Alice Grünfelder: Jahrhundertsommer

„Jahrhundertsommer“: Ein Dorfroman, ein Anti-Heimat-Roman, vor allem aber auch ein Gesellschaftsroman. Alice Grünfelder schreibt über eine Familie auf der Schwäbischen Alb, die sich gegen Armut, soziale Ächtung und das Schicksal an sich stemmt.

„Und so schön war es den ganzen Sommer über und auch im Herbst, als auf der Schwäbischen Alb die Wälder in gelbem und feuerrotem Licht schwammen.“

Alice Grünfelder, „Jahrhundertsommer“


Es währt nicht lang, das kleine Glück von Magda: Nur einen heißen Jahrhundertsommer lang, der abends die Alb glühen lässt, spürt sie diese Wärme „wie ein Strohfeuer“ in ihr, ist sie verliebt, beinahe wie ein Teenager. Doch dann verschwindet John, der amerikanische Soldat, wort- und spurlos Richtung Vietnam, lässt die 40jährige mit einem „Dergel“, einem „Balg“ zurück. In ihrem Dorf ist Magda damit doppelt gebrandmarkt: Als „Geschiedene“, die sich von einem „Ami“ ein Kind anhängen ließ.

Bild von Ingo Jakubke auf Pixabay

Die Enge der schwäbischen Dörfer

Scharlachrote Buchstaben gab es in dieser urschwäbischen Gegend zwar noch nie. Aber „gschwätzt“ wird noch immer, in dieser Enge der Dörfer, wo jeder jeden kennt, über jene, die nicht in die gängigen Vorstellungen passen. Es ist auch ein Stück meiner Kindheit und Jugend, in die die Schriftstellerin Alice Grünfelder mit ihrem neuen Roman „Jahrhundertsommer“ entführt. Nur wenige Sätze genügen, um mich in die 70er- und 80er zurückzuführen:

„Jetzt also hatten sie endlich ein eigenes Haus in der neuen Siedlung, gleich neben dem Libellenrain, wo die Reichen lebten. Ihre Neubausiedlung grenzte aber nicht direkt an den Wald, sondern ging über in weite Wiesen und Äcker. Manchmal versprühten Bauern ihren Dung, das roch dann in der ganzen Siedlung.“

Der Traum der Eltern von Leuten meiner Generation vom eigenen Häusle, die Not der Kriegs- und Nachkriegszeit immer noch im Nacken, als die Großmütter selbst noch Socken stopften, die mehr Löcher hatten als Wolle, dieses Credo vom „Schaffa, schaffa, Häusle baua ond net nach de Mädla schaua.“ Der Wunsch, am Wirtschaftswunder teilzuhaben. Und wem das nicht gelang, dem hing der Ruf nach, selbst schuld zu sein. Am Gymnasium meiner oberschwäbischen Kleinstadt-Heimat kursierte zudem ein besonderer Spruch: „Malaria, Cholera, von dr Alb ra“. Die Schwäbische Alb galt als besonders rückständig. Das Karstgebirge ist eine der wasserärmsten Regionen Deutschlands, das Leben für die Landwirte war hart. Eine raue Landschaft, die einen rauen Menschenschlag hervorbrachte. Lebensgewohnheiten, geprägt von harter Arbeit, den engen Grenzen der Kirche und zugleich von den Sagen und Mythen der Ahnen – all das schwingt in „Jahrhundertsommer“ mit.

Von Armut und Widerstandskraft

Alice Grünfelder erzählt die Geschichte einer kleinen Familie, die immer außen vor bleibt, die kämpfen muss, selbst um das Notwendigste, sie erzählt von gescheiterten Lebensplänen und misslungenen Fluchten, aber auch von einer zähen Widerstandskraft, die schwäbisch-stoisch die größten Schläge einstecken lässt. Die Geschichte setzt ein mit Magda in den 60er-Jahren, die von ihrem „Alten“, wie sie ihn dann nur noch abschätzig-zornig nennt, wegen einer jüngeren Frau sitzengelassen wird. Es ist jedoch nicht der untreue Mann, dem die Dorfgemeinschaft etwas anhängt, Magda selbst werde schon ihren Anteil daran haben, wird gemunkelt. Und wird als „Geschiedene“ fortan gemieden. Tochter Ursula flüchtet sich schnell selbst in den Ehehafen, wird schwanger, muss von Thomas geheiratet werden:

„Jetzt bringst du uns noch die Geschiedene ins Haus“, hatten seine Eltern gezetert.
„Nur eine Evangelische wäre noch schlimmer gewesen, dann hätten sie mich verstoßen, das haben sie uns von klein an eingetrichtert“, hatte Thomas Ursula erzählt.

Ursula, die lange mit der Mutter hadert, widerfährt schließlich das gleiche Geschick, auch bei ihr währt das Familienglück im eigenen Haus (in der nach Dung riechenden Siedlung) nicht lange, auch sie wird gegen ein jüngeres Modell eingetauscht. Ihre Halbschwester Ellen, Abkömmling der einzigen Liebe Magdas, scheint es klüger anzustellen: Sie spart eisern ihr Geld, das sie mit Babysitting verdient, um nach Paris zu gehen. Am Ende, als Magda bereits 80 Jahre alt ist, kommt Ellen nach dem Unfalltod ihres Partners mit einem kleinen Kind, aus Not nach zu ihrer Mutter zurück:

Sie schrieb Julia, wie die Leute in Beissweng die Straßenseite wechselten, hinter vorgehaltener Hand tuschelten, so wie immer, so wie früher. Denn ihr Kind hatte dunklere Haut, schwarze Kraushaare, schwarze Kugelaugen.
„Von wem hat sie das Balg?“
„Dass die sich überhaupt traut, zurückzukommen!“

Alice Grünfelder erzählt abwechselnd aus der Perspektive dieser drei Frauen aus drei Generationen über Frauenleben, unerfüllten Wünschen, Hoffnungslosigkeit, die im Falle Magdas bis zum Suizidversuch führt, aber auch vom Überleben in einer feindlichen Umgebung. Man zieht beim Lesen innerlich den Hut vor diesen Frauen, die sich durchbeißen, sei es mit dem Bemalen von Spielfiguren in Heimarbeit, als Marktfrau mit Gemüse aus dem eigenen Garten, als Avon-Beraterin und unterbezahlte Fußpflegerin im Altenheim oder als ausgebeutetes Au Pair-Mädchen in Frankreich.

Drei Frauen und ein Mann

Mit Viktor, Magdas Enkel, Ursulas Sohn, bringt Alice Grünfelder noch eine männliche Perspektive ins Spiel: Auch er ein „Looser“, der schon in jungen Jahren im Alkoholentzug landet, aber auch er einer, der sich immer wieder aufrappelt. Und einer, der am Ende, auf beinahe schon skurrile Weise, die Frauen seiner Familie kurz aus der schwäbischen Armut reißt: Als an Magdas Haus schon die Eternit-Platten abfallen, als in seinem „Elektrofachgeschäft“ die Kunden ausbleiben und Ellen ohne Geld in Frankreich sitzt, kommt Viktor die rettende Idee: „Grün ist die Hoffnung“ lautet das letzte Kapitel, grün ist der Hanf, den er mit Hilfe „seiner“ Frauen in einer Lagerhalle anbaut und gewinnbringend vertickt. Natürlich, und das scheint typisch für diese Familie, geht auch dieses Geschäft irgendwann daneben, fliegt alles auf.

Doch im letzten Kapitel steht Magda, wie zu Beginn des Romans, vor einem Spiegel – nur dass sie sich diesmal nicht überlegt, was sie beim Ausflug auf ein Dorffest mit ihrer Putzkolonne anziehen soll, sondern welche Kleidung für das Gefängnis taugt. Doch Magda ist eine andere geworden, in diesem harten Leben:

„Da muss sie also erst achtzig werden, um gefragt zu werden, ob sie Probleme habe. Die können sie alle mal, dachte sie (…). Es klingelte. Sie ging hinaus. Zwei Jahre Urlaub auf Staatskosten. In Gotteszell.“

Es ist eine Stärke dieses Romans, dass er Figuren nahebringt, die zu Menschen werden: Magda, Ursula, Ellen und Viktor. Man muss sie nicht mögen, sie haben ihre Schwächen, ihre dunklen Seiten, Viktor, der Typ, der sich einfach hängen lässt, Ursula, die sich in Glückserwartung an den jeweils greifbaren Mann hängt, Magda, die ihre Schroffheit an Ellen auslebt. Doch sie werden von Alice Grünfelder so nah- und greifbar geschildert, dass sie förmlich aus dem Buch heraustreten.

Die Sprache transportiert die Mentalität der Gegend

Das bewirkt auch Grünfelders Sprache: Nicht literarisch überhöht, direkt, mit leisem Humor, viel Mutterwitz und dezent eingestreuten Mundart-Sprengseln, die die Handlung, die auch in anderen Landstrichen stattfinden könnte (auch wegen der geschilderten Mutlangen-Proteste wurde ich ab und an beim Lesen an den „Dorfroman“ von Christoph Peters erinnert, ähnliches Milieu, andere Gegend), ins Schwäbische verortet. Die Sprache transportiert die Mentalität einer Gegend, die trotz – oder gerade wegen ihrer Rauheit – eine ganz eigene Anziehungskraft hat.

„Jahrhundertsommer“: Ein Dorfroman, ein Anti-Heimat-Roman, vor allem aber auch ein Gesellschaftsroman, der durch die Verknüpfung der verschiedenen Ebenen auch verschiedene gesellschaftliche Themen anspricht, ohne überfrachtet zu wirken: Alleine Magda führt uns vor Augen, was Armut, gerade auch Altersarmut bedeutet – und dass sie, sowohl in der Literatur als auch im „echten Leben“ nicht wegzuleugnen ist.


Bibliographische Angaben:

Alice Grünfelder
Jahrhundertsommer
dtv Verlag, 2023
ISBN: 978-3-423-28345-8

Homepage der Autorin: https://www.literaturfelder.com/

ULLA COULIN-RIEGGER: Es wird so unbemerkt zu spät

Ulla Coulin-Riegger vermag es, psychologische Themen in unterhaltsame Literatur zu verpacken. In ihrem neuen Roman wird ausgerechnet ein engagierter Psychiater von Burnout betroffen: “Es wird so unbemerkt zu spät” ist eine märchenhafte Satire auf unsere Leistungsgesellschaft.

Bereits mit ihrem vielbeachteten Debütroman „Mutters Puppenspiel“, der unter anderem in der FAZ besprochen wurde, hat die Psychologin und systemische Verhaltenstherapeutin Ulla Coulin-Riegger bewiesen, mit welchem Geschick sie psychologische Themen in gute Literatur verpacken kann.

Nun erscheint mit „Es wird so unbemerkt zu spät“ ihr zweiter Roman, der erneut auf ungewöhnliche Weise ein Thema aufgreift, das viele Menschen betrifft: Burnout entwickelt sich in unserer Leistungsgesellschaft zur neuen Volkskrankheit.

Wie diese Krankheit sich bei einem Menschen einnisten kann, zeigt die Schriftstellerin interessanterweise am Beispiel eines Psychotherapeuten, der seinen eigenen Patienten aus deren Lebens- und Schaffenskrise helfen soll: Rafael Lenz, der einen typischen Patriarchen-Vater und eine anspruchsvolle Ehefrau im Nacken hat, merkt selbst viel zu spät, dass er sich mit dem Virus des „Ausgebranntseins“ angesteckt hat – und sein Ehrgeiz, den Menschen in einer eigenen Klinik mit ungewöhnlichen Methoden helfen zu wollen, endet in einer burlesk anmutenden Katastrophe.

Schriftstellerin Angelika Overath, die den Roman vorab gelesen hat, ist begeistert: „Auch wo die Autorin sezierend kritisch ist, schreibt sie mit Empathie. Man spürt die Herzensgeste der Gnade. Und weil Ulla Coulin-Riegger durch ihr genaues, witziges, traurig- und lachenmachendes Erzählen uns zum Nachdenken bringt, könnte dieser kluge Text eine Chance bieten, etwas an unserem Leben zu ändern.“

Und Ulla Coulin-Riegger sagt über ihre Motivation zu ihrem zweiten Roman:
„Mit den Mitteln der Psychotherapie gegen die mächtigen Versprechungen und Drohungen einer Leistungsgesellschaft antreten zu müssen, mag gelegentlich zur Sisyphusarbeit ausarten und den engagiertesten Therapeuten Momente der Resignation und eigener Erschöpfung durchleben lassen. Es reizte mich, diese Erfahrung im Rahmen eines Romans zu verarbeiten, und an der Seite meines Protagonisten den Traum von einem selbstfürsorglicheren und Einspruch erhebenden Menschen zu träumen, der, vielleicht schon bald, durch die Generation Z ein bisschen wahr werden könnte.“


Zur Autorin:

Ulla Coulin-Riegger, 1950 in Stuttgart geboren, studierte Psychologie an der Eberhard-Karls-Uni-versität in Tübingen und absolvierte danach eine Ausbildung zur Psychotherapeutin. Seit 1996 ist sie als Verhaltenstherapeutin und systemische Verhaltenstherapeutin tätig und führte bis vor kurzem eine eigene Praxis in Leinfelden-Echterdingen. Bereits in jungen Jahren begann sie auch mit dem Schreiben. Ihren ersten Text über eine narzisstische Mutter bot sie aber erst spät zur Veröffentlichung an. Nach dem Erfolg von „Mutters Puppenspiel“ ist „Es wird so unbemerkt zu spät“ ihr zweites Buch.


Bibliographische Angaben:

Ulla Coulin-Riegger

Es wird so unbemerkt zu spät
Molino Verlag GmbH, 2023
Hardcover, 212 Seiten
ISBN: 978-3-948696-45-0

Download Pressemitteilung


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für die Autorin.

C. A. Davids: Hoffnung & Revolution

“Hoffnung & Revolution” ist der zweite Roman der südafrikanischen Autorin C. A. Davids. Er erzählt von gescheiterten politischen Hoffnungen und dem Streben nach Gerechtigkeit.

„Nachdem sie tot war, gab es keinen Gedanken mehr an Normalität, sollte diese überhaupt je existiert haben. Die Traurigkeit ließ nie nach. Sie lauerte unter meinen Lidern, beobachtete mich, wenn ich in der Schule war, wenn ich sprach. Atmete für mich. Manchmal … besonders in den Tagen danach … war es einfacher, daheimzubleiben und an die Decke zu starren.“

C. A. Davids, „Hoffnung & Revolution“, Verlag Das Wunderhorn


Es sind zwei beschädigte Seelen, die das Schicksal in der Millionenmetropole Shanghai zusammenführt: Beth, eine südafrikanische Konsulatsangestellte, die 1989 den Mord an ihrer besten Freundin Kay erleben musste. Und Zhao, der 1958 einen ähnlichen Lebenseinschnitt erlitt – die Auslöschung praktisch seines ganzen chinesischen Heimatdorfes während einer großen Hungersnot, das ungeklärte Verschwinden seiner Mutter.

Bild von Barend Lotter auf Pixabay

Beide, die Diplomatin im Dienst eines immer korrupter werdenden Staates, und der linientreue Journalist in einer Diktatur, deren Überwachungsnetze immer enger gezogen werden, haben sich irgendwie mit ihrem Leben, ihrem status quo arrangiert. Doch beide wissen auch, dass dieses Arrangement, das Einrichten eines Lebens in einem Lügengespinst, seinen Preis hat.

„Wenn sparsam mit Erzählungen, mit Kritik, mit Geschichte, dann nicht, weil ich nicht sehe, nicht fühle. Beschütze nur. Dieses Leben …“, sagte er schließlich.
„Ja“, sagte ich. Ich verstand.
Zhaos Schweigen bedeutete auch, dass meine Vergangenheit mehr oder weniger in Ruhe gelassen wurde.

Der Preis des Schweigens ist Einsamkeit und Isolation, wie die südafrikanische Schriftstellerin C. A. Davids in ihrem zweiten Roman, der 2022 unter dem Titel „How to be a revolutionary“ erschien, verdeutlicht. Übersetzt von Susann Urban kam die deutsche Ausgabe „Hoffnung & Revolution“ nun in der Reihe „AfrikAWunderhorn“ im Verlag Das Wunderhorn heraus. Von Hoffnung ist zunächst bei den beiden hauptsächlichen Protagonisten wenig zu spüren: Beth und Zhao, die beide in einem Wohnblock leben, lernen sich kennen, weil Zhao ein Synonym für „traurig“ sucht. Sie einigen sich schließlich auf „Melancholie“.

Von Cape Town bis Shanghai

Eine Melancholie, die diesen Roman beinahe bis zum Ende durchzieht. Immer wieder wechselt die Autorin die Zeit- und Erzählebenen, verschränkt die beiden Lebensgeschichten, um die Vergangenheit, den Weg beider bis nach Shanghai nachzuvollziehen. Von Cape Town und der chinesischen Provinz bis Shanghai: Auch ein Weg gescheiterter politischer Hoffnungen, nicht eingetretener Utopien, falscher Glaubenssätze.

„Erst als der Vorsitzende starb, ließ das Blutvergießen ein wenig nach. Ich kann ruhig zugeben, dass ich gemeinsam mit Millionen, vielleicht Hunderten Millionen, aufrichtig weinte. Da ich keinen Vater gehabt hatte …“

Die Depression kommt am Platz des Himmlischen Friedens

Für Zhao, der das spurlose Verschwinden seiner Mutter nie überwand, wird schließlich dieses Datum, das in China nicht genannt werden darf, zu einem inneren Wendepunkt: Der 4. Juni 1989, der Tag des Massakers am Tian’anmen-Platz. Mit diesem Tag beginnt für ihn der Weg in eine innere Emigration, die erst aufbricht, als er Beth kennenlernt.

Und für Beth ist die Begegnung mit Zhao der Schlüssel, um das, was die in Südafrika eingesetzte “Wahrheits- und Versöhnungskommission” ihr nicht bieten konnte – Gerechtigkeit für ihre ermordete Jugendfreundin Kay – zu überwinden. Zu sehr hatte sie sich an ein Leben mit Kompromissen gewöhnt. Die kritischen Worte ihres Mannes, denen sie sich mit ihrer Versetzung nach Shanghai entzieht, schärfen ihren Blick, ihr Vorgesetzter formuliert es deutlich:

„Sie sind eine Beamtin, die alle Ideologie hinter sich gelassen hat und mit sich ins Reine zu kommen versucht, nachdem sie jahrelang die zunehmende Unfähigkeit und Korruption ignorierte.“

Als Zhao, der vermutlich bereits von der chinesischen Regierung überwacht wird, eines Tages sang- und klanglos verschwindet, hinterlässt er Beth ein gefährliches Geschenk: Ein Manuskript, das unverblümt von der Hungersnot erzählt, den Gräueltaten, als Kinder ihre Eltern aßen, um zu überleben, als korrupte Beamte Nahrungsmittel für sich und die ihren beiseite schafften bis hin zu den Umtrieben der Viererbande und dem Massaker am Himmlischen Platz des Friedens. Beth gelingt es, obwohl auch bereits ihre Wohnung überwacht wird, sie ihren Arbeitsplatz verliert, schließlich einem Verhör unterzogen wird und aus Shanghai verwiesen wird, das Manuskript außer Landes zu schaffen. Und aus der Resignation und Apathie wird schließlich wieder Hoffnung:

„In den Tagen und Nächten, die folgten, füllte Beth, wie eine Gegenstimme zum Meeresrauschen, die Stille mit Worten, die ihr anfangs nicht leichtfielen.
Aber hier standen sie. Wahr. Fakt. Eine Aufzeichnung. Ein Zeugnis. Seins, ihr eigenes und natürlich der Freundschaft.“

In einer ausführlichen Rezension zu diesem Buch schreibt Hilary Lynd in der „Los Angeles Review of Books“:

„Being a confident young revolutionary is part of a collective experience. Being a confused older revolutionary, most of the time, is awfully lonely.“

Man ist versucht, beim Lesen immer wieder leise die „Internationale“ anzustimmen: „Proletariar (respektive Revolutionäre) aller Länder, vereinigt euch!“ Denn „Hoffnung & Revolution“ ist ein Roman, der ebenso von der Einsamkeit als auch vom Wert der Freundschaft und Solidarität erzählt. Und nicht zuletzt davon, dass Menschen bereit sind, für den Kampf gegen Ungerechtigkeit vieles auf sich zu nehmen – und dazu bereit sein können, wenn einige, und seien es auch nur wenige, sie unterstützen.

Fiktive Briefe von Langston Hughes

Kunstvoll gelingt es C. A. Davids, diesen Subtext ihres Buches durch eine dritte Ebene zu verstärken: Immer wieder eingeflochten sind in den Text fiktive Briefe des afroamerikanischen Schriftstellers Langston Hughes (1902 – 1967) an einen südafrikanischen Kollegen. Hughes ist die perfekte Projektionsfläche: Hughes, Vertreter der Harlem Renaissance, kämpft gegen Diskriminierung, sieht den Sozialismus, vor allem nach einer Reise in die Sowjetunion, als mögliche, gerechte Staatsform, muss in der McCarthy-Ära vor den berüchtigten Ausschuss und gerät, auch weil er sich von manchen seiner früheren Aussagen distanziert, zwischen alle Stühle und mehr und mehr in die Isolation. Die Korrespondenz mit gleichgesinnten Schriftstellern, die Arbeit an einer Anthologie, das ist es, was Hughes wieder Mut & Leben gibt.

Davids schildert dies alles unspektakulär und dennoch abwechslungsreich – so bekommt jeder Handlungsort, sei es Shanghai, sei es Kapstadt, eine „eigene Sprache“ und Färbung, beispielsweise durch eingestreute Slangwörter. Auf eine falsche Fährte könnte die Ankündigung des Buchs als Politthriller auf der Verlagsseite Leser*innen bringen: Für einen Thriller fehlt etwas der Spannungsbogen. Vielmehr ist „Hoffnung & Revolution“ ein lesenswerter Roman über Kraft (aber auch Ohnmacht) des geschriebenen Wortes. Und ein politischer Roman von hoher Aktualität: Irgendwo steht die Welt immer in Flammen. Und irgendwo braucht es auch immer mutige Einzelne, die dagegen ihre Stimme erheben.


Weitere Informationen:

C. A. Davids
Hoffnung & Revolution
Übersetzt von Susann Urban
Verlag Das Wunderhorn, 2023
Hardcover, 320 Seiten
ISBN 978-3-88423-686-4

Mehr zum Buch und zur Autorin auf der Homepage des Verlags, dem ich für das Rezensionsexemplar danke.


Südafrika auf diesem Blog:

Imraan Coovadia: Vermessenes Land
James McClure: “The Steam Pig” und “The Song Dog”

JAN KUHLBRODT: Alfred-Döblin-Preis 2023 für “Krüppelpassion”

Für “Krüppelpassion”, ein Text, der im September 2023 im Gans Verlag erscheint, wurde Jan Kuhlbrodt mit einem der renommiertesten deutschen Literaturpreise ausgezeichnet.

Erst vor wenigen Tagen ist im Berliner Gans Verlag mit “Schrift unter Tage” das jüngste Buch des Schriftstellers und Philosophen Jan Kuhlbrodt erschienen. Bereits aus seinem nächsten Buch, das ebenfalls im Gans Verlag herauskommen wird, hat Kuhlbrodt am Samstag, 6. Mai, im Literarischen Colloquium Berlin als einer der sechs Autor*innen, die für den diesjährigen Alfred-Döblin-Preis nominiert waren, gelesen. Und konnte die Jury mit seinem Auszug aus “Krüppelpassion – oder vom Gehen” überzeugen. Jan Kuhlbrodt ist seit Samstag abend, 6. Mai, Träger des Alfred-Döblin-Preises 2023.

Jan Kuhlbrodt, der an Multipler Sklerose erkrankt ist und im Rollstuhl sitzt, las einen Text, der seine Erkrankung und das Sterben thematisiert. Sein Roman „Krüppelpassion – oder vom Gehen“ wird im September im Gans Verlag erscheinen.

Kuhlbrodt schreibt: „Man könnte mein neues Buch als Chronik eines sich ankündigenden Todes verstehen. Aber der Blick auf den Tod sperrt sich der chronologischen Schreibweise. Im Text versuche ich zwar, seine Zeichen zu erkennen. Bisweilen gelingt das aber erst, wenn sie schon lang nicht mehr leuchten. So enthält mein künftiges Sterben ein Moment der Erinnerung an das Leben davor. Aber da es im Leben drunter und drüber geht, Mitmenschen und Umstände einem immer wieder physische und seelische Einschränkungen vor Augen führen, steht im Buch Erinnerung und Slapstick an der Seite des Philosophie, aber auch des Zorns. So versuche ich in meinem Krüppeltext mit Mut und Humor vom langsamen Rückzug des Lebens aus meinem Körper zu schreiben als eine Begegnung von all diesen Momenten.“ 

Vorankündigung:

Jan Kuhlbrodt: Krüppelpassion – oder vom Gehen
Erscheinungstermin: 15. September 2023
ca. 224 Seiten | Hardcover | Fadenbindung
29,90 Euro | ISBN 978-3-946392-34-7

Bereits erschienen:

In “Schrift unter Tage” (hier gibt es eine Leseprobe) sind Texte, versammelt, die in einer Isolation entstanden sind, die, bedingt durch die die physische Disposition des Schriftstellers, schon vor Corona einsetzte, aber auch nachher anhält. Dies verstärkt eine Poetik, die er in seinen Essays verfolgt: Schrift eröffnet einen Ausgang in die Welt, dort wo sie Text bildet, aber auch Bild ist. So ist Schrift Ausweg aus einem politischen Eingeschlossensein, aber auch aus einer Situation, in der das Eingeschlossensein gesundheitlich bedingt ist. Schreiben ist in beiden Situationen Selbstbehauptung, Vergewisserung der eigenen Anwesenheit in der Welt und zwischen den Texten. Kuhlbrodts Texte bewegen sich mit Hamann und Derrida in der jüngeren und jüngsten Philosophiegeschichte, blicken bei Elke Erb, Felix Philipp Ingold und Oleg Jurjew auf Gedichte oder eine in Romanen vorgestellte Welt, sie entwerfen Thesen, um sich in der papiernen realen Welt bewegen zu können. Und sie setzen das Gelesene und Geschriebene in einen historischen aber auch biografischen Kontext.

Zitat: „Welche Bücher würdest du verbieten? Meine! Die Frage, welche Bücher ich verbieten würde, lässt den Aufklärer in mir zusammenzucken. Natürlich keines, wäre die politisch korrekte Antwort, weil jedes Verbot den jeweiligen Text einem potentiellen Diskurs entzieht; durch ein Verbot wird ein Text vom Markt gewischt, ökonomisch und inhaltlich. Zumindest könnte man das meinen. In einer Demokratie, wo die Freiheit des Wortes gilt, sollte also ein Verbot von Büchern sich selbst verbieten. Allerdings sorgt diese Freiheit auch dafür, dass so manches Wort ungehört verhallt, und andere bleiben unwidersprochen, auch wenn sie den krudesten Blödsinn verbreiten. Aber so einfach ist das nicht. …“

Jan Kuhlbrodt – Schrift unter Tage
Gans Verlag
ET April 2023 | 168 Seiten | DIN A5
Fadenbindung | Klappenbroschur
Buchreihe: Gegenwarten Wissenschaft, Band 2
Preis: 29,90 EUR (D)
ISBN: 978-3-946392-29-3


Zum Autor:

Bild: Nelly Tragousti

Jan Kuhlbrodt studierte politische Ökonomie an der Universität Leipzig sowie Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt am Main. Von 1997 bis 2001 absolvierte er außerdem ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Von 2007 bis 2010 war er Geschäftsführer der Literaturzeitschrift Edit, Lehrbeauftragter an der Hochschule  Leipzig und Gastprofessor am Deutschen Literaturinstitut. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Leipzig.

Jan Kuhlbrodt ist Verfasser von erzählenden Werken, Essays, Gedichten, Theaterstücken sowie eines Blogs. Er erhielt u. a. 2007 ein Stipendium des Autorenförderungsprogramms der Stiftung Niedersachsen sowie 2014 den Sächsischen Literaturpreis. 

Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag.

STANISLAW BARANCZAK: Ethik & Poetik

Stanisław Barańczaks Essaysammlung Ethik&Poetik ist das Zeugnis eines literarischen und kritischen Ringens mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts – ein Ringen um die Literatur und deren erhofften Rolle bei der Wiederherstellung eines ethischen Wertesystems. Der Band liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor.

Bewegt von der ernsthaften Sorge um die ethische Integrität von Literatur, die immer dann am stärksten gefährdet zu sein scheint, wenn Schriftsteller*innen in die Klauen der Politik geraten und zwischen Gehorsam und Widerstand wählen müssen, ist Stanisław Barańczaks frühe Essaysammlung Ethik und Poetik (EA 1979) das Zeugnis eines literarischen und kritischen Ringens mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts – ein Ringen um die Literatur und deren erhofften Rolle bei der Wiederherstellung eines ethischen Wertesystems. An Klassikern wie Thomas Mann, Ossip Mandelstam, Dietrich Bonhoeffer, Czesław Miłosz, Miron Białoszewski, Wisława Szymborska, Zbigniew Herbert und anderen mehr zeichnet Barańczak in “Ethik&Poetik” jene poetischen Überzeugungen nach, für die deren Autor*innen mit Schreibverbot, Exil oder Tod bezahlen mussten.

„Auf dem großen Gruppenfoto des polnischen Geistes im 20. Jahrhundert, wie wir es kennen, war immer eine Leerstelle, ein weißer Fleck: Er war für Stanisław Barańczak reserviert, den leidenschaftlichen Dichter, Denker, Übersetzer und Essayisten – sowie politischen Aktivisten bereits vor der Solidarność-Zeit. Zusammen mit Ryszard Krynicki, Adam Zagajewski, Julian Kornhauser, Ewa Lipska und anderen bildete er eine „neue Welle“ der polnischen Kultur, in der Ethik und Ästhetik einen unauflöslichen Pakt eingegangen waren. Zu meiner großen Freude erscheint nun die erste Auswahl von Barańczaks Arbeiten in deutscher Sprache. Wer diesen gastfreundlichen Intellektuellen Nimmersatt nicht mehr persönlich kennenlernen konnte, hat nun endlich Gelegenheit, ihm über seine Arbeit näherzukommen. Und das Gruppenfoto ist nun (fast) vollständig“ schreibt Michael Krüger, einer der Herausgeber zu diesem Buch, das nun in der Edition Faust erschienen ist.

Stanisław Barańczak wurde 1946 in Posen geboren. Er studierte Polonistik an der Adam-Mickiewicz-Universität, an der er 1973 mit einer Dissertation über Miron Białoszewski promovierte. Sein Debüt als Dichter lieferte er bereits 1965. Er gehörte 1976 zu den Gründern des KOR (Komitee zur Verteidigung der Arbeiter). Der prominente Vertreter der polnischen Neuen Welle / Generation 68 gilt als einer der bedeutendsten Lyriker, Übersetzer und Essayisten der polnischen Gegenwartsliteratur und wurde mehrfach national wie international prämiert. Stanisław Barańczak ist 2014 in Newtonville, Massachusetts, gestorben.


Informationen zum Buch:

Stanisław Barańczak
Ethik und Poetik
Essays
Herausgegeben von Alexandru Bulucz, Ewa Czerwiakowski, Michael Krüger
Aus dem Polnischen von Jakub Gawlik undMateusz Gawlik
Mit einem Vorwort von Adam Zagajewski und einem Nachwort von Krzysztof Biedrzycki
Broschur, 416 Seiten, € 28,–
ISBN 978-3-945400-46-3
https://editionfaust.de/produkt/ethik-und-poetik/


Stimmen zum Buch:

“Das ist schließlich das große Wunder mutiger und aufrichtiger Menschen, zu denen wir Baranczak zählen dürfen: Jahrzehntelange allumfassende Propaganda konnte nicht verhindern, dass sie existieren, sich entwickeln und aufklärerisch tätig werden; und das heißt, dass es unter allen Umständen immer Hoffnung gibt, so düster die Gegenwart auch aussehen mag. Baranczak war mit seiner Kritik am kommunistischen Polen, die er in seinen vielen Texten übt, ein ethischer Visionär: Er wusste, dass er auf der Seite der Guten steht, und dass seine Sache eines Tages notwendig gewinnen musste.” – Arne-Wigand Baganz


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag.