Karen Gershon: Das Unterkind

Käthe Loewenthal gelangte 1938 noch mit einem der letzten Kindertransporte nach England. Dort wurde sie als Schriftstellerin Karen Gershon bekannt. Doch es dauerte Jahrzehnte, bis sie eine Form für die Erzählung ihrer Kindheit fand.

„Sie hatte ihren Koffer auf die Erde gestellt, damit sie die Hände frei hatte, um ihre Mutter zu umarmen – weil das von ihr erwartet wurde, nicht weil ihr danach zumute war. (…) Und als sie sich umsah, stand Lise noch bei ihrer Mutter, ihr fiel es schwerer als Käthe, sich von ihr zu trennen, und das machte Käthe deutlich, dass sie es verpasst hatte, genug Trennungsschmerz zu zeigen.“

Karen Gershon: “Das Unterkind”


Der Trennungsschmerz wird Käthe Loewenthal später mit voller Wucht treffen. Er wird sie ihr ganzes Leben lang begleiten. Käthe ist 15, als sie mit ihrer Schwester Lise mit einem der letzten Kindertransporte den Nationalsozialisten nach England entkommt. Auch ihrer älteren Schwester Anne wird die Flucht noch gelingen. Aber die Mädchen ahnen nicht, dass sie ihre Eltern Paul und Selma nie wiedersehen werden. Paul verstirbt vermutlich in Riga, Selma kommt wahrscheinlich im Konzentrationslager Auschwitz um.

Der Verlust der Familie, der Heimat, der plötzliche Abschied: All das trägt Käthe, die sich später Karen Gershon nennt, mit sich herum. Sie trägt, wie sie es auch in ihrer Autobiographie ausdrückt, an der Schuld der Überlebenden. Es prägt ihre Beziehungen, nicht zuletzt auch zur ein Jahr älteren Lise (Anne verstirbt früh in London an einer Krankheit):

„Jede lebte, als wäre sie die einzige Überlebende, beinahe als wäre die andere auch gestorben.“

Käthe Loewenthal, die bereits als Jugendliche mit Gedichten in der Jüdischen Rundschau ihr schriftstellerisches Talent beweist, wird später unter ihrem neuen Namen Karen Gershon mit einigen Lyrikbänden, Romanen und der 1966 erschienen kollektiven Autobiographie „Wir kamen als Kinder“ bekannt.

Erst nach Jahrzehnten kann sie über ihre Kindheit schreiben

Aber es wird Jahrzehnte dauern, bis sie in der Lage ist, die Geschichte ihrer eigenen Kindheit und Jugend bis zum Tag der Flucht im Jahr 1938 autobiographisch zu erzählen. Immer wieder arbeitet sie das Manuskript um, ringt mit der Form, mit dem Ausdruck. Sie entschließt sich, die Erinnerungen nicht in der Ich-Form zu verfassen, sondern eine (notwendige) Distanz zwischen sich und die Erzählerin zu bringen. Es ist Käthe, die von der wohlbehüteten Kindheit in einer zunächst gut situierten Familie erzählt, von der zunehmenden Ausgrenzung, der damit einhergehenden Armut und sozialen Isolation. Karen Gershon sagte dazu:

„Das ist eine Autobiografie, von mir so wahrheitsgetreu wie möglich erzählt.  Ich war nur nicht in der Lage, über mich selbst in der ersten Person zu schreiben. Käthe, das bin ich, so hieß ich in meiner Kindheit.“

„A lesser child“ erscheint 1992 im Rowohlt Verlag und erst ein Jahr nach ihrem Tod in einer englischsprachigen Ausgabe. Das lange vergriffene Buch wurde nun in der ursprünglichen Übersetzung von Sigrid Daub beim Lilienfeld Verlag wieder aufgelegt. Man muss dem Verlag dafür danken: Denn ähnlich wie Victor Klemperers Tagebücher lässt diese Autobiographie nachvollziehen, wie die Welt für die deutschen Jüdinnen und Juden ab 1933 täglich ein Stück enger und dunkler und die Luft zum Atmen stetig dünner wird. Und obwohl sich der Antisemitismus steigert und die jüdische Bevölkerung insbesondere nach dem Erlass der Rassengesetze offener Verfolgung ausgesetzt ist, glauben auch Käthe und viele ihrer Angehörigen noch nicht, dass eine Steigerung dieses Hasses möglich sei:

„Bis sie zwölf Jahre alt war, glaubte Käthe, das Unheil, das ihr widerfuhr, weil sie Jüdin war, würde innerhalb der Grenzen des Erträglichen bleiben.“

Als die älteste Schwester Anne mit dem Gedanken spielt, Zionistin zu werden, verwirft sie dieses wieder. Sie sei deutscher als der Österreicher Hitler, und lasse sich von den Nazis nicht nach Österreich vertreiben:

„Zu der Zeit glaubte niemand, dass die übrigen Deutschen den Nazis einfach erlauben würden, mit den Juden zu machen, was sie wollen.“

Es sind die Wechsel zwischen den Szenen einer „ganz normalen“ Kindheit und Jugend mit all ihren Freuden und Nöten – der Zusammenhalt und die Rivalität zwischen den drei Schwestern, den kindlichen Spielen, die Freude an Festen und Familientreffen, das Entdecken eigener Talente, das erste Verliebtsein – und den Eindrücken von einer immer bedrohlicher werdenden Außenwelt, die diese Erzählung so eindrucksvoll und bedrückend zugleich machen.

Ein wertvolles Zeitdokument

Der Erzählton ist spröde und verstärkt den Charakter eines Dokuments, das aus der Distanz einen nüchternen Blick auf die Vergangenheit wirft. Immer wieder ergänzt Karen Gershon kommentarlos Erzählungen von Verwandten und Freunden mit einem Satz zu deren späteren Schicksal, fügt nüchtern an, in welchem Konzentrationslager die jeweiligen Personen ermordet wurden oder wo sie verschwanden.

Aber auch ihre eigene Persönlichkeit und Entwicklung betrachtet sie aus der Position des Alters mit nüchterner Strenge:

„Ihre buschigen Augenbrauen waren eng zusammengezogen: ein Mädchen, das für seine Jahre zu alt war, dem das Talent zu leben fehlte und das sich selbst ernster nahm, als ihm guttat.“

Sie, die jüngste der drei Schwestern, fühlt sich schon vor ihrem zehnten Lebensjahr, als die Nazis an die Macht kamen, als „Unterkind“:

„(…) sie selbst hetzt sich ab, physisch, aber auch im übertragenen Sinn, um ihre Schwestern einzuholen. Die Tatsache, dass es ihr nie gelang, hat sie wohl zu der Überzeugung gebracht, ein Unterkind zu sein (…)“

Durch die Machtergreifung wird dieses Unterkind-Gefühl quasi verdoppelt, erlebt Käthe den Bruch von Freundschaften, weil Arier nicht mehr mit Juden verkehren dürfen oder auch wollen, die zunehmenden Verbote, den Ausschluss aus der evangelischen Schule. Auch im jüdischen Landschulheim Herrlingen – eine von drei Einrichtungen dieser Art, die von den Nationalsozialisten noch bis 1939 geduldet wurden – verliert Käthe, wo sie fernab der Familie noch einige Zeit Schulunterricht erhalten kann, dieses „Unterkind“-Gefühl nicht, misst sich mit anderen Schülern und fühlt sich unter Wert:

„(…) sondern auch weil Käthe das, was sie konnte, immer für weniger wichtig hielt als das, was sie nicht konnte.“

Die Reflektionen über diese Käthe mit ihren ganzen Eigenheiten aus der zeitlichen Distanz heraus machen dieses Buch auch zu einem besonderen Stück Literatur über das Heranwachsen eines Mädchens in bedrückenden Zeiten.

Zumindest erlebt Käthe durch den Aufenthalt in Herrlingen noch eine Gemeinschaft mit gleichaltrigen Jugendlichen, erhält sogar ein Zertifikat zur Einwanderung für Palästina, als die Reichspogromnacht auf einen Schlag hin die Situation für die deutschen Juden nochmals verschärft. Zu den bedrückendsten Szenen des Buches gehört es, wie Käthe diese Nacht und den darauffolgenden Tag in Bielefeld erlebt, wie die jüdische Gemeinschaft ängstlich zusammenrückt, wie man hinter verschlossenen Türen und Fenstern versucht, sich Halt zu geben.

Flucht nach der Reichspogromnacht

Nach dieser furchtbaren Nacht beschließen die Eltern, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Der Abschied von Kindheit und Jugend geht für Käthe und Lise rasend schnell. Das Buch schließt mit einem letzten Blick auf Bielefeld, ein Name, der für Karen Gershon ihr Leben lang für den großen Verlust, den sie erfahren musste, steht:

„Unmittelbar nachdem der Zug den Bahnhof verlassen hatte, kam rechts der jüdische Friedhof. Dann folgte links das Symbol Bielefelds, die Burg Sparrenberg, aber vorher noch auf der gleichen Seite die Puddingpulverfabrik von Oetker. Ihr Geruch, ein Geruch, der zu ihrer Kindheit gehörte, umgab sie, bis all die vertrauten Gegenden – Brackwede, der Wald, die Heide – hinter ihnen lagen.“


Bibliographische Angaben:

Karen Gershon
Das Unterkind
Übersetzt von Sigrid Daub
Lilienfeld Verlag, 2023
ISBN 978-3-940357-97-7

Gabriele Tergit: Effingers

„Effingers“, das ist ein gewaltiger Familienroman, ein deutsches Epos, ein Berlinroman, lebendige Geschichtsschreibung am Beispiel zweier fiktiver Familien.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„(…) Ben ist Engländer. Er hat sich naturalisieren lassen.“
„Das finde ich aber merkwürdig. Ich war doch schließlich ein politischer Emigrant und habe meinen Weg in Frankreich gemacht, aber ich bin nie auf die Idee gekommen, ich könnte mich naturalisieren lassen, trotzdem ich die herrlichen Jahre des zweiten Kaiserreichs dort verlebte.“
„Wir fanden das auch merkwürdig von Ben, aber Ben hat in Bezug auf Deutschland und besonders auf den Antisemitismus so seine Ansichten.“
„Ach, man soll doch das nicht so überschätzen. In Berlin, wissen Sie, kommen alle möglichen Bewegungen hoch und verschwinden wieder. Es geht uns doch nichts an, wenn eine minderwertige kleine Partei uns nicht zu den Deutschen rechnen will. Die Hauptsache ist, daß wir uns als Deutsche fühlen.“

Gabriele Tergit, „Effingers“


Emmanuel Oppner, einer der Grandseigneure dieses Romans, wird es glücklicherweise nicht mehr erleben, wie sehr er sich täuscht. Er verstirbt 1908, noch in seinem Bett. Seinen Nachfahren, man weiß es aus der Geschichte, wird ein anderes Schicksal zuteil.

Thea Dorn schwärmte im „Literarischen Quartett“ von diesem Buch und Nicole Henneberg schreibt in ihrem Nachwort zu längst fälligen Wiederausgabe: „Was für ein großartiger Roman!“. Dem kam man mit keiner Silbe widersprechen: „Effingers“, das ist ein gewaltiger Familienroman, ein deutsches Epos, ein Generationenbuch, ein Berlinroman, lebendige Geschichtsschreibung am Beispiel zweier fiktiver Familien. Viel hat Gabriele Tergit (1894 – 1982), die wendige und intelligente Gerichtsreporterin und Autorin, dem Schicksal ihrer Familie entliehen, vieles, was sie beschreibt, kennt sie aus ihrem Erleben und ihrem Milieu: Und das macht dieses Buch so groß- und einzigartig.

Opulenter Generationenroman

Erzählt wird die Geschichte zweier Familien über mehrere Generationen hinweg, vom Kaiserreich über die Kriegsjahre und die kurze Zeit der Weimarer Republik bis hin zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Beide, sowohl die Effingers, die ursprünglich aus einem kleinen Handwerkerbetrieb in Süddeutschland kommen, als auch die Oppners, eine alteingesessene Bankiersfamilie, sind jüdischer Herkunft. Doch Religion und Zugehörigkeit spielen in ihrem Alltag meist eine nachrangige Rolle – in erster Linie sind sie deutsche Bürger.

Verglichen mit den Buddenbrooks

Der vielfach angeführte Vergleich mit den Buddenbrooks kommt nicht von ungefähr: Tergit erzählt auf diesen rund 900 Seiten vom Aufstieg und Fall einer Familie. Doch ihr Blick, ihr Tonfall ist ein ganz anderer als der Mann`sche: Weniger prätentiös, lebendiger, dialogreich, voller Verve, voller Wärme und Witz. Sie mag ihre Figuren, selbst mit deren Schattenseiten. Und davon gibt es viele genug: Denn mit dem Wandel der Zeiten, mit dem zunehmenden Reichtum und dem nachfolgenden Absturz kommen nicht alle gleichermaßen zurecht. Zudem wird die Orientierungslosigkeit, die Sinnentleerung, das Suchen nach Werten und einem Halt gerade der jungen Zwischenkriegsgeneration greifbar: Die alten Traditionen zählen nicht mehr, was kommen wird ist ungewiss.

Jens Bisky schreibt in seiner Besprechung in der Süddeutschen Zeitung:
„Dieser große Roman des zwanzigsten Jahrhunderts ist in vielem außergewöhnlich. Historisch glänzend informiert, aber nie belehrend vergegenwärtigt Gabriele Tergit ein Panorama der Berliner Geschichte zwischen Reichsgründung und Zerstörung der Stadt. Ihre Bankiers und Unternehmer sind, was selten ist in der deutschen Literatur, keine Karikaturen, vielmehr ehrliche, irrende, mehr oder weniger gescheite Geschäftsleute.“

Jüdische Lebenswelt detailliert geschildert

Diese Wahrhaftigkeit, diese realitätsgetreue Schilderung ist es, die mich an diesem Roman so zu begeistern mochte: Die Figuren des Romans werden beim Lesen zu Menschen, die man sich beinahe bildhaft vergegenwärtigen kann, man lebt mit ihnen, man lacht und leidet mit ihnen. Am Ende ist man erleichtert, dass es dem lebenslustigen Paar Lotte und Erwin gelingt, in das Exil zu flüchten, am Ende ist man traurig und wütend, weil der hochbetagte Waldemar – ein liberal gesinnter Jurist, lebensklug und weise, wenig anfällig für die Ideologien seiner Zeit – von den Nazischergen verschleppt wird.

In keinem anderen Roman habe ich so viel nicht nur über die Lebenswelt deutscher Juden, die von den Nationalsozialisten zerstört wurde, sondern überhaupt über die Mentalität und Gedankenwelt dieser Zeit erfahren. Denn noch eines unterscheidet die „Effingers“ von den „Buddenbrooks“: Der Roman ist noch viel weitgehender in das gesellschaftliche und politische Geschehen verankert.

Herauszuheben ist auch, dass das Buch im Grunde ein Buch der Frauen ist: Es zeigt, wie sich deren Rolle ändert – es reicht von der Welt der in Konventionen erstarrten Bankiersgattinnen Selma und Eugenie bis hin zu den jungen Frauen, die zwischen Anpassung an das Alte und Selbstbestimmung hin- und hergerissen sind.

Dass Gabriele Tergit so realitätsgenau schrieb, dass sie ihre Menschen als Menschen beschrieb, mit ihren Stärken und Charakterfehlern, dies war für die Veröffentlichung ihres Roman, den sie bereits in Berlin begann und an dem sie dann im Exil noch Jahre schrieb, in den 1950er-Jahren ein Hindernisgrund: Im Nachkriegsdeutschland wollte man solche Bücher nicht. Das Buch erschien zunächst nur in gekürzter Fassung und dann erst in den späten 1970er-Jahren im Zuge einer späten Wiederentdeckung der Autorin.

Dass der Schöffling Verlag es nun wieder herausgebracht hat, ist eine literarische Wohltat. Und einmal mehr kann ich mich nur der Aussage von Thea Dorn anschließen: „Dass dieses Buch nicht längst ein fester Bestandteil des deutschen literarischen Kanons ist, halte ich für einen Skandal.“


Bibliographische Angaben:

Gabriele Tergit
Effingers
Schöffling & Co., 2019
28, 00 Euro, 904 Seiten, gebunden, Lesebändchen
ISBN 978-3-89561-493-4

Albert Drach: Das Goggelbuch

Albert Drach (1902 – 1995) gilt als ein Autor, der nur noch von Liebhabern gelesen wird. Was zu bedauern ist: Sein Stil ist prägnant und beeindruckend.

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„Der Hauptmann fragt ihn um seine Nation und erfährt, dass er ein Deutscher ist. Er meint nun, dann bleibe er besser hier, wenn er ein richtiger Kerl sei, hier seien viele Landsleute, soferne es ihm nämlich gleich sei, für welchen Fetzen Fahne er fechte, er brauche deshalb noch lange nicht protestantisch zu werden. Goggel sieht das bald ein, zumal es ihn besser dünkt, für den Feind zu kämpfen, als bei diesem gefangen zu sein.“

Albert Drach, “Das Goggelbuch”, 1942

Der Autor und Anwalt Albert Drach (1902 – 1995) gilt gemeinhin als einer, der allenfalls noch von Literaturwissenschaftlern und einer engen Liebhabergemeinde gelesen wird. Sehr schade wäre das. Denn der schreibende Rechtsanwalt entwickelte einen ganz eigenen Stil, geprägt durch seinen Beruf, einen trockenen, nur auf den ersten Blick spröden „Protokollstil“, der durchdrungen ist von feinster Ironie. Als sein Hauptwerk gilt „Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum“, verfasst 1939, erschienen erst 1964. Der Unglücksrabe Schmul Zwetschkenbaum, ein umherziehender Talmud-Schüler, gerät in die Fänge der österreichischen Justiz. Was ihm dort geschieht, geschieht ihm, weil er Jude ist – so ist der Roman eine intelligente, schonungslose Abrechnung mit dem Antisemitismus, der sich zugleich der Sprache der österreichischen Justiz bedient.

Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten entstanden

Für Drach-Einsteiger sei jedoch „Das Goggelbuch“ empfohlen, eine Erzählung, die 1942 entstand, als Albert Drach, der vier Jahre zuvor aus Österreich vor den Nazis geflohen war, sich in Frankreich befand und befürchten musste, dass ihn der „Teufel“ in Gestalt der braunen Schergen auch dort aufspüren würde. Erzählt wird die Geschichte des Xaver Johann Gottgetreu Goggel, der im 16. Jahrhundert zwei sinistren Herren dient, der nach oben katzbuckelt, nach unten tritt und auf seinem Weg durch halb Europa jedwede Untat begeht. Eine Posse, die zahlreiche Volten schlägt. Es folgt ein Strudel an Ereignissen – am Ende spuckt ein Spiegel den gewissenslosen Opportunisten Goggel, der dem Teufel diente und dabei höchstselbst zum Teufel ward, „frisch und neu wie eine unbefleckte Jungfrau“ wieder aus. Auch in dieser Erzählung fand Albert Drach zu einer ganz eigenen Sprache – protokollhaft, ironisch, aber auch – der erzählten Zeit angemessen – derb und direkt.

Ein Beispiel dafür ist Goggels „Trutzwetterlied“:

Und kotzt das Wetter mir bös ins Maul
Und furzt gar furchtbar und wuchtig der Sturm,
Krau ich ihm die Augen mit den Eisen vom Gaul,
Wind ich ihm in den Hintern den Kolben als Wurm.
Hurrah!

Und die Moral von der Geschicht`? Goggel sprich Opportunisten fallen immer wieder auf die Füße – sei es zur Zeit der Glaubenskriege, sei es zur Zeit des Nationalsozialismus, sei es heutzutage …

Informationen zum Buch:

Albert Drach
Das Goggelbuch
Zsolnay Verlag, 2011
ISBN: 978-3-552-05548-3

Tadeusz Pankiewicz: Die Apotheke im Krakauer Ghetto

Tadeusz Pankiewicz war als Apotheker der einzige nichtjüdische Bewohner des Krakauer Ghettos. Sein Buch ist ein erschütterndes Zeitdokument.

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Bild von Tomasz Pro auf Pixabay

„In dieser kleinen Straße kamen viele Menschen um. Von der Mauer des dort gelegenen Wohnhauses, direkt meinen Fenstern gegenüber, müssen sich alte Menschen aufstellen und werden erschossen. Es sind überwiegend diejenigen, die man aus ihren Verstecken gezogen hat. An einer anderen Seite des Platzes schießen sie auf Kinder. Darin sind die Deutschen einzigartig: Auch wenn es um Verbrechen geht, ihre Planungen halten sie genauestens ein.“

Tadeusz Pankiewicz, „Die Apotheke im Krakauer Ghetto“


Als die Deutschen 1939 im September 1939 in Krakau einmarschierten, dauerte es nicht lange, bis sie auch mit ihrer systematischen und gnadenlosen Verfolgung der jüdischen Bevölkerung begannen. 1941 wurde im Stadtteil Podgórze, in dem ursprünglich rund 3.000 Menschen lebten, das Krakauer Ghetto errichtet. In dem Bezirk am rechten Weichselufer wurden bis zu 20.000 Menschen zusammengepfercht und wie Arbeitssklaven gehalten. Die wenigsten dieser Menschen überlebten diesen Hass: Krakau, heute wieder zweitgrößte Stadt Polens, verlor unter den Nationalsozialisten seine komplette jüdische Gemeinde, insgesamt fielen dem Terror der Nazis fast die Hälfte der Bevölkerung zum Opfer.

Polen war der Zutritt zum Ghetto verboten. Nur ein nichtjüdischer Krakauer wird zum ständigen Ghettobewohner: Tadeusz Pankiewicz (1908 – 1993), dessen Apotheke „Pod Orlem“ (Unter dem Adler) in Podgórze liegt. Mit Schmiergeld und Bestechungen gelingt es dem Pharmazeuten, eine Verlegung der Apotheke zu verhindern – und so wird Pankiewicz Augenzeuge der grausamen Vorgänge im Ghetto von dessen Errichtung bis zu seiner vollständigen Auflösung Ende 1943.

Ein ergreifendes Zeitdokument

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hält er seine Erinnerungen schriftlich fest: „Die Apotheke im Krakauer Ghetto“ ist ein ergreifendes, erschütterndes Zeitdokument, das zeigt, was geschieht, wenn Menschen von anderen Menschen entmenschlicht werden. Ein Buch, das in diesen Tagen von besonderer Bedeutung ist, da Menschlichkeit gegenüber einer ganzen Gruppe von Menschen auf der Strecke zu bleiben droht.

Ignatz Bubis schrieb in seinem Vorwort zu diesem Buch:

„Es ist sein Verdienst (Tadeusz Pankiewicz), das Geschehen im Krakauer Ghetto vor dem Vergessen bewahrt zu haben. Die Erinnerung daran schulden wir den Opfern, aber auch uns und künftigen Generationen, denen es erspart bleiben soll, ähnliche Schrecken zu durchleben.“

Das Buch ist als Zeitdokument eine Mahnung und ein Mutmacher zugleich: Denn Pankiewicz, der später mit dem Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet wird, setzt täglich uneigennützig sein Leben aufs Spiel, um den Menschen im Ghetto zu helfen. So wird die Apotheke zum Umschlagsplatz für Nachrichten an Freunde und Bekannte außerhalb des Ghettos, zum Unterschlupf und Treffpunkt, zur Nachrichtenbörse. Wo es möglich ist, hilft der Apotheker mit kostenlosen Medikamenten, mit Essen, er verschafft notwendige Papiere, versteckt die Kostbarkeiten aus der Synagoge, kurzum: Er hilft, wo er kann.

Das Krakauer Ghetto wird zur Stadt der Toten

Ihm brennen sich die Bilder des sadistischen, beinahe rauschhaften Tötens bei den Räumungen des Ghettos, das sich von Mal zu Mal steigert, unauslöschlich ein. Am Fenster seiner Apotheke wird er Zeuge, wie Gestapo und SS sowie ihre Schergen Menschen peinigen. Er schreibt über „Die Stadt der Toten“:

„Seit der Auflösung des Ghettos hat die Existenz der Apotheke ihren Sinn verloren. Es kam mir so vor, als wäre ich nach zweieinhalb Jahren im Ghetto umgesiedelt worden in ein Land der Toten, in ein von Menschen geräumtes Städtchen, wo der Widerhall der Schritte in den ausgestorbenen Straßen Angst weckt und wo der Anblick eines Menschen, der vorübergeht, einem einen Schauer über den Rücken jagt. In den so eng bewohnten Häusern und auf den Straßen, wo es noch vor einigen Stunden von Menschen wimmelte, herrschte Leere. Der Hauch des Todes wehte durch die Straßen und streifte jedes Haus und jede Wohnung.“

Pankiewicz, der sich selbst in seinem Buch sehr zurücknimmt, aus dessen Zeilen einfach eine Vornehmheit der Haltung sprechen, schreibt in einem späteren Vorwort:

„Die Apotheke im Krakauer Ghetto wirft meiner Meinung auch ein zusätzliches Licht auf die Mechanismen, die der Haltung und dem Verhalten zugrunde liegen, welches Menschen in Situationen der Bedrohung, des Schreckens und im Moment ihres Untergangs zeigen, aber auch auf das Verhalten derjenigen, die die Verursacher dieses Unheils waren. Das Buch kann einen Beitrag zur Erkenntnis über die Psychologie des Verbrechers und seines Opfers liefern.“

Die Verbrecher zeigen vor allem eines: Vollkommene Empathielosigkeit gegenüber ihren Opfern. Und es ist erschreckend festzustellen, dass diese Entmenschlichung anderer aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Rasse, ihrer Religion genau jetzt wieder geschieht, jetzt wieder um sich greift.


Tadeusz Pankiewicz, „Die Apotheke im Krakauer Ghetto“, 1947, neu aufgelegt 2017 von Jupp Schluttenhofer, Friedberg.

Die Entstehungsgeschichte der Neuauflage dieses wichtigen Zeitdokuments ist hervorzuheben: Das Buch erschien erstmals 1995 in deutscher Übersetzung durch Manuela Freudenfeld. Inzwischen war es nur noch antiquarisch zu haben. Ein Privatmann hat es nun auf eigene Initiative hin wieder zugänglich gemacht – unterstützt von Sarah und Benno Käsmayr vom MaroVerlag wurde Jupp Schluttenhofer zum Verleger und brachte „Die Apotheke im Krakauer Ghetto“ in einer Auflage von zunächst 1.500 Stück heraus.

Die Homepage zum Buch:  http://www.die-apotheke-im-krakauer-ghetto.de/

Oliver Hilmes: Berlin 1936

“Berlin 1936” – ein Beispiel des inzwischen so populären “Geschichtsbuchs light”. Das Buch bietet viele Anekdoten, aber keine vertiefte Auseinandersetzung.

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„Und Adolf Hitler? Der Reichskanzler nimmt an dem Empfang seiner Regierung nicht teil. Wie alles in diesen Olympiatagen, so ist auch Hitlers Fernbleiben Teil einer Inszenierung. Er kultiviert das Bild des unermüdlich arbeitenden „Führers“ und treusorgenden Übervaters, dem Amüsement und Geselligkeiten nichts bedeuten. Hitlers Popularität erreicht im Sommer 1936 einen Höhepunkt und wirkt nun auch tief in die Arbeiterschaft hinein.“

Oliver Hilmes, „Berlin 1936. 16 Tage im August“


Geschichtsvermittlung, die zum Pageturner wird? Barbara Tuchmann kann es, Bill Bryson kann es und Florian Illies gelang mit seinem „1913- Der Sommer des Jahrhunderts“ ein Bestseller. An dem aktuellen Olympia-Buch des Historikers und Publizisten Hilmes erinnert nicht nur der Titel an den Illies-Coup – auch das Rezept ist ein ähnliches: Man nehme ein Ereignis, einen Zeitraum, eine Epoche, gruppiere um eine These eine Fülle von dokumentierten Anekdoten rund um mehr oder wenige berühmte Zeitgenossen und runde diese populäre Art der Geschichtsvermittlung durch einen gut lesbaren Erzählstil ab.

Geschichtsbuch light

Das perfekte Rezept für ein lesbares Geschichtsbuch light. Die Frage ist also nicht, ob man es lesen kann – ja, man kann, Hilmes ist ein geschickter Erzähler. Auch wenn der etwas redundante Hinweis darauf, dass sich „in wenigen Tagen“ das Schicksal von XY „ändern“ wird, die fröhlichen Tage überhaupt gezählt sind und bald ein Ende haben werden, mich als Leserin eher ärgert – Hilmes hätte es nicht nötig gehabt, durch solche Kniffe seine Leser bei der Stange zu halten.

Die Frage jedoch ist: Muss man es lesen? Während Illies, um das „Sommer-1913-Buch“ als Vergleichsmaßstab anzulegen, seine Anekdoten-Sammlung geschickt um eine These knüpft – nämlich jene, dass sich am Vorabend des Ersten Weltkrieges an unterschiedlichen Orten und Plätzen der Welt Künstler aller Genres zu kreativen Höhenflügen aufmachten, bevor die Götterdämmerung eintraf – so fehlt es dem Buch von Hilmes im Grunde an einem Überbau, einer neuen Idee, einer neuen Erkenntnis, die es zu den Olympischen Spielen im Nazi-Regime geben könnte. Und dadurch ist es, wenngleich auch gut erzählt, am Ende doch nicht viel mehr als eine Anekdotensammlung – in der vieles angerissen, für meinen Geschmack aber zu wenig vertieft wird.

Olympiade als nationalsozialistische Leistungsschau

80 Jahre nach den sportlichen Wettkämpfen in Berlin ist dies flott erzählte Werk der Marke „Histotainment“ für den Verlag mit Sicherheit ein gelungener Marketingzug. Hilmes verknüpft mehrere Erzählstränge, die aus verschiedenen Perspektiven die Olympiade 1936, die nach Willen der Nazis eine Leistungs-Demonstration von Hitler-Deutschland und ein Festspiel der Propaganda werden sollte, beleuchten.

Während im Berliner Stadion die Athleten um Spitzenleistungen und Weltrekorde wetteifern, brüten in der Reichskanzlei Hitler und Konsorten bereits über Kriegsplänen und dem Bau von Konzentrationslagern (Joseph Goebbel in seinem Tagebuch: „Nach der Olympiade werden wir rabiat“). Der Schriftsteller Thomas Wolfe taumelt etwas orientierungs- und ahnungslos durch sein geliebtes Berlin, bis ihm, der selbst vom Antisemitismus amerikanischer Bauart angekränkelt ist, die Augen geöffnet werden über die wahren Absichten der menschenverachtenden Diktatur. Mascha Kaléko leidet derweil an Liebeskummer, Leni Riefenstahl überwallen erotische Gefühle im Stadion angesichts diverser Muskelpakete, während Martha Dodd, die Tochter des US-Botschafters um Penisse flattert „wie ein Schmetterling.“ Und in den Lokalen rund um den Kudamm noch einmal die „Roaring Twenties“ nachgeholt werden.

Einige substantielle Informationen fehlen

Weniger aus der Abteilung „Klatsch und Tratsch“ wäre in meinen Augen mehr gewesen – ich muss nicht unbedingt mit dem Schicksal jedes Gigolos, der mit dem Geld einer reichen Berlinerin einen Club eröffnet hatte, vertraut gemacht werden. Dagegen wären einige erläuternde Worte zum Schriftsteller Ernst von Salomon, der immerhin mehrfach zitiert wird, wünschenswert gewesen: So erweckt das wenige an Zitaten einen irreführenden Eindruck dieses Autoren, der immerhin in seiner Jugend am Rathenau-Mord beteiligt gewesen war. Und Gretel Bergmann, die jüdische Leistungssportlerin, die als „Alibi“ eigens für die Olympischen Spiele von den Nazis zurück nach Deutschland geholt wurde und dann doch nicht antreten durfte – sie wird nur in einem kurzen Absatz erwähnt.

Es mag nun kleinkariert erscheinen, solche Auslassungen aufzuzählen. Aber etwas mehr an mancher Stelle an vertiefendem Hintergrund, dafür an anderer Stelle Verzicht auf nur Angerissenes – und das Buch hätte an Substanz gewonnen.

Zwar gelingt Hilmes durch seine Verknüpfung von Sport& Politik, Kultur& Halbwelt und einigen Hinweisen auf die anhaltende Verfolgung von Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, politisch Andersdenkenden und Intellektuellen es durchaus, den widersprüchlichen Charakter dieser Berliner Tage vom 1. bis zum 16. August 1936 aufzuzeigen. Doch außer Atmosphäre lässt dieses Buch wenig zurück – ein Lesehäppchen, das vor allem anregt, Originaltexte über diese Olymiade 1936 und diese Zeit zu lesen.

Eine weitere Besprechung findet sich bei “Zeichen & Zeiten”.


Bibliographische Angaben:

Oliver Hilmes
Berlin 1936. 16 Tage im August
Siedler Verlag, 2016
ISBN: 978-3-8275-0059-5


Weiterführende Literatur:

 „Reisen ins Reich 1933 bis 1945“, Herausgeber Oliver Lubrich, Eichborn Verlag, 2004.

In dieser Sammlung mit dem Untertitel „Ausländische Autoren berichten aus Deutschland“ finden sich auch Texte der bei Hilmes oftmals erwähnten Diplomatentochter Martha Dodd wieder, die mit der Zeit und zunehmenden Erfahrungen mit der Nazi-Clique eine kritische Sicht auf die Dinge entwickelt. Später wird sie politisch aktiv und offenbar für den sowjetischen Geheimdienst tätig. Enthalten ist zudem die 1937 entstandene Kurznovelle von Thomas Wolfe, die auch im Hilmes-Buch Erwähnung findet: „I have a thing to tell you“. Wolfe schildert, wie bei seiner Ausreise aus Deutschland ein jüdischer Anwalt von den Nazis aus dem Zug gezerrt und verschleppt wird. Wolfe, Antisemit amerikanischer Machart und bis dahin großer Deutschland-Liebhaber, kehrt nie wieder in das „Reich“ zurück.
Neben zahlreichen kritischen bis hin zu entsetzten Stimmen beinhaltet dieses Buch auch Texte von Anhängern des Faschismus wie Svend Hedin und Wiking Jerk. Einige Namen, so Sartre und Camus, sind wohl mehr wegen ihrer Prominenz vertreten, ihre während der jeweiligen Deutschlandaufenthalte entstandenen Texte sind jedoch eher von geringer Aussagekraft über das „Dritte Reich“. Überraschend dagegen der frech-zynische George Simenon, der als Reporter unterwegs war („Hitler im Fahrstuhl“), spürbar wird die Beklemmung, die Virginia Woolf bei einer Reise durch Süddeutschland empfindet, Samuel Beckett berichtet voller Abscheu von seinen Erlebnissen mit den Deutschen.

Insgesamt sind 33 Autorinnen und Autoren in diesem Buch vertreten: Dadurch entsteht ein vielschichtiges, zeitgenössisches Bild vom Nationalsozialismus und den Deutschen, gesehen aus der Perspektive von außen.

Weitere Informationen  zum Buch bei „Die andere Bibliothek“.


„Ich war die große jüdische Hoffnung“, Gretel Bergmann, G. Braun Buchverlag

Gretel Bergmann, 1914 in Laupheim, Baden-Württemberg, geboren, war eine der besten deutschen Hochspringerinnen – und sie ist Jüdin (die alte Dame feierte vor wenigen Wochen ihren 102. Geburtstag!). 1933 tritt der Ariererlaß in Kraft: Die junge Sportlerin wird aus ihrem Verein ausgeschlossen, darf an keinen Wettkämpfen mehr teilnehmen, studieren darf sie auch nicht. So geht sie 1934 nach England – wo sie prompt britische Meisterin im Hochsprung wird. Als, wie es auch Hilmes schildert, die USA und andere mit dem Boykott der Olympiade drohen, sollten keine jüdischen Sportler zugelassen sein, holt man Gretel Bergmann unter Zwang „heim ins Reich“. Doch kurz vor den Wettspielen wird sie unter fadenscheinigen Gründen wieder ausgeschlossen – ihr Schicksal wurde verfilmt, wenn auch fiktional ziemlich „aufgepeppt“.

In ihrer temperamentvoll formulierten Autobiographie blickt die „verhinderte“ Olympiasiegerin auf diese Jahre zurück und ihre eigenen Ängste und Gewissensnöte zurück: Jeder Sieg bei den Wettbewerben vor der Olympiade war ein Sieg über „die Unlogik der bösartigen Theorien Hitlers“:
„Ich hatte triumphiert, hatte ihnen Trotz geboten, mich behauptet und auf ausgesprochen befriedigende Weise gerächt. Aber bei aller Euphorie hatte ich auch Angst.“

Erst später erkannte die junge Frau:
„Unter den wachsamen Augen der Auslandspresse und des Internationalen Olympischen Komitees mußte Hitler sein Versprechen halten. Ich war in gewisser Weise ihre Eintrittskarte, und deshalb konnte mir nichts passieren. Sie brauchten mich, um das Ziel einer Olympiade par excellence zu erreichen. Es war reine Ironie, dass ausgerechnet ich, die Jüdin, den Deutschen zu ihrer größten Stunde verhalf. Wie müssen sie mich gehasst haben!“


 „Memoiren“, Leni Riefenstahl, Knaus Verlag, 1937

Ganz anderer Art dagegen die Erinnerungen der Leni Riefenstahl, jene innovative Regisseurin, die sich in den Dienst der Nazis stellte. Vor den beiden Olympiafilmen „Fest der Völker“ und „Fest der Schönheit“ hatte die Riefenstahl schon mit ihren Propagandafilmen 1933 und 1934 dazu beigetragen, den Menschen bestimmte Bilder von Macht und Willen einzubrennen.
Auch die Ästhetik ihrer Olympiafilme ist, wenn auch in gewisser Weise faszinierend, so doch von diesen „herkulischen“ Typen geprägt, vermittelt ein ganz bestimmtes Bild. In ihren „Memoiren“ pflegt sie das Image der missverstandenen Künstlerin, zeigt sich uneinsichtig und wenig selbstreflektierend. Um Politik sei es ihr nie gegangen, sie habe nur für die Kunst, die Filmkunst an sich gelebt – was widersinnig ist, wenn Kunst in den Dienst politischer Propaganda gestellt wird. Die „Memoiren“: Verschriftlichte Lebenslügen, Selbstverleugnung, Verharmlosung – ich konnte die selbstverliebte Inszenierung kaum ertragen beim Lesen.


„Der Fragebogen“, Ernst von Salomon, Rowohlt Verlag, 1951

Interessanterweise war Ernst von Salomon (1902 – 1972) ein Freund des Verlegers Ernst Rowohlt (er wird in diesem Zusammenhang auch an der einen und anderen Stelle im Hilmes-Buch erwähnt), war zudem im Verlag zeitweise als Lektor tätig. Aber von Salomon war auch: In Jugendjahren Freikorps-Anhänger, am Kapp-Putsch und am Rathenau-Mord beteiligt, preußisch und großnational eingestimmt.
Durch sein „Preußentum“ und seine jüdische Lebensgefährtin war von Salomon zwar in Distanz zum Nationalsozialismus, aber doch Vertreter einer rechten, erzkonservativen Denkungsart. Deutlich wird dies an „Der Fragebogen“. Das Buch wurde nach seinem Erscheinen Anfang der 1950er Jahre zum Bestseller. Das traf wohl den Nerv der Zeit: Eine schwafelhafte Rechtfertigung für stramm rechtes Denken. Das Buch mag als Zeitdokument wichtig sein – mir selbst war zu viel von Preußentum etc. die Rede. Nach einem Viertel abgebrochen und in die Ecke gepfeffert.
Der Titel des Buches bezieht sich auf die Entnazifizierungs-Fragebögen in der amerikanischen Besatzungszone. Von Salomon greift dies formal auf und beantwortet die 131 Fragen, nutzt dies als Plattform für eine zurechtfrisierte Autobiographie.