken zu einem Gelächter anschwellen wird, um mir zu zeigen, dass ich dieses Werk immer noch nicht entsorgt habe. Fange ich heute vielleicht an, darin zu lesen? Oder verdrücke ich mich wieder in die hinterste Ecke meines Zimmers und halte mir die Ohren zu?

P.S.: Zum Glück konnte ich mich mit Herrn Grass ein wenig später mit „Mein Jahrhundert“ wieder versöhnen.

P.P.S.: Nicht das ich die Rubrik falsch verstanden habe, aber um Missverständnissen vorzubeugen, habe ich für mich persönlich den Begriff „verschämt“ etwas freier interpretiert.

Hier geht es zum Blog lesenmachtglücklich:
http://lesenmachtgluecklich.wordpress.com/

PS – Ergänzung durch Sätze&Schätze: Das Buch – nicht zuletzt auch nach der Kritik durch MRR im Spiegel – löste nach seinem Erscheinen eine politische Diskussion aus und führte zu einer literarischen Fehde zwischen Autor und Kritiker, die jahrelang anhielt. Auch sieben Jahre später wechselten die Beiden darüber nur mediale Noten: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/reich-ranicki-an-grass-ich-muss-sie-noch-einmal-belehren-a-217611.html.

Auch das Spiegel-Titelbild blieb nicht unumstritten – ein handfester Verriss mit Folgen.

Bild zum Download: Graffiti Günter Grass in Lübeck