MeinKlassiker (39): Kommunikatives Lesen mit Max Frisch

Alexander Carmele von “Kommunikatives Lesen” stellt in der Reihe “Mein Klassiker” einen Roman von Max Frisch vor. “Was macht ihr mit der Liebe” war zunächst der Arbeitstitel, als “Stiller” wurde das Buch zu einem Publikumserfolg und brachte Frisch den Durchbruch als Schriftsteller.

Seit 2021 bloggt Alexander Carmele bei “Kommunikatives Lesen über Literatur. Was seine Beiträge ausszeichnet, ist die tiefgehende Auseinandersetzung mit den einzelnen Werken, die durchaus auch manchmal zu mehrteiligen Interpretationen führen kann, siehe zuletzt der “Dreiteiler” zu “Unendlicher Spaß” von David Forster Wallace.
Über sich selbst sagt Alexander: “Ich blogge, um die Lesefreude mit anderen zu teilen und, so es geht, meine eigene und die der anderen durch Querverweise zu vertiefen. Ich blogge also aus reinem Privatvergnügen und bin erstaunt und auch beglückt, über die schöne Wechselwirkung und friedlich-freundliche Umgangsweise in der Literatur-Bloggerwelt.”
Sein Klassiker ist “Stiller” von Max Frisch: “In Stiller wirft er alles, was ihm als Schriftsteller zur Verfügung steht, in die Waagschale.”


Ein Gastbeitrag von Alexander Carmele

Mit Stiller gelang Max Frisch 1954 der Durchbruch als Schriftsteller, nachdem er bereits einige Prosatexte (u.a. Jürg Reinhart, Antwort aus der Stille) und Theaterstücke (u.a. Santa Cruz, Nun singen sie wieder, Die Chinesische Mauer) veröffentlicht hatte, die zwar allesamt vom Fachpublikum positiv aufgenommen, von der größeren Öffentlichkeit aber eher ignoriert wurden. Stiller dagegen wurde auf Anhieb ein Erfolg und war Suhrkamps erster Roman mit Millionenauflage. Er verhandelt die zentrale Frage, wie sich Individuen in einer ausdifferenzierten Gesellschaft gegenübertreten, wie sie kommunizieren, lieben, zu lieben versuchen, dabei scheitern oder erfolgreich sind, und beleuchtet damit literarisch das von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre aufgeworfene Problem von Essenz und Existenz:

Ja; – wer denn soll lesen, was ich in diese Hefte schreibe! Und doch, glaube ich, gibt es kein Schreiben ohne die Vorstellung, daß jemand es lese, und wäre dieser Jemand nur der Schreiber selbst. Dann frage ich mich auch: Kann man schreiben, ohne eine Rolle zu spielen? Man will sich selbst ein Fremder sein. Nicht in der Rolle, wohl aber in der unbewußten Entscheidung, welche Art von Rolle ich mir zuschreibe, liegt meine Wirklichkeit. Zuweilen habe ich das Gefühl, man gehe aus dem Geschriebenen hervor wie eine Schlange aus ihrer Haut. Das ist es; man kann sich nicht niederschreiben, man kann sich nur häuten.
[Max Frisch aus: „Stiller“]

Inhalt/Plot:

Ein Ich-Erzähler findet sich in Untersuchungshaft wieder. Er, ein James Larkin White, wird für Anatol Ludwig Stiller gehalten, ein bekannter Zürcher Bildhauer und Ehemann von der Ballerina Frau Julika Stiller-Tschudy, der plötzlich und verdächtigerweise im Zusammenhang mit einer gewissen Smyrnow-Affäre vor sechs Jahren spurlos verschwunden ist. Der Ich-Erzähler bestreitet vehement mit Stiller identisch zu sein:

Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere. Denn ohne Whisky, ich hab’s ja erfahren, bin ich nicht ich selbst, sondern neige dazu, allen möglichen guten Einflüssen zu erliegen und eine Rolle zu spielen, die ihnen so passen möchte, aber nichts mit mir zu tun hat […]

So beginnt der Roman. Der Ich-Erzähler schreibt Hefte mit seiner Geschichte und seinen Erlebnissen voll, die während der Untersuchungshaft stattfinden, und versucht sich gegen die Vorwürfe und Vorstellungen seiner Mitmenschen zu wehren, die in ihm besagten Stiller sehen und Erklärungen, Entschuldigungen und auch Geld erwarten. Vordergründig wird der Ich-Erzähler wegen seiner zweifelhaften Papiere festgehalten, hintergründig wegen der staatsgefährdenden Smyrnow-Affäre, im Grunde aber spielt sich ein Ehedrama im Züricher Gefängnis ab, als nämlich Julika aus Paris eintrifft und dem Ich-Erzähler Ausgang gewährt wird:

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Sie glaubte wohl, sie könnte mich wie ihren Stiller behandeln, und einen Augenblick lang hatte ich Lust, aus purem Trotz einen weiteren Whisky zu trinken. Ich tat es nicht. Denn Trotz ist das Gegenteil von wirklicher Unabhängigkeit. Ich lächelte. Sie tat mir leid. Ich begriff: ihr ganzes Verhalten bezieht sich nicht auf mich, sondern auf ein Phantom, und einmal mit ihrem Phantom verwechselt (denn wahrscheinlich hat es den Mann, den sie sucht, gar nicht gegeben!), ist man einfach wehrlos; sie kann mich nicht wahrnehmen. Schade! dachte ich.

Einerseits hingerissen, andererseits von Julika abgestoßen beginnt ein Wechsel- und Versteckspiel zwischen dem, was der Ich-Erzähler sein will, und dem, was seinen Mitmenschen und insbesondere Julika in ihm sehen, denn die Fußstapfen Stillers, in die er treten soll, sind alles andere als angenehm:

Irgendwie muß es mit diesem kleinen, geradezu winzigen und von Julika längst vergessenen Ausspruch [dass Sex sie etwas ekle] zusammenhängen, daß Stiller sich als ein stinkiger Fischer mit einer kristallenen Fee vorkam. Der Ausspruch fiel in ihrer ersten gemeinsamen Nacht. Offenbar war Stiller nicht nur eine Mimose, ein Mann von krankhafter Ich-Bezogenheit und entsprechender Empfindlichkeit, so daß er Worte, die Julika möglicherweise jedem Mann hätte sagen können, ganz und gar auf sich bezog; er war obendrein auch noch ein Wiederkäuer, und das war für die arme Julika oft einfach unerträglich.

Vor allem wegen einer sich ankündigenden Tuberkulose entzieht sich Julika Stillers Liebeswünschen. Sie schiebt den Arztbesuch Monate auf, aus Angst, krankgeschrieben und aufs Sanatorium geschickt zu werden, was ihre Karriere als Tänzerin gefährden würde. Stiller fühlt sich übergangen, trinkt, ist frustriert und beginnt eine Affäre mit Sibylle, die er auf einem Maskenball und durch den Architekten Sturzenegger kennenlernt. Julika beginnt nach mehreren Wochen seine Untreue zu ahnen. Als sie irgendwann doch zum Arzt und nach Davos ins Sanatorium muss, schreibt Stiller weder Briefe noch kommt er zu Besuch. Er plant mit seiner Geliebten, Sibylle, nach Paris zu ziehen, was aber daran scheitert, dass Stiller bei seinem ersten Besuch auf Davos es nicht schafft, sich von Julika, die ihrerseits über ihr Karriereende trauert, zu trennen, obwohl diese ihn direkt auf seine Affäre anspricht:

»Wie geht es deiner – Dame?« fragte sie.
»Wen meinst du?« fragte er.
»Bist du noch immer verliebt in sie?«
In der Tat, Julika machte es ihm so leicht wie möglich, doch Stiller war ein fertiger Feigling; kein Wort davon, daß er die Dame [Sibylle] (wie sich später einmal herausstellen sollte) fast täglich traf. Er blickte Julika bloß an, schwieg.

Stiller enttäuscht Julika und auch Sibylle, die ihrem Ehemann Rolf bereits alles gestanden und für die Reise nach Paris alles vorbereitet hat. Rolf fährt daraufhin einige Tage nach Genua, kehrt aber zurück und entscheidet sich, wie Julika, die Affäre von Stiller und Sibylle auszusitzen. Als Stiller kurz darauf aus beruflichen Gründen doch in Paris weilt und Sibylle einlädt, platzt dieser der Kragen und lässt das Kind, das sie von Stiller erwartet heimlich abtreiben. Statt aber gemeinsam mit ihrem Ehemann in das neue, von Stillers Freund Sturzenegger geplante und gebaute Haus, umzuziehen, reist sie nach Pontresina, wo sie sich mit Stiller trifft und ihn ob seiner Armut und seiner Unmännlichkeit vor allen Leuten lächerlich macht:

Und dann, nachdem [Sibylle] fast nur mit einem Blick ›ihr‹ Filet Mignon bestellt hatte, nötigte sie den hilflosen Stiller, Schnecken zu essen, worauf Stiller ein wenig zweifelte, ob Schnecken und Châteauneuf-du-Pape zusammenpaßten; Stiller hatte noch nie Schnecken gegessen, wie er gestehen mußte, und kam sich minderwertig vor, also zu einer widersprechenden Meinung kaum berechtigt. […]  Stiller blickte sie an wie ein Hund, der die menschliche Sprache nicht versteht, und es fehlte wenig, daß Sibylle ihn gestreichelt hätte wie einen Hund. Sie tat es nicht, um keine Hoffnungen zu stiften.

Nachdem Treffen in Pontresina reist Stiller, ohne Sibylle Bescheid zu geben, kurzerhand nach Davos, gibt Julika seine Trennung von Sibylle bekannt und trennt sich auch von ihr, kehrt nach Pontresina zurück, übergibt Sibylle ein Geschenk aus Paris, aber ihre Beziehung lässt sich nicht mehr retten, zumal Sibylle ihm während seiner Abwesenheit untreu gewesen ist. Stiller verschwindet, und Sibylle beschließt in die USA zu ziehen und auf eigenen Füßen zu stehen, indes Julika völlig genest und mit einem Kollegen eine Tanzschule in Paris eröffnet. All dies wird dem Ich-Erzähler durch Julika, Rolf, den Staatsanwalt, und Sibylle zugetragen und von diesem nacherzählt. Doch der Ich-Erzähler besteht immer noch darauf, nicht Stiller zu sein:

Es ist schwer, nicht müde zu werden gegen die Welt, gegen ihre Mehrheit, gegen ihre Überlegenheit, die ich zugeben muß. Es ist schwer, allein und ohne Zeugen zu wissen, was man in einsamer Stunde glaubt erfahren zu haben, schwer, ein Wissen zu tragen, das ich nimmer beweisen oder auch nur sagen kann. Ich weiß, daß ich nicht der verschollene Stiller bin. Und ich bin es auch nie gewesen. Ich schwöre es, auch wenn ich nicht weiß, wer ich sonst bin. Vielleicht bin ich niemand.

Aber sechs Jahre, so schreibt Max Frisch in Stiller, reichen nicht aus, um sich völlig von seiner Vergangenheit zu befreien, und so holt sie ihn unverändert ein.

Stil/Sprache/Form:

Max Frischs Stil strebt keine Besonderheit an. Seine Erzählweise lebt mehr von Rhythmus, von Themenwahl und von der Behandlung derselben, von den Akzenten, die er setzt, von der Komposition, mit der er zwischenmenschlichen Problemen nachspürt, von diesem zirkelnden, sich wiederholenden, sich immer tiefer bohrenden Bestreben zu erkennen, was sich hinter den Masken der Menschen verbirgt. In Stiller wirft er alles, was ihm als Schriftsteller zur Verfügung steht, in die Waagschale. In anderen Romanen und Texten kehren einzelne Momente wieder. In Stiller sind sie alle miteinander vereint und verknüpft. Auch lässt er sich in seinem längsten Roman Zeit für panoramahafte Beschreibungen, wie Rolfs Blick aus der Rainbow Bar im Rockefeller Center:

Manchmal jagen Schwaden von buntem Nebel vorbei, als sitze man auf einem Berggipfel, und eine Weile lang gibt es kein Neuyork mehr; der Atlantik hat es überschwemmt. Dann ist es noch einmal da, halb Ordnung wie auf einem Schachbrett, halb Wirrwarr, als wäre die Milchstraße vom Himmel gestürzt. Sibylle zeigte ihm die Bezirke, deren Namen er kannte: Brooklyn hinter einem Gehänge von Brücken, Staten Island, Harlem. Später wird alles noch farbiger; die Wolkenkratzer ragen nicht mehr als schwarze Türme vor der gelben Dämmerung, nun hat die Nacht gleichsam ihre Körper verschluckt, und was bleibt, sind die Lichter darin, die hunderttausend Glühbirnen, ein Raster von weißlichen und gelblichen Fenstern, nichts weiter, so ragen oder schweben sie über dem bunten Dunst, der etwa die Farbe von Aprikosen hat, und in den Straßen, wie in Schluchten, rinnt es wie glitzendes Quecksilber.

Der größtenteils psychologisch schreibende Frisch hält in Stiller viele solcher pittoresken Szenen bereit: In Mexiko auf dem Friedhof zum Totentag und auf dem Marktplatz, die Wüsteszene, der Brand im Sägebergwerk, die Alpen, Pontresina, der sanfte Kampf um Aufmerksamkeit mit der Katze Little Grey. In vielen Szenen, aus verschiedenen Perspektiven wird die Welt von Stiller und Julika, von Sibylle und Rolf lebendig. Vor allem trägt dazu bei, dass die Welt je aus den Augen der handelnden Figuren beschrieben wird, sowohl die Gefühle, wie die Gespräche, wie die Umgebung bekommen eine eigene Färbung und Wirklichkeit.

Die unselige Begegnung in seinem Büro – nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus – wurde von seiner Frau natürlich etwas anders erlebt, als Rolf, mein Staatsanwalt, sie dargestellt hat; nicht von ihr (so versicherte Sibylle) ging das verstockte Schweigen aus, sondern von ihm. […] Es war nicht Rolf, es war eine Maske, die ihr lächerlich vorkam. »Du mußt tun, was du für richtig hältst«, sagte er nochmals, öffnete die Türe und ließ sie durchs Vorzimmer gehen, begleitete sie höflich zum Lift – Nun mußte sie also nach Pontresina.

Die Eheprobleme der vier Personen, die sich verwickeln, sich gegenseitig voller Misstrauen, aber auch voller Liebe und Freundschaft begegnen, das Auf und Ab, das niemand versteht, niemand begreift, bildet das literarische Zentrum des Romans. Sie wollen sich im Grunde nichts Böses. Sie neiden sich nicht einmal viel, bleiben nicht lange eifersüchtig. Stiller, die Figur, spricht zwar nie, aber auch für ihn, den eifersüchtigsten von allen, gilt, dass er lieber Frieden als Streit will, lieber zurücksteht, als auf ein vermeintliches Recht bestehen würde. Das ausgeklügelte Acht-Augen-Gespräch führt eine Utopie vor Augen, wie nachsichtig, geduldig sich Menschen begegnen könnten. Es kreiert ein vollständiges Bild, gerade indem es Lücken und Leerstellen, Pausen lässt. Die Beziehungen werden lebendig, durch den Freiraum, den der Ich-Erzähler den Figuren schafft, ohne jedoch narrativ gewollte Unklarheiten, vermeintliche Spannungsbögen zu erzeugen. Alles ist klar. Nur nichts ist einfach. Um dies zu unterstreichen, unterbricht Frisch die Erzählfragmente noch mit Phantastereien.

Ich sitze in meiner Zelle, Blick gegen die Mauer, und sehe die Wüste. Beispielsweise die Wüste von Chihuahua. Ich sehe ihre große Öde voll blühender Farben, wo sonst nichts anderes mehr blüht, Farben des glühenden Mittags, Farben der Dämmerung, Farben der unsäglichen Nacht. Ich liebe die Wüste. Kein Vogel in der Luft, kein Wasser, das rinnt, kein Insekt, ringsum nichts als Stille, ringsum nichts als Sand und Sand und wieder Sand, der nicht glatt ist, sondern vom Winde gekämmt und gewellt, in der Sonne wie mattes Gold oder auch wie Knochenmehl, Mulden voll Schatten dazwischen, die bläulich sind wie diese Tinte, ja wie mit Tinte gefüllt, und nie eine Wolke, nie auch nur ein Dunst, nie das Geräusch eines fliehenden Tieres […]

Die Abwechslung von Dialog, Phantasien, von Nacherzählung, Erinnerung, Reflexion erzeugt ein sinnerfülltes lockeres Gefüge, das allen Elementen Luft und Entfaltungsraum gibt. Hinzukommt der Wechsel vom Präsenz ins Präteritum, der Wechsel zwischen den Orten in der Schweiz und zwischen den Kontinenten, zwischen den Erzählperspektiven der einzelnen Beteiligten und das offizielle Auge des schweizerischen Rechtsstaates verkörpert durch den bemühten, aber verzweifelten Verteidiger Dr. Bohnenblust, der zwischen allen Instanzen vermittelt, aber am Ende nicht so recht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht. Es fehlt die Identität, die Eineindeutigkeit, die einfach gestrickte Kausalkette, die erst ein standesgemäßes Urteil ermöglicht.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Max Frischs Stiller kommuniziert vor allem mit den existenzialistischen Romanen seiner Zeit. Die Sprache, zumeist kühl, die Beschreibungen sehr auf das Verhalten gerichtet, der Blick in die Bewegungen des Gefühlslebens, das Aufbrechen alter Rollenmuster, die Vision einer freien Liebe, die nackte Selbsterkenntnis als Ziel teilt Frisch mit den anderen, explizit existenzialistischen Autoren und Autorinnen. Spezifisch für diese Romane ist die Beschreibung einer existenzialistischen, das ganze Leben umkrempelnde Krise. In Stiller übernimmt diese Aufgabe die immer wieder, von allen Personen im Roman nacherzählte Anekdote aus dem Spanischen Bürgerkrieg:

Der junge Stiller hatte eine kleine Fähre am Tajo zu bewachen, infolge Männermangel sogar allein. Drei Tage lang geschah nichts. Dann aber, als im Morgengrauen endlich vier Franco-Spanier sich am andern Ufer zeigten, ließ Stiller sie die Fähre benutzen, ohne zu schießen, wiewohl es für ihn, der in tadelloser Deckung lag, eine Leichtigkeit gewesen wäre, die vier Feinde auf der Fähre abzuschießen. Er hatte acht Minuten lang Zeit. Stattdessen ließ er sie an sein Ufer kommen, trat aus seiner Deckung, schussbereit, sowie die andern ihrerseits das Feuer eröffnen würden, und also bereit, erschossen zu werden.

Stiller, voller Männlichkeitsallüren, will sich beweisen. Es gelingt ihm nicht. Er will nicht töten. Er will nicht schießen. Er will sich am Morden und Schlachten nicht beteiligen und ergibt sich. Dass Nicht-Schießen-Können wird immer wieder aufgegriffen. Es steht für die Unfähigkeit, erfolgreich in der Gesellschaft teilzunehmen, erfolgreich die Rollen und Masken zu übernehmen, also die Befehle zu befolgen, die die Autoritäten ihm erteilen. Kontrastierend steht hier Jean-Paul Sartres Held Mathieu in Der Pfahl im Fleische aus seiner Tetralogie Wege der Freiheit:

[Mathieu] trat an die Brüstung und fing stehend an zu schießen. Es war eine ungeheure Revanche; jeder Schuss rächte ihn für einen früheren Skrupel […] Er schoss auf den Menschen, auf die Tugend, auf die Welt […] er schoss auf den schönen Offizier, auf alle Schönheit der Erde, auf die Straße, auf die Blumen, auf die Gärten, auf alles, was er geliebt hatte. Die Schönheit machte einen obszönen Kopfsprung, und Mathieu schoss weiter. Er schoss: er war rein, er war allmächtig, er war frei.
[Jean-Paul Sartre aus: „Pfahl im Fleische“]

Max Frisch schlägt ganz andere Töne an. Weniger ein Ernest Hemingway, weniger ein Jean-Paul Sartre, eher ein Albert Camus aus Der Fremde, aber vor allem ein Ernesto Sabato in seinem Erstlingswerk Der Tunnel, das sechs Jahre zuvor erschien. Dieser beginnt wie Stiller in einer Gefängniszelle. Der Maler Juan Pablo Castel hat den Mord an seiner Geliebten Maria gestanden und wartet auf den Prozess:

Und obwohl ich mir keine großen Illusionen mache über die Menschheit im Allgemeinen und die Leser dieser Seiten im Besonderen, ermutigt mich die schwache Hoffnung, dass mich vielleicht doch ein Mensch versteht. Auch wenn es nur ein Einziger ist. […] Ich kann bis zur Erschöpfung und brüllend vor einer Versammlung von hunderttausend Russen sprechen. Niemand würde mich verstehen. Sehen Sie, was ich damit sagen will? Es gab einen Menschen, der mich hätte verstehen können. Aber das war gerade der Mensch, den ich umgebracht habe.
[Ernesto Sabato aus: „Der Tunnel“]

Castel wie Stiller suchen eine innige Liebe, eine Verbindung, die ein tieferes, friedlicheres Empfindungsleben ermöglichen würde. Sie suchen nicht einfach nur Lust. Sie wollen nicht ‚einfach schießen‘. Sie streben danach ihre Person, die Welt, die Rollen und Masken zu transzendieren und projizieren diese Sehnsucht auf ihre Partnerinnen, die aber vor einer solchen Aufgabe gestellt nicht genügen, nie genügen können. Sowohl Julika wie Maria bezahlen mit ihrem Leben dafür. Hier konvergiert Stiller mit Ingeborg Bachmanns Malina, wenn Sibylle, nachdem Stiller ihr seine Trennung von Julika eröffnet hat, während diese wegen Tuberkulose in Davos um ihr Leben kämpft:

»Das ist doch Wahnsinn, Stiller, das ist doch Mord …«

Ingeborg Bachmann beendet ihren einzig vollendeten 1971 erschienen Roman Malina bekanntlich mit der Klarstellung: Es war Mord.
[Ingeborg Bachmann aus: „Malina“]

Stiller und Castel, im Gegensatz zu Mathieu, sagen sich zwar von der physischen Gewalt ab. Sie schießen nicht. Sie verzweifeln am Morden und Schlachten, aber lieben können sie deshalb noch lange nicht. Stiller versagt in den entscheidenden Momenten für Julika da zu sein. Er bleibt feige, flieht, flüchtet sich in Schweigen, in den Alkohol, in die Kunst. Er begeht keinen mörderischen Akt wie Castel, aber er zerstört Julikas Leben nichtsdestotrotz, wie er seinem Wärter Knobel darlegt:

»Es gibt allerlei Arten, einen Menschen zu morden oder wenigstens seine Seele, und das merkt keine Polizei der Welt. Dazu genügt ein Wort, eine Offenheit im rechten Augenblick. Dazu genügt ein Lächeln. Ich möchte den Menschen sehen, der nicht durch Lächeln umzubringen ist oder durch Schweigen. Alle diese Morde, versteht sich, vollziehen sich langsam.«

Max Frischs Stiller besitzt den Verdienst, auf diese Verletzungen und Wunden Aufmerksamkeit zu lenken, auf die vielen kleinen und großen Schändlichkeiten, die sich Menschen antun, ohne Böses im Sinn zu haben, auf die Qualen und Brutalitäten, sobald ein Mensch einen anderen für eine Selbstverständlichkeit nimmt und ihn nur zur Befriedigung der eigenen Eitelkeiten benutzt. Es endet meist für alle schlimm. So auch bei Frisch. Stiller bleibt allein.

Alexander Carmele
https://kommunikativeslesen.com/

MeinKlassiker (38): Warum Transit für Sibylle Schleicher immer noch aktuell ist

Für die Schriftstellerin Sibylle Schleicher ist “Transit” ein Roman, den sie immer wieder liest. Denn „Transit“ beschreibt eindringlich wie kaum ein anderer Roman das Schicksal heimat- und ziellos herumirrender Menschen. Ein Buch, das zurecht als Meisterwerk der Exilliteratur gilt. Ein Beitrag in der Reihe #MeinKlassiker.

Die Schauspielerin, Sängerin, Lyrikerin, Theater- und Romanautorin Sibylle Schleicher nennt sich selbst eine Fünfkämpferin, ist sie doch in Schielleiten, in einer Bundessportschule Österreichs, geboren.

Zuletzt erschien von ihr im Chronos Verlag das Stück: ‚In einem kühlen Grunde‘ – eine schwarze Komödie, die im Theater im Turm in Regensburg im April uraufgeführt wurde. Ihr letzter Roman „Die Puppenspielerin“, der im Alfred Kröner Verlag im Herbst 2021 erschienen ist, wurde im Dezember 2022 als Bühnenadaption in der Theaterei Herrlingen uraufgeführt. Mit Olivera Stosic-Rakic hat sie die künstlerische Leitung des Literaturprogramms beim Internationalen Donaufest 2024 inne.

Und trotz ihrer zahlreichen kreativen Verpflichtungen ist Sibylle Schleicher, die bei Ulm lebt, immer auch gesellschaftlich engagiert. So ist sie als Ehrenmitglied des Stiftungsrats: ‚Stiftung Erinnerung‘ kreativ für das Dokumentationszentrum Ulm tätig, aktiv für Theaterprojekte im professionell integrativen Theater Heyoka (Ulm) und engagiert sich ehrenamtlich für Asylsuchende.

Ihr Klassiker hat mit letzterem zu tun: „Transit“ von Anna Seghers – dies zeigt auch die Verfilmung durch Christian Petzold aus dem Jahr 2018 – ist (leider) zeitlos und aktuell. Denn „Transit“ beschreibt eindringlich wie kaum ein anderer Roman das Schicksal heimat- und ziellos herumirrender Menschen – ein Buch, das zurecht als Meisterwerk der Exilliteratur gilt.


Ein Gastbeitrag von Sibylle Schleicher

Fort, nur fort aus diesem zusammengebrochenen Land, fort aus diesem zusammengebrochenen Leben, fort von diesem Stern.“

Juni 2023. Griechenland. Am frühen Mittwochmorgen kentert ein hoffnungslos überladenes Flüchtlingsboot westlich der Halbinsel Peloponnes. Hunderte Männer auf dem Deck, Frauen und Kinder unter Deck – an die 750 Insassen. Menschen wurden gerettet, Leichen wurden geborgen. Es war das bisher schwerste Bootsunglück vor der griechischen Küste, sagt die Internationale Organisation für Migration. Einmal mehr geht der Streit um Schuld und Verantwortung los. Einmal mehr in diesen vergangenen Jahren. Und die, die gerettet worden sind, werden erfahren, wie wenig Chancen sie auf Asyl haben.

In der Woche davor höre ich im Radio Diskussionen um das Screening-Verfahren an den Außengrenzen. Nach wie vor geht es um Grenzsicherung und nicht um die Menschenrechte der schutzsuchenden Menschen. Das Screening bestimmt, welches Asylverfahren die geflüchteten Menschen bekommen. Sie selbst haben keine Rechtsmittel zur Verfügung. Sie zählen als ‚nicht eingereist‘, obwohl sie bereits eingereist sind. Sie sind gezwungen, in den Massenlagern an den Außengrenzen auf weitere Verfügungen zu warten. Illegale Pushbacks, bei denen die Schutzsuchenden gewaltsam an den Grenzen abgewiesen werden, sind an der Tagesordnung. Hinter all den statistischen Fakten und politischen Diskussionen stehen individuelle Schicksale, steht eine eigene Geschichte. Oft bleibt sie unerzählt. Nicht nur, weil die Betroffenen nicht fähig sind, darüber zu reden, auch, weil es an Zuhörern fehlt. Dabei würden uns diese Geschichten helfen, mehr zu verstehen, auch zu begreifen, wo unser Handeln ansetzen kann. Und immer wieder denke ich an Anna Seghers‘ ‚Transit‘.  

„Ein Transit – das ist die Erlaubnis, ein Land zu durchfahren, wenn es feststeht, dass man nicht bleiben will.“

Winter 1940/41. Marseille. Flüchtlinge aus allen Ländern Europas treffen zu Tausenden in dieser Hafenstadt ein, um eine Schiffspassage irgendwohin zu ergattern, auf einem Schiff, das sie aus dem brennenden Europa der Nazis wegbringt. Unter ihnen der Ich-Erzähler, dessen wirklichen Namen wir nicht erfahren.

„Transit“ beginnt mit dem Ausgang der Geschichte. Der Ich-Erzähler hat erfahren, dass die „Montreal“ auf eine Mine lief und zwischen Dakar und Martinique untergegangen ist. Er sitzt in einer Pizzeria und lädt einen Gast auf Pizza und Rosé ein, um sich dessen Zuhörerschaft zu sichern. Er möchte „alles einmal von Anfang an erzählen.“ Wie er 1937 aus dem Konzentrationslager geflohen und über den Rhein geschwommen ist, wie ihn die Franzosen ohne Papiere in ein Arbeitslager bei Rouen internierten, wie er wieder entkommen konnte und 1940 in Paris landete. Die Deutschen marschierten gerade in Frankreich ein. Er lebt vorübergehend bei Freunden, der Familie Binnet. Durch einen Zufall gelangt er an den Koffer des toten Schriftstellers Weidel und verspricht, diese karge Hinterlassenschaft bei den Verwandten des Toten abzugeben. Das gelingt nicht und ehe er eine Lösung dafür findet, ist er wieder auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. Mit einem auf den Namen Seidler gefälschten Pass verschlägt es ihn mitsamt Koffer, dessen Inhalt er mittlerweile genau kennt, nach Marseille.

Dort hat er Verbindung zur weiteren Binnet-Verwandtschaft und dort lernt andere Emigranten kennen, die alle nur so schnell wie möglich auswandern wollen. Es ist ein Hetzen nach den richtigen Papieren durch ein Labyrinth von Behörden. Dem neuen Seidler jedoch gefällt es in Marseille. Er würde gerne bleiben. Aber auch das ist nicht so einfach erlaubt. Bei einem weiteren Versuch, Weidels Koffer auf dem mexikanischen Konsulat abzugeben, hält man ihn selbst für Weidel, der um eine Ausreisegenehmigung ansucht. Er klärt den Irrtum nicht auf. Nimmt vielmehr Weidels Identität an. Während der eisigen Wintertage, in denen er seine Abreise vorbereitet, lernt er Marie kennen. Eine Frau, die mit einem Arzt zusammenlebt, gleichzeitig aber auf der Suche nach ihrem Mann rastlos durch die Cafés der Stadt streift. Seidler, mittlerweile Weidel, verliebt sich in sie und auch als er begreift, dass sie die Frau des Toten ist, zögert er zu lange, sie über das Schicksal ihres Mannes aufzuklären. Durch glückliche Fügungen erhält er eine Passage nach Übersee. Doch er gibt sie zurück. Er bleibt im Land. Marie hingegen kann er zur Ausreise mit dem Arzt auf der „Montreal“ bewegen. Die beiden kommen auf dem Weg in die erhoffte Freiheit ums Leben.

Transit steht bei Anna Seghers nicht nur für das Durchreisevisum. Transit steht für ein ganzes Durchgangsstadium verbunden mit einem ständigen Auf und Ab zwischen Hoffnung und Todesangst, verbunden mit dem Verlust von Würde und Solidarität. Die Flüchtlinge werden zu namenlosem Gesindel, das jederzeit herumgeschoben werden darf. Ihr Wert misst sich an ihren Papieren und ihrem Geld.

Anna Seghers, die selbst 1940 als jüdische Kommunistin mit ihren Kindern aus Paris flüchtet und 1941 in Mexiko landet, beschreibt nicht nur das einzelne Schicksal von Flucht und Exil des Ich-Erzählers. Sie greift viele Geschichten auf, flicht sie in den Roman ein, indem sie dem Protagonisten erzählt werden. Er, der in dieser Durchgangsphase keine eigene Identität mehr hat, sondern nur eine gefälschte und eine geliehene/gestohlene, bleibt dadurch trotzdem authentisch, auf dem Boden der Tatsachen, bei sich und gleichzeitig mitfühlend bei den anderen, noch fähig zu zuhören und mit zu leiden. Er hat Glück, dass er so etwas wie einen Familienanschluss bei den Binnets hat. Die soziale Wärme erdet ihn, lässt ihn seine Flucht reflektieren. Seghers bezieht mit der Familie Binnet das gewöhnliche Leben inmitten dieses chaotischen Treibens ein, lässt ahnen, wie es sein könnte, wenn alle Flüchtlinge Anschluss zu ansässigen Familien hätten. Sie beschreibt aber gerade durch diese beinahe freundschaftliche Vertrautheit auch die Einsamkeit und Fremdheit derer, die nur auswandern wollen, sich an nichts binden, weil sie ohnehin nicht bleiben. Es ist eine Welt, in der es keinen richtigen oder falschen Weg gibt. Nichts ist im Voraus berechenbar. Die rettende Schiffspassage kann einen auch in den Tod führen.

Anna Seghers mit Leserinnen. Bundesarchiv, Bild 183-47613-0003 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en, via Wikimedia Commons

Mit ihrer direkten und klaren Sprache nimmt Anna Seghers uns unmittelbar mit in eine starke Bilderwelt. Der Leser ist quasi Gast des Erzählers in der Pizzeria, erlebt seine zermürbende Odyssee durch Städte und Ämter mit, friert mit ihm im kalten Regen und Wind, bangt mit ihm, dass er seine Papiere zur rechten Zeit bekommt – die Lagerentlassungspapiere, den Pass, das polizeiliche Führungszeugnis, das Ausreisevisum, das Transitvisum, das Einreisevisum usw.­– alles in der richtigen Reihenfolge, selbst wenn er weiß, dass es Papiere für einen Toten sind. Und schließlich hofft der Gast auf einen guten Ausgang, nicht nur für den Protagonisten, auch für alle anderen, die durch ihre einzigartigen Lebensgeschichten nahegerückt sind.  

„Welchen Zweck sollte das haben, Menschen zurückzuhalten, die sich doch nichts sehnlicher wünschen, als ein Land zu verlassen, in dem man sie einsperrt, wenn sie bleiben?“  

Herbst 2017. In einem Dorf bei Ulm. Im Asyl-Café. Die Asylsuchenden aus Afghanistan ducken sich, wenn ein Unbekannter ins Café kommt. Das zermürbende Warten auf endgültige Entscheidungen über ihren Asylantrag, lässt sie nicht schlafen. Sie trauen keinem mehr, reden über Suizid.  

Winter 2017. In einem Dorf bei Ulm. Neue Asylsuchende sind angekommen. Aber nicht aus einem anderen Land, nur aus einem Heim in der größeren Stadt. Ein junger Mann aus Ghana erzählt mir seine Geschichte. Seit zweieinhalb Jahren ist er im Land und immer noch ohne Papiere. Sein Haus in Ghana ist drei Mal abgebrannt. Auf dem Weg nach Europa ist das Schlauchboot untergegangen. Er ist einer der wenigen Überlebenden. Das Leben gerettet, die Papiere nicht. „Wer weiß, was an der Geschichte wahr ist“, sagen sie um ihn herum. Er kann nicht beweisen, dass er aus Ghana ist, wird dem Senegal zugeordnet. Er wartet auf den Übersetzer, der seine Sprache für die Ämter bestätigten soll. Inzwischen bewegt sich nichts. Junge Menschen ohne Perspektive, ‚verwarten‘ ihre lebendigsten Jahre.

Warten spielt auch in „Transit“ die nahezu größte Rolle. Warten vor dem Konsulat, in den Cafés, am Kai, im kargen Hotelzimmer. Ein zehrendes Warten, das alle Lebensenergie aus einem herausziehen kann. Warten, in das sich bisweilen Langeweile mischt, vor allem aber Angst und Ungeduld.

„Transit“ ist eine von vielen vergleichbaren Geschichten, die unsere Vergangenheit prägen und sich in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben. Eine Geschichte, die zeitlich im Zweiten Weltkrieg verankert ist, mit ihm und seinen politischen Auswirkungen zu tun hat, so gesehen eine unzeitgemäße Variante dieses Themas sein könnte. Denn dass das Thema Emigration selbst hochaktuell ist, muss man nicht weiter ausführen. Dass auch heute viel darüber geschrieben wird und wir mit den Schicksalen der Flüchtlinge in allen Medien konfrontiert werden, ist nicht zu bestreiten. Warum also so eine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert ausgraben? Einerseits, weil Anna Seghers Sprache uns noch ganz direkt erreicht und ohne Larmoyanz oder Härte zu berühren vermag. Und anderseits, vielleicht gerade weil der Blickwinkel ein anderer ist, weil man sich durch die zeitliche Distanz viel eher Vergleiche anzustellen traut. Man wähnt sich in sicherem Abstand und kann plötzlich die Realität anders zulassen. Man hält es aus, die Nahaufnahmen anzuschauen. Und wie der Ich-Erzähler zu Mitgefühl findet, indem er zuhört, können auch wir zu einer größeren Durchlässigkeit und Empathie den aktuellen Geschehnissen gegenüber gelangen, sie in unser Leben einbeziehen und nicht außen vorlassen.  

„Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wussten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder Jahre oder unser ganzes Leben.“  

Mai 2023. Andau. An der Brücke. Es regnet, leichter Nebel liegt über dem Wasser. Außer uns ist heute keiner da. Das Wetter zu unwirtlich. Die Kälte kriecht unter unsere Jacken. Ich gehe langsam über die Brücke. Unter ihr der Einser Kanal. Im Hinterkopf eine leichte Ahnung, wie es 1956 gewesen sein könnte. Es ist nicht mehr die Brücke, über die mehr als 70.000 Flüchtlinge von Ungarn nach Österreich gekommen sind, weil diese Brücke damals von den sowjetischen Truppen gesprengt wurde, aber viele Zeichen erinnern rundum an die Zeit. Internationale Künstler und Künstlerinnen säumen hier mit ihren Werken im Sinne des historischen Geschehens das Gelände mit ihren Objekten und Skulpturen. Vor und hinter der Brücke stehen Informations– und Gedenktafeln, Grenzsteine, Landesschilder. Im Regen nimmt man all die Zeichen nicht so genau wahr, denkt nur daran, wie sich die Menschenmengen über die Brücke geschoben haben, nachdem sie zuvor schon tagelang auf der Flucht waren. Warten, Chaos und Angst vor der Grenze zum Burgenland. Wie in Anna Seghers ‚Transit‘, denke ich wieder. Nur ganz anders. Aber dann doch nicht anders. Flucht und Migration, ein zeitloses Thema. Menschen fliehen, weil ihr Leben in Gefahr ist, sie fliehen vor Willkür, Gewalt und Zerstörung. Sie fliehen, weil sie Ihre Kinder nicht mehr ernähren können, weil sie Hoffnung haben auf ein besseres Leben. Niemand verlässt ohne einen wichtigen Grund sein zu Hause.

Über das Burgenland wurden die Flüchtlinge unter anderem weiter in die Steiermark gebracht und auf Flüchtlingslager verteilt. 116 Flüchtlingslager verschiedener Größen gab es 1956/57 in der Steiermark. Eines davon war Schloss Schielleiten im Bezirk Hartberg, eine der Bundessportschulen Österreichs. 105 Flüchtlinge fanden dort im Winter 1956 vorübergehend eine Bleibe. Mein Vater war zu dieser Zeit Verwalter dieses Betriebs. Damals sind Freundschaften entstanden, die unser aller Leben bis heute begleiten. Darüber will ich unter anderem in meinem neuen Roman: ‚Die Kinder von Schielleiten‘ (Arbeitstitel) erzählen.

Sibylle Schleicher
https://sibylleschleicher.de/


Buchausgaben:

Die Werke von Anna Seghers erscheinen im Aufbau Verlag.
Transit ist als Hardcover innerhalb der Werkausgabe erhältlich,
als Taschenbuch und Ebook.

Taschenbuch:
Anna Seghers
Transit
Aufbau Verlag, 2018
ISBN: 978-3-7466-3501-9

#MeinKlassiker (37): Mit Kästner und der Kulturbowle im kleinen Grenzverkehr

Für Barbara Pfeiffer vom Blog “Kulturbowle” steht “Der kleine Grenzverkehr” von Erich Kästner für Kulturgenuss und sommerliche Leichtigkeit. Sie stellt den Roman in der Reihe #MeinKlassiker” vor.

Über die Zusage von Barbara Pfeiffer, ihren literarischen Klassiker vorzustellen, habe ich mich sehr gefreut. Sie begann mit ihrem Blog, als andere längst schon riefen: “Blogs sind tot!”. Und hat sich gegen den angeblichen Trend und ohne viel Aufhebens eine Menge Leser*innenherzen erobert. Denn die “Kulturbowle” steht für “KulturGenuss, Bücherlust und Lebensfreude” und strahlt dies auch aus. So wird jede Rezension ergänzt, u.a. mit weiterführenden Buchtipps, Gaumenfreuden oder was für die Ohren. Und mit ihrem Klassiker verspricht sie nun sommerliche Leichtigkeit!


Ein Gastbeitrag von Barbara Pfeiffer

Die Sonne scheint, es ist Sommer und man bekommt Lust auf literarische Leichtigkeit. Ich zumindest. Kann das ein Klassiker? Absolut, und wie! Denn einer meiner allerallerliebsten Klassiker ist für mich genau das: sommerliche Leichtigkeit pur. Eines meiner immerwährenden Herzensbücher geschrieben von einem Lieblingsautor, der mich zeit meines Lebens begleitet hat und auch immer begleiten wird: Erich Kästner. Und so war für mich schnell klar, als mich Birgit Böllinger fragte, ob ich in ihrer Reihe „Mein Klassiker“ ein Buch meiner Wahl vorstellen möchte, dass es „Der kleine Grenzverkehr“ sein würde.

Nach fünf Minuten Schwanken zwischen Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“ gaben die Sommerzeit und die langen hellen Tage im Juni den Ausschlag pro Kästner.

Ein unvergesslicher Sommer in Salzburg mit Erich Kästner. Bild von Martin Herfurt auf Pixabay

Das Buch ist in Tagebuchform aus Sicht des Georg Rentmeister im Sommer 1937 verfasst und erschien 1938 ursprünglich unter dem Titel „Georg und die Zwischenfälle“. Erst später bekam der Roman, der durch Erich Kästners Aufenthalt bei den Salzburger Festspielen 1937 in vielen Aspekten autobiografisch inspiriert ist, den Titel „Der kleine Grenzverkehr“.

„In Österreich ins Theater gehen, in Deutschland essen und schlafen: die Ferien versprechen einigermaßen originell zu werden! Mein alter Schulatlas hat mich davon überzeugt, daß Reichenhall und Salzburg keine halbe Bahnstunde auseinanderliegen. Eisenbahnverbindungen sind vorhanden. Der Paß ist in Ordnung. So werde ich denn für meine Person den sogenannten kleinen Grenzverkehr permanent gestalten.“ (S.20)

Und schon das Vorwort des Autors für die Ausgabe aus dem Jahr 1948 macht klar, dass es in wechselvollen Zeiten entstand:

„Als ich dieses kleine Buch, während der Salzburger Festspiele Anno 1937, im Kopf vorbereitete, waren Österreich und Deutschland durch Grenzpfähle, Schlagbäume und unterschiedliche Briefmarken „auf ewig“ von einander getrennt. Als das Büchlein im Jahre 1938 erschien, waren die beiden Länder gerade „auf ewig“ miteinander verbunden worden. Man hatte nun die gleichen Briefmarken und keinerlei Schranken mehr. Und das kleine Buch begab sich, um nicht beschlagnahmt zu werden, hastig außer Landes.“ (S.7)

Ein verspätet gestellter Antrag bei der Devisenstelle zwingt den jungen Georg Rentmeister für seinen Besuch der Salzburger Festspiele zu einem außergewöhnlichen Arrangement: er bezieht Quartier im bayerischen Bad Reichenhall und pendelt per Zug täglich nach Salzburg, wo ihn sein Freund Karl weitgehend freihält und mit Eintrittskarten versorgt. Denn mit zehn Mark für vier Wochen kommt man nicht weit.

In seinem Tagebuch berichtet er über seinen Sommer in Salzburg und schon bald auch ausführlich über seine Begegnung mit dem Stubenmädchen Konstanze, das ihm den Kopf gehörig verdreht und über erstaunliche Sprachkenntnisse und Bildung verfügt…

„Verliebtheit gehört ins Gebiet des akuten Irreseins. Die Infektion des Gemüts deformiert das Verstandes- und Willensleben des Kranken bis zur Unkenntlichkeit.“ (S.29)

Besuche im Café Glockenspiel, sowie im Theater und Konzert, ein Ausflug zum Baden an den nahen Wolfgangsee, Georg und Konstanze genießen den Salzburger Sommer und spielen schließlich selbst Hauptrollen in einem ganz besonderen Theaterstück.

Niemand – auch wenn u.a. Herbert Rosendorfer in seinem „Salzburg für Anfänger“ zugegebenermaßen nahe herankommt – hat für die Stadt Salzburg in meinen Augen schönere, poetischere Worte gefunden als Erich Kästner:

„Der Zusammenklang der verschiedenen Farben und Farbtöne, die alle ins Heitere zielen, vollendet, was eigentlich keiner Vollendung bedarf. Die Dächer schimmern grün, schiefergrau und mennigerot. Über allem ragen die marmorweißen Türme des Doms, das dunkelgrau, weinrot und weiß gesprenkelte Dach der Franziskanerkirche, die altrosa Türme der Kollegenkirche mit ihren weißen Heiligenfiguren, der graugrüne Turm des Glockenspiels und andre rostrote und oxydgrüne Kuppeln und Turmhelme. Man sieht eine Symphonie.“ (S.22/23)

Die Hauptfigur Georg kommt neben den Schönheiten der Stadt auch in den Genuss zahlreicher Aufführungen und Höhepunkte der Salzburger Festspiele: er sieht den „Faust“, den „Jedermann“ von Hofmannsthal, hört das Domkonzert mit einer Beethovenmesse, zudem natürlich Mozart und geht in die Oper zum „Rosenkavalier“ – ein Programm, um das ich ihn heute noch beneide.

Für mich ist daher „Der kleine Grenzverkehr“ auch ein Buch über Kultur, Musik, Kunst, Theater, Oper und Literatur sowie deren Stellenwert und Schönheit. Wenn Georg (alias Erich Kästner) mit dem Maler Karl (alias Walter Trier, der Schöpfer der weltberühmten Illustrationen für Kästners Kinderbücher) und Konstanze – schon der Name ist ja einer Mozartoper entsprungen – durch Salzburg zieht und die kulturellen Angebote genießt, wäre man selbst gerne dabei.

Barbara Pfeiffer las für ihren Beitrag die dtv-Ausgabe. Bild: Barbara Pfeiffer

Das Buch steht unter dem Motto „Hic habitat felicitas“ (Hier wohnt das Glück) – laut Anmerkung Kästners wurde es auf einem altrömischen Mosaikfußboden in Salzburg gefunden, als man den Grundstein zum Mozart-Denkmal legte (vgl. S. 16).

Und das trifft es genau, denn für mich wohnt das Glück in diesem Buch, in dieser schönen sommerlichen Liebesgeschichte, die für kurze Zeit alle Sorgen vergessen lässt, ein Lächeln ins Gesicht zaubert und Balsam für die Seele ist.

Zugegeben, wer bei Salzburg nur an den legendären Schnürlregen und die zähflüssigen Touristenströme in der Getreidegasse denkt, der wird dem Buch vielleicht nicht so viel abgewinnen können. Aber wer wie ich die Stadt an der Salzach kennt und schätzt, Erich Kästner mag und die gut 100 Seiten zum Beispiel an einem schönen Sommerabend auf einen Rutsch genießt, der wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit für immer ins Herz schließen.

Aber bitte Risiken und Nebenwirkungen beachten: Das Buch weckt ein riesiges Verlangen, schnellstmöglich wieder einmal nach Salzburg zu fahren, durch den Mirabellgarten zu flanieren, sich in ein Kaffeehaus oder in einen Biergarten zu setzen und das eindrucksvolle Panorama und rege Treiben um sich herum auf sich wirken zu lassen.

Obwohl ich ich irgendwann aufgehört habe zu zählen, wie oft ich das Buch bereits gelesen habe, hat es mich bei der Lektüre für diesen Beitrag wieder aufs Neue begeistert. Der Zauber dieses Sommer-Kästners (für den Winter ist es übrigens „Drei Männer im Schnee“) hat auch nach 85 Jahren nichts von seiner Magie und Leichtigkeit verloren und wirkt bei mir immer und in allen Lebenslagen wie Medizin: meine persönliche literarische Kästner’sche „Hausapotheke“!

In diesem Sinne wünsche ich allen viel Freude bei der Kästner-Lektüre bzw. in Salzburg und einen schönen Sommer!

Barbara Pfeiffer
https://kulturbowle.com/


Buchinformation:

Erich Kästner
Der kleine Grenzverkehr
dtv Verlag
ISBN: 3-423-11010-4

Meine Ausgabe ist schon etwas älter, aber aktuell ist der Roman in einer Ausgabe des Atrium Verlags erhältlich:

Erich Kästner
Der kleine Grenzverkehr
Atrium Verlag
ISBN: 978-3-03882-015-4

#MeinKlassiker (36): Hildegard E. Keller sagt: Endlich! Etty Hillesum – Chronistin ihrer Zeit

Erstmals liegen sämtliche Schriften Etty Hillesums in deutscher Sprache vor. Endlich, sagt Literaturexpertin Hildegard E. Keller. Denn die Tagebücher der jungen Niederländerin werden als philosophische Lebenskunst, Mystik des Alltags und Ethik des Mitleidens gefeiert. Für Keller ist Hillesum #MeinKlassiker.

2016 bat ich einige Literaturblogger*innen, Autor*innen und andere Menschen aus dem Literaturbetrieb, doch einmal ganz frei über ihre Klassiker zu schreiben: Schriftstellerinnen und Schriftsteller und Bücher, die einen das ganze Leben über begleiten. Der Zuspruch und das Interesse war enorm: Es gab 35 Beiträge unter dieser Rubrik auf dem Blog, der seinerzeit noch unter Sätze&Schätze firmierte. Sie werden nach wie vor gelesen: Klassiker machen neugierig. Allen, die bisher zu der Reihe beigetragen haben, an dieser Stelle nochmals mein herzlichster Dank!
Inzwischen ist mein Literaturblog wiederbelebt. Und als ich neulich einen Beitrag über meinen Klassiker schrieb, “Die Insel des zweiten Gesichts” von Albert Vigoleis Thelen, wurde einmal mehr deutlich, wie groß, auch im Trubel der Neuerscheinungen, das Interesse an Autor*innen ist, deren Werke die Jahre überdauern.
Die Idee, #MeinKlassiker mit dem Blog wieder mit neuem Leben zu erfüllen, war da – und ich war ganz positiv überrascht, dass schon einige literaturaffine Menschen meiner Einladung gefolgt sind und hier über ihre Klassiker schreiben werden. Ich freue mich sehr über den Auftakt zu #MeinKlassiker 2.0 durch Hildegard E. Keller, die mit Etty Hillesum eine ganz besondere Frau vorstellt.
Ein Werk, das die Jahre überdauert hat und eine Neuerscheinung ist.


Ein Gastbeitrag von Hildegard E. Keller

Im Mittelalter stellte man sich die Liebe als noble Dame vor: Vrouwe Minne, Frau Minne, Lady Love. Die ersten Dichterinnen im deutschen und niederländischen Sprachraum, deren Namen wir kennen und deren Werke erhalten geblieben sind, dienten ihr als Sprachrohr. Es sind grosse Namen. Es sind Klassikerinnen. Es sind auch die einzigen schreibenden Frauen zwischen 1100 und 1300. Dichten ist für sie Dienst an ihrer Chefin, denn die Liebe ist die heimliche Göttin an Gottes Seite.

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Im Hörspiel Der Ozean im Fingerhut (2011) brachte ich drei dieser Klassikerinnen zusammen: die alte Hildegard von Bingen (1098-1179), die in ihrem langen Leben über fast alles geschrieben hat; Mechthild aus Magdeburg (um 1207-1282), die uns ihr Buch Das fliessende Licht der Gottheit hinterliess und die geheimnisvolle Hadewijch (sie schrieb um 1250), die in mittelalterlichem Niederländisch Lieder, Visionen und Briefe dichtete. Die inoffizielle Hauptperson des Hörspiels ist aber Etty Hillesum (1914-1943). Sie gehört zu den Klassikerinnen, die genug bekannt sind, dass sich jemand für ihr Werk interessiert, genug unbekannt, dass man sie neu entdecken kann. Das Hörspiel inszeniert eine fiktive Begegnung. Da die vier nur jenseits von Ort und Zeit zusammenfinden konnten, erschuf ich mit literarischen Mitteln einen Begegnungsraum. Für mich war es Forschung mit künstlerischer Freiheit, ein Abenteuer, auf Mittelhochdeutsch âventiure.

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Etty Hillesum spricht mit ihren christlichen Kolleginnen über die gemeinsamen Themen: das Schreiben, die Liebe, Gott und die Welt. Etty sah sich selbst als Chronistin ihrer Zeit, ist aber weit mehr als eine jüdische Zeitzeugin. In ihrem nur neunundzwanzig Jahre langen Leben, das in Auschwitz gewaltsam beendet wurde, hat sie lieben gelernt wie keine. Zwei Jahre lang beschreibt sie in Tagebüchern ihren inneren Weg. Sie schildert auch, wie sich im nationalsozialistisch besetzten Amsterdam ihr Lebensraum verengt, wie es sie immer stärker nach innen drängt. Ihre Tagebücher und Briefe wirken auch achtzig Jahre nach ihrem jähen Abriss atemberaubend und erfrischend. Als ich 2010 mein Hörspiel schrieb, musste ich mich auf internationale Ausgaben ihres Werks stützen, die niederländische Originalausgabe, die englische, italienische, französische und spanische, denn die gab es alle, meist gut kommentiert. Was fehlte, war die deutschsprachige Gesamtausgabe. Dies fand ich so unerhört, dass ich einen deutschen Verlag zu gewinnen suchte, doch das Projekt versandete. Das ist gut so. Denn vor wenigen Tagen ist sie endlich bei C.H. Beck erschienen: die erstmals vollständige und neu übersetzte Gesamtausgabe: «ICH WILL DIE CHRONISTIN DIESER ZEIT WERDEN. Sämtliche Tagebücher und Briefe 1941–1943.» Hg. von Pierre Bühler. Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth ausgezeichnet übersetzt. Die rund tausend Seiten lesen sich hervorragend, man ist dankbar für den grosszügigen Kommentar- und Bilderteil, diese Ausgabe erfüllt einen meiner Herzenswünsche. Eine Pflichtlektüre für alle.

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Wie schon die meisten internationalen Ausgaben hilft das neue Gesamtwerk beim Lesen. Damit meine ich den wichtigen Zwei- und Mehrsprachenraum, in dem Etty Hillesum gelebt, gedacht, geschrieben hat. Literatur, Weltliteratur, aber besonders auch russische und deutsche Literatur bedeuteten ihr viel. Einer ihrer Hausdichter, Rainer Maria Rilke, vor allem aber die Begegnung mit Julius Spier, nach der Reichskristallnacht aus Berlin nach Amsterdam geflohen, trugen dazu bei, dass Etty Hillesum zahlreiche Passagen auf Deutsch in ihr niederländisches Original einfügte. Diese Koexistenz von Niederländisch und Deutsch, die in der neuen Ausgabe mit Serifen bzw. serifenloser Schrift sichtbar gemacht wird, ist wesentlich. Etty Hillesum pflegte das Neben- und Miteinander der zwei Sprachen ganz bewusst, in Amsterdam wie auch später im Durchgangslager Westerbork. Es war eine Geste des inneren Widerstands gegen den Hass, den die Situation aufoktroyierte. Sprachlich und überhaupt in nur jeder denkbaren Weise nutzte Etty Hillesum jeden Moment, um in ihrer Liebesfähigkeit zu wachsen.  

Mittwochmorgen, 29. April [1942].

Dass ich so stark lieben kann! Mein Inneres blüht in alle Richtungen auf und die Liebe wird immer stärker und größer und ich lerne auch immer besser, sie zu ertragen und nicht darunter zermalmt zu werden. Und durch dieses Ertragen fühlt man, dass man immer stärker wird. Dass ich so sehr lieben kann!
Er ist ganz großartig. (S. 450)

5 Uhr nachmittags.

An ihm bin ich eigentlich erst schöpferisch geworden – verrückt, manche Dinge kann ich überhaupt nicht mehr auf Niederländisch sagen. An ihm sind meine schöpferischen Kräfte zum ersten Mal erwacht und an ihm werden sie auch zum ersten Mal eine Form annehmen. Er muss mich später wieder von sich wegstoßen, in den Raum hinein. In einem einzigen klaren Augenblick sehe ich dies plötzlich sehr deutlich: dass ich mich nicht danach sehnen sollte, ein Leben lang bei ihm zu bleiben oder ihn heiraten zu wollen. An ihm bin ich zu einer Form gelangt, aber er muss sich von mir wegstoßen, sodass ich später in einem kosmischen Raum zu einer neuen Form gelangen werde, unabhängig von ihm. (S. 451)

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Endlich kann diese Klassikerin des literarischen Humanismus neu gelesen werden. Alle, die diese bahnbrechende Gesamtausgabe in die Welt gebracht haben, verdienen Hochachtung. Das gilt ganz besonders für die Übersetzerinnen. Am 5. April findet die Buchpräsentation in Zürich statt, mit dem Herausgeber Pierre Bühler, der Übersetzerin Christina Siever, Marja Clement und mir; Moderation Verena Mühlethaler. Am 12. April werde ich den Experimentalfilm Der Ozean im Fingerhut, den ich 2012 auf der Grundlage des gleichnamigen Hörspiels produziert habe, zeigen.

Ein Beitrag von Hildegard E. Keller


Bibliografie:

Etty Hillesum
Ich will die Chronistin dieser Zeit werden
Sämtliche Tagebücher und Briefe (1941 – 1943)
C.H.Beck Verlag, München, März 2023
Hardcover, 989 S., mit 46 Abbildungen
ISBN 978-3-406-79731-6

Von Etty Hillesum. Herausgegeben von Klaas A.D. Smelik, Deutsche Ausgabe herausgegeben von Pierre Bühler. Mit einem Vorwort von Hetty Berg. Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth.

Buchvernissage in Zürich:
https://citykirche.ch/buchvernissage-und-mystikreihe-zu-etty-hillesum/


Zur Autorin dieses Beitrags:

Von 2009 bis 2019 war Hildegard Keller Literaturkritikerin im Fernsehen (Jurymitglied beim Bachmannpreis, ORF/3sat; Kritikerteam des Literaturclubs SRF/3sat). Seit 2019 konzentriert sie sich auf ihre künstlerischen Projekte (Literatur, Film, Storytelling) und gibt die Edition Maulhelden heraus. Seit den frühen 1990er Jahren lehrte sie deutsche Literatur an Universitäten im In- und Ausland (USA, GB, NL, D, ARG, TUR), zehn Jahre lang als Professorin an der Indiana University in Bloomington (USA), wo sie ihren ersten Dokumentarfilm (Whatever Comes Next, 2014) geschaffen hat; heute lehrt sie Multimedia-Storytelling an der Universität Zürich. Ihr Werk umfasst Romane, Hörspiele, Radiofeatures, Podcast, Filme und Performances. Ihr Hörspiel DIE STUNDE DES HUNDES war für den Deutschen Hörbuchpreis 2009 nominiert und wurde mit dem Theophrastus-Preis ausgezeichnet. Sie ist zudem Herausgeberin, Übersetzerin und Biografin von Alfonsina Storni; die fünfbändige Werkauswahl wurde in der Edition Maulhelden veröffentlicht. 2021 erschien mit WAS WIR SCHEINEN ihr erster, vielbeachteter Roman: Eine Lebensreise mit Hannah Arendt. Am 28. März erscheint er auf Italienisch (Quel che sembriamo. Übersetzt von Silvia Albesano. Guanda; Buchpremiere am 30. März in Venedig).

Homepage von Hildegard Keller:
https://www.hildegardkeller.ch/

Edition Maulhelden:
https://www.editionmaulhelden.com/

Den Film und das Hörspiel “Der Ozean im Fingerhut” gibt es zu kaufen, weitere Information und Bestellmöglichkeiten unter info@hildegardkeller.ch.

#MeinKlassiker (35): Herbert liest … Lady Chatterley – Erosion, Emotion und Erotik

Der Literaturblogger Herbert Schmidt bespricht für die Reihe einen Roman, der einst als Skandal galt: “Lady Chatterley” von D. H. Lawrence.

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Bild von Mabel Amber, still incognito… auf Pixabay

Für mich war dies einer der ersten Blogs, denen ich “begegnet” bin: Herbert zählt für mich zu den “Urgesteinen” in der Blogosphäre. Er betreibt das Schreiben über Literatur mit wahrer Leidenschaft: Seine Leseinteressen sind vielfältig, seine Besprechungen mannigfaltig. Der Blog aus.gelesen ist eine wirkliche Fundgrube für alle wilden Leser: Da findet man Rezensionen zu Klassikern, zu Neuerscheinungen auch abseits des Mainstreams, aber auch zu Sachbüchern und Büchern, die sich sonst niemand vorzustellen traut. Und auch für #MeinKlassiker stellt er ein außergewöhnliches Buch vor – zu seiner Zeit ein Skandal, heute gehört es zu den Jahrhundertwerken der Literatur.

Vor einigen Wochen las ich eine recht positive Rezension über den Roman Lady Chatterley von D.H. Lawrence, die mich daran erinnerte, daß ich noch diese ‘Langversion’, die zweite Bearbeitung des Stoffes durch Lawrence, im Regal stehen hatte [Anmerkung: die grünen Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Roman, die rot markierten Passagen habe ich der Lady Chatterely-Ausgabe der Deutschen Buch-Gemeinschaft von 1967 entnommen]. Zudem passte dieser Roman in gewisser Weise zu meiner gerade beendeten Lektüre von Pat Barkers Trilogie über den 1. Weltkrieg [3], hängt die Geschichte, die uns Lawrence erzählt, doch ursächlich mit diesem Krieg zusammen.


1917 nämlich heirateten der 29jährige Clifford Chatterley und die 23jährige Constance Reid. Die beiden verlebten vier (Flitter)wochen zusammen, bevor Clifford wieder in den Krieg nach Flandern ziehen musste. Von dort kam er in Einzelteilen, die sich erstaunlicherweise noch einmal flicken ließen, zurück. Der Unterkörper Cliffords jedoch blieb gelähmt, die von beiden nicht sonderlich hoch geschätzten leiblichen Freuden der Ehe waren damit perdu, Constance war von der Ehefrau zur Pflegerin eines Kriegsversehrten geworden. Das gemeinsame Eheleben erschöpfte sich fortan in Lesen, Vorlesen und in Diskussionen.

Sie wurden in der ersten Zeit erstaunlich gut mit dieser Situation fertig. Clifford wohnte ein großer Lebenswille inne, für Constance war es nicht in Frage gestellte Pflicht. Doch im Lauf der Monate und Jahre trat schleichende Verbitterung ein, die Kontakte nach außen wurden selten(er), vor allem jedoch Constance funktionierte mehr und mehr wie ein Automat. Ihr Vater, der zu Besuch kommt, sieht seiner Tochter das Unglück an, rät ihr dringend, unter Menschen zu gehen, ihr Leben zu leben. Aber erst als der Zustand der jungen Frau so ernst wird, daß ihre Schwester sie zum Arzt bringt und der ihr sehr eindringlich ins Gewissen redet, gibt sie nach. In Mrs. Bolton findet sie eine verwitwete Frau, die Erfahrung in der Betreuung von Kranken hat und die die Pflege von Clifford Chatterley übernimmt.

Clifford Chatterley seinerseits hat sich die Vorwürfe seines Schwiegervaters – trotz der auf Gegenseitigkeit beruhenden Abneigung der beiden Männer – zu Herzen genommen, in einer Schlüsselszene des Romans reden die beiden Eheleute miteinander über dieses Thema. Ist zuerst der Mann in der Offensive, indem er seine Frau Constance ermuntert und auffordert, unter Leute zugehen und sich zu öffnen, dreht Constance, die anfänglich unangenehm von dem Gespräch berührt ist, den Spieß um und drängt ihren Mann in die Defensive. Denn dieser hat die Konsequenzen seines Vorschlags offenkundig nicht zu Ende gedacht: Was, wenn sie einen Mann kennenlernt, was, wenn sie mit diesem Mann schläft – oder gar ein Kind bekommt?

Letztlich gesteht Clifford ihr das Recht auf diese sexuelle Freiheit zu. Auch ein eventuelles Kind wäre für ihn kein Problem, denn letztlich ist für ihn nicht entscheidend, wer das Kind gezeugt hat, sondern, wer es erzieht. Trotzdem stellt er seiner Frau die Bedingung, daß der Liebhaber, dem sie sich hingibt, gleichrangig sein sollte.

Gleichrangig, denn Clifford vertritt eine sehr klassenbewusste Einstellung: es gibt die, die oben sind, die denken, handeln, Verantwortung tragen und so den Lauf der Welt bestimmen und es gibt die unten, die kaum Menschen zu nennen sind, weil sie Massen sind, die geführt werden müssen und zu arbeiten haben.

Was Constance angeht, ist es mit dieser einschränkenden Bedingung schon zu spät – was Clifford natürlich nicht ahnt. Was ihm nur auffällt ist, daß seine Frau von manchem ihrer Waldspaziergänge mit vollerblühter Schönheit, mit einem inneren Strahlen wieder zurück nach Wragby kommt. Denn im Wald lauern auf Constance nicht die Räuber, sondern es wartet in seiner Hütte der Wildhüter, Oliver Parkin, auf sie. Ihrer Ladyship kam der Wildhüter in der täglichen Begegnung anfänglich zwar eher grob vor, doch eines Tages hatte sie ihn bei einem ihrer Spaziergänge an seiner Hütte überrascht, als er sich wusch. Der heimliche Anblick dieses weißen, seiner Kleidung entledigten männlichen Oberkörpers rührte in seiner Vollkommenheit tief in ihr ein Begehren auf, das sie so noch nicht gekannt und das sie bei ihrem Mann nie erlebt hatte.

However, die beiden überspringen eines Tages die Schranke der gesellschaftlichen Trennung und aus diesen ersten, verstohlenen Begegnungen, die Constances Körper förmlich erwecken und sie selbst in eine anderen – man kann es nicht anders sagen – Bewusstseinszustand einführen, entwickelt sich eine Liebesbeziehung, die sich im wesentlichen auf die körperlichen Aspekte gründet.

Es setzt nun in ‘Connie’ ein langsamer Erosionsprozess ein. Ist ihr Mann Clifford ein strikter Vertreter der englischen Klassengesellschaft und ihr Liebhaber Oliver ein Angehöriger der Arbeiterklasse, so steht sie jetzt zwischen ihnen. Dieses ‘Dazwischen’ bezieht sich sowohl auf das Körperliche, aber auch auf das Gesellschaftliche, denn im Gegensatz zu ihrem Mann sieht sie die Angehörigen der Arbeiterklasse nicht per definitionem als minderwertig an, sondern billigt ihnen all das zu, was Clifford ihnen an Werten abspricht.

Wird die Bindung zwischen Constance und ihrem Liebhaber trotz gelegentlicher kurzer Eintrübungen immer enger (und im gleichen Maß die zu ihrem Mann immer brüchiger), so entwickelt sich auf der anderen Seite nach anfänglicher Abneigung Cliffords gegen seine Pflegerin Mrs. Bolton auch hier eine besondere Beziehung mit ihrer eigenen, subtilen Intimität, eine Beziehung, die jedoch nie die Klassenschranke überschreitet.

Im Sommer fährt Constance wie im Winter verabredet mit ihrer älteren Schwester Hilda und dem Vater nach Frankreich, in die Sommerfrische. Anfänglich genießt Constance diese Fahrt, aber bald erträgt sie die gesellschaftliche Atmosphäre in der Villa, in der sie unterkommen, nicht mehr. Dazu kommt, daß sie von zuhause beunruhigende Nachrichten erhält: des Wildhüters wildes Weib, von dem er schon lange getrennt lebt, aber (noch) nicht geschieden ist, ist von ihrem Liebhaber vor die Tür gesetzt worden und wieder bei Parkin aufgetaucht. Im Naturzustand soll sie in seinem Bett gelegen und ihn zur Begattung aufgefordert, ja, gedrängt haben. Parkin sei, so bekommt sie in Briefen berichtet, da er dieses Weib nicht loswerden konnte, zurück zu seiner Mutter gegangen, doch jetzt verbreite Bertha Coutts unsägliche und unsagbare Einzelheiten über Intimitäten aus der Zeit der Ehe in den Dörfern, die das Ansehen Parkins schwer beschädigen würden…. Constance war ob der Nachrichten not amused, es war ein harter Kampf für sie, sich über ihre Eifersucht auf Bertha Coutts zu erheben und ihren Hass gegen ihn, weil er mit Bertha Coutts in Verbindung gewesen war, zu überwinden. Es drängte sie nach Hause.

In den wenigen Wochen der Sommerfrische hat sich vieles geändert, grundlegend geändert. Constance ist trotz der Einwürfe ihrer Schwester, solche Männer seien allenfalls für einen temporären Lustgewinn akzeptabel, entschlossen, ihren Mann zu verlassen und Parkin zu heiraten. Clifford seinerseits überrascht sie mit der Tatsache, daß er unter dem Einfluss und der Ermunterung von Mrs. Bolton gelernt hat, sich auf Krücken fortzubewegen. Parkin dagegen hat mittlerweile seine Stellung als Wildhüter bei Clifford gekündigt und will in Sheffield im Stahlwerk arbeiten.

Constance besucht ihn dort, er lebt bei einer ihm bekannten Familie. Es ist der erste ‘wirkliche’ Kontakt, den sie mit einer Arbeiterfamilie hat, er ist ernüchternd. Vor allem aber ist sie schockiert darüber, daß Parkin all die Ausstrahlung, die er im Wald, in Wragby auf sie ausübte, unter diesen Verhältnissen verloren hat. Sie kann ihm jedoch jetzt das Versprechen abnehmen, mit dieser schweren Arbeit, für die er einfach nicht geeignet ist, aufzuhören und eine kleine Farm zu bewirtschaften, die Constance von ihrem Geld kaufen will. Mit dieser Überwindung seines Stolzes (ein Mann lässt sich schließlich von einer Frau nichts schenken oder kaufen) gewinnt Parkin wieder ein wenig von seinem alten Wesen zurück.. und wie ein ganz normales Liebespaar aus der Arbeiterschicht verabreden die beiden sich und gehen in ein Waldstück, um sich hinter Büschen versteckt zu lieben… wobei sie jedoch vom örtlichen Wildhüter ertappt werden….


John Thomas und Lady Jane bzw. in der ‘endgültigen’ Version ‘Lady Chatterleys Lover (bzw. kürzer einfach nur Lady Chatterley) ist einer der großen Ehebruchsromane des letzten Jahrhunderts. In seinem Nachwort zu der von mir gelesenen Ausgabe gibt Roland Gart (seinerzeit Cheflektor des Heinemann-Verlags, London, in dem die erste englische Ausgabe erschien) eine kurze Darstellung der Veröffentlichungsgeschichte dieses Romans, von dem Lawrence insgesamt drei Versionen verfasst hat. Die vorliegende ist die umfangreichste, die 1954 das erste Mal in Italien publiziert worden ist. Die erste englischsprachigen Ausgaben erfolgten erst 1972 in London und New York.

Das Buch – und damit ist jetzt im wesentlichen Lady Chatterley gemeint – war zu seiner Zeit ein Skandal. Die Darstellung einer echten Liebesbeziehung zwischen einem einfachen Mann aus der Arbeiterklasse mit einer jungen, verheirateten Frau der Oberklasse war an sich schon skandalös, sie ging weit über ein möglicherweise still duldbares Verhältnis dieser Art, das sich auf Sex beschränkte, hinaus. Daß der Autor diesen Sex für seine Zeit deutlich schildert, daß (in der deutschen Übersetzung) der Begriff ‘ficken’ (im englischen Original unprintable (four-letter) words) häufig auftaucht, daß die Befriedigung der durchaus aktiv auf Sex drängenden Frau durch den Mann eine so große Rolle spielt, weil diese nicht nur zum Höhepunkt kommt, sondern sich auch das Bewusstsein und die Wahrnehmung ihres Selbst durch dieses sexuelle Erlebnis wandelt, hat noch bis in die 60er Jahre hinein zu Problemen bei der Publikation des Romans geführt.

Trotzdem wäre (und ist) die Einordnung von Lady Chatterley als (nur) erotischem Roman irreführend. Die Erotik und der Sex sind für Lawrence Mittel zum Zweck. Welch anderen Weg hätte er gehabt, eine Verbindung zwischen zwei Angehörigen der Unter- bzw. Oberschicht zu schaffen als über diese ‘unkontrollierte’, über ein heimlich duldbares erotisches Verhältnis hinaus wachsende Liebesbeziehung. Denn in Wirklichkeit ist Lady Chatterley als Gesellschaftsroman zu lesen.

England hat im Ersten Weltkrieg enorme Verluste erlitten, über 700.000 Soldaten fielen auf dem Kontinent, in England selbst waren die Opferzahlen geringer, aber auf der Insel herrschte Not und Elend. Dies konnte nicht ohne Rückwirkungen auf die Gesellschaftsstruktur bleiben – und blieb es nicht [3]. Die Oberschicht sah sich durch aufmüpfige Arbeiter, die beispielsweise bolschewistisches Gedankengut verinnerlicht hatten, bedrängt und bedroht. Mein Gott, wenn wir hier in England eine Revolution bekommen, wie gern würde ich mit Maschinengewehren gegen den Mob vorgehen … Diese verdammten Sozialisten und Bolschewisten.. muss sich Constance Weihnachten von ihren Gästen anhören. Auch ihr Mann Clifford ist Mustervertreter einer Einstellung, daß die von altersher gegebene Teilung der Gesellschaft in ‘unten’ und ‘oben’ einer natürlichen Ordnung entspricht, Lawrence macht seine Einstellung stellvertretend für seine gesellschaftliche Schicht in vielen Diskussionen, die Clifford und Constance führen, deutlich. In anderer, i.e. erotischer Hinsicht ist Hilda, die Schwester Constances, Vertreterin dieser überkommenen Einstellung, sie will der Schwester deutlich machen, daß Männern der unteren Klasse allenfalls fürs Bett in Frage kommen, aber man ansonsten nichts mit ihnen zu tun haben sollte. Ein Gedanke wie ‘Heirat’ sei geradezu abwegig.

Lawrence macht damit Constance, die selbst der Oberschicht angehört, zur Verteidigerin der ‘Interessen’ der unter Klasse. Der Wildhüter, Oliver Parkin, wäre schwerlich selbst in der Lage gewesen, mit Clifford Chatterley zu diskutieren. In der endgültigen Version der Lady Chatterley ist Lawrence von dieser konsequenten Trennung der Klassen dann aber abgewichen: die Rolle des Wildhüters Parkin nimmt dort der Mellors ein, der fast ein Gentleman sein könnte…, der Offizier war, Sprachen beherrschte…

Es gibt einige sehr symbolträchtige Szenen im Buch. Schon die ganze Konstellation der Figuren ist ein Bild: Der Angehörige der Oberklasse, Clifford Chatterley, ist gelähmt, so daß er sich ohne fremde Hilfe nicht fortbewegen kann. Das Sexuelle sprich: Vitale galt ihm schon vor seiner Verwundung nicht viel, so daß ihm danach nur noch das Denken, Reden und Planen blieb. In einer Szene beschreibt Lawrence, wie auf einem Waldspaziergang, bei dem Clifford Constance begleitet, der Motor des Rollstuhls seinen Dienst versagt. Mit kaum zu bändigender Wut muss Clifford erdulden, daß ein Vertreter der Arbeiterklasse, nämlich der Wildhüter, ihn nach Hause schiebt. Ein schönes Bild dafür, daß die Oberklasse ohne die Arbeiter aufgeschmissen wäre….

[Clifford] war noch ohne Liebeserfahrung, als er heiratete, und das Sexuelle galt ihm nicht viel. … Und Connie schwelgte in dieser Intimität jenseits alles Geschlechtlichen, …. beschreibt es Lawrence in der endgültigen Version der Lady Chatterley. Parkin dagegen, obwohl aus schlechter Erfahrung heraus was Frauen angeht, sehr zurückgezogen, gelingt es sehr schnell, Connies dazu zu bringen, unbewusst spitze, helle Schreie auszustoßen. Ein Naturtalent.

Überhaupt – und dies las sich für mich jetzt unfreiwillig komisch – konstruiert Lawrence um das Zeugungsorgan des Wildhüters einen förmlichen Kult. Spürt Constance schon beim Anblick des bloßen Oberkörpers, daß es eine Welt gab, die rein und machtvoll leuchtete, daß sie einen Körper sah, der das Dunkel durchdrang wie eine Offenbarung, so deutlich wurde ihr, daß es Gott auf Erden gab; oder Götter. Im Verlauf ihrer Affäre sollte sie realisieren, was ein Phallus wirklich war: Es war ein primitiver, grotesker Gott – aber lebendig und unaussprechlich lebensvoll, … die Auferstehung des Fleisches. .. bei einem wirklichen Mann (wie dem Wildhüter) hat der Penis ein eigenes Leben und ist der zweite Mann im Mann. …. der Phallus im alten Sinne hat Wurzeln, die tiefsten aller Wurzeln in der Seele, … und durch die phallischen Wurzeln gelangt die Inspiration in die Seele. Oder kurz gesagt: Er hat etwas Sternengleiches an sich … wie ein kleiner Gott. … und so konnte es für Parkin nicht einfach ‘nur ficken’ geben, da bei ihm ‘ficken’ immer bis zu den phallischen Wurzeln der Seele reichte. … Männer wie Clifford dagegen haben einen garstigen Penis, mit dem sie schmutzige Spiele treiben wie kleine Jungs. … Diese Passagen wirken auf uns heutige Leser etwas … nun ja.. lächerlich, sie müssten allerdings, um sie wirklich einordnen zu können, im zeitgeschichtlichen Kontext gesehen werden, der möglicherweise im Kreise der englischen Intellektuellen Strömungen mit solchen Einstellungen aufweist. Das habe ich zugegebenermaßen nicht gemacht…. Zu berücksichtigen ist jedenfalls, daß Lawrence zur Bloomsbury-Group um Virginia Woolf und deren Schwester Vanessa Bell gezählt wird, der ‘sich aus den moralischen Fesseln ihrer Erziehung zu befreien’ trachtete [2].

Und ebenso Constance selbst war in den phallischen Kreis des Fleisches eingeschlossen, so sehr, daß sie den Wildhüter meist ohne Unterwäsche unter dem Kleid zu tragen, besuchte… Mit dieser letzten Bemerkung werde ich jetzt den erotischen Aspekt des Romans weitestgehend ad acta legen.

Aber selbst Parkin mit seinem ‘sternengleichen’ Körper und dem kleinen Gott zwischen den Beinen ist zwar Angehöriger der Unterschicht, aber kein wirklicher Arbeiter: als er gegen Ende des Romans Wragby verlässt und in Sheffield in einer Stahlfabrik arbeitet, verliert er allen Glanz und geht fast unter.

Kommen wir noch kurz auf Constance zu sprechen. Auch ihr Körper steht für etwas, ist Symbol für die dem Untergang geweihte Dekadenz der Oberschicht: Ihr Körper wurde nichtssagend, wurde schwer und trüb – so viel nutzlose Substanz! … Das geistige Leben! Eine jähe Welle wütenden Hasses überspülte sie – dieser Schwindel! Diese sehr negative Selbstwahrnehmung Connies ließe sich jetzt noch einige Absätze lang zitieren. Erst die Bekanntschaft und Erweckung durch den Wildhüter ließ sie wieder erblühen…


Die große Krise für die beiden Liebenden kommt, als Connie im Urlaub ist. Der vierzig(sic!)jährige Parkin wird vom Teufel versucht, dem Teufel in Gestalt seiner Frau. Von der lebte er zwar schon seit Jahren getrennt, aber jetzt taucht sie wieder auf und will ihn um jeden Preis verführen. Und was könnte normalerweise verführerischer sein als der bloße Frauenkörper, mit dem sie sich ihm anbietet? Doch Parkin widersteht der Versuchung, zwar gelingt es ihm nicht, den Teufel/seine Frau zu vertreiben, aber er selbst flieht ihn/sie. Die Nachricht von diesen Vorkommnissen, die Connie in ihrem Urlaub erhält, stürzt sie in tiefer Verzweiflung, hilft aber auch, in sich Klarheit zu schaffen über das, was sie wirklich will.

Denn das ist die große Unsicherheit, die beiden innewohnt: für ihn ist die Frage, ob sie tatsächlich die Klassenschranke überspringen wird und alles für ihn aufgibt, denn die gesellschaftliche Ächtung ihrer ehemaligen Klasse dürfte ihr sicher sein. Und für sie ist die große Frage natürlich, was kommt, wenn sie alles hinter sich lassen wird. Denn auch Parkin muss noch an sich arbeiten, seinen Stolz überwinden und akzeptieren, daß es in dieser Beziehung nicht so sein wird, daß der Mann seine Frau versorgt. Apropos: eine Heirat – auch dies dürfte damals ein Skandalon gewesen sein – planen die beiden nicht, im Gegenteil sieht Connie die Ehe als Tod einer Beziehung, weil man sich im Lauf der Jahre gegenseitig nur noch auf die Nerven geht.

John Thomas & Lady Jane und Lady Chatterley sind Romane, die sich doch durch mehr als Kürzungen oder Ergänzungen unterscheiden. Die Figur des Wildhüters ist anders angelegt, Parkin ist urtümlicher, während Mellors (wie er in Lady Chatterley heißt) mit viel gutem Willen fast akzeptabel sein könnte, auch der Schluss ist anders. In Lady Chatterley bittet Connie ihren Mann, sie freizugeben, den Abschluß bildet ein langer Brief Mellors an seine Geliebte, in dem unter anderen dieser bemerkenswerte Satz steht: So liebe ich denn jetzt die Keuschheit, weil sie der Friede ist, der dem Ficken entspringt. In John Thomas & Lady Jane dagegen bildet die schon erwähnte deprimierende Szene, in der die beiden Liebenden im Park vom Wildhüter aufgescheucht werden, nachdem sie die alte, schäbige Kirche, in der Byrons Herz bestattet worden war, besucht hatten, das Ende des Buches mit einem abschließenden Blick vom Hügel auf die tote Landschaft, unter der die Kohle und das Eisen liegen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Als Erotikon ist Lady Chatterley heutzutage kaum noch auf- oder erregend, die Passagen um den im Urgrund wurzelnden Phallus wirklicher Männer wirken im Gegenteil eher skurril. Lesenswert dagegen ist das Buch immer noch wegen der Beschreibung der Verhältnisse im England nach dem Ersten Weltkrieg, dessen Folgen die althergebrachte Gesellschaftsstruktur aufzubrechen droht. Sozialismus, Bolschewismus, die rapide Fortschreitende Industrialisierung – all das sind Herausforderungen, der die Klassengesellschaft in England in ihrem überkommenen Strukturen kaum erfolgreich entgegentreten konnte. Möglicherweise liegen hier sogar (zwar keine phallischen, aber immerhin) gesellschaftliche Wurzeln für die momentanen politischen Wirren der Insel, sprich, die Einstellung zur EU. Für die Schwierigkeiten, diese Klassenschranken zu durchbrechen, stehen Constance und Parkin, ihr (gemeinsames) Schicksal läßt Lawrence jedoch offen.

Ob sich Lady Chatterley bzw. John Thomas & Lady Jane (mit dieser Selbstbezeichnung übrigens beendet Mellors in Lady Chatterley seinen abschließenden Brief an seine Geliebte), die ja durchaus ihren Umfang – und damit ihre Längen – haben, heute noch zu lesen lohnt? Das ist die Frage, die ich hier auch nicht beantworten kann…. 😉

Abschließen möchte ich jedoch noch einen der ‘schönen’ Sätze, die Lawrence verfasst hat und die schätzungsweise damals die Gemüter angeheizt haben, zitieren:

Wir haben eine Flamme ins Sein gefickt.
Sogar die Blumen sind ins Sein gefickt
von der Sonne und der Erde.

Nun denn….

Links und Anmerkungen:

[1] zu D.H. Lawrence und seinem Werk: Michael Schmitt:
Der zwiespältige Prophet; in: https://www.nzz.ch/der-zwiespaeltige-prophet-1.653784
[2] vgl. im Wikibeitrag zur V. Woolf: https://de.wikipedia.org/wiki/Virginia_Woolf#Bloomsbury_Group
[3] vgl die Trilogie von Pat Barker, die sich mit diesem Thema auseinandersetzt: https://radiergummi.wordpress.com/tag/pat-barker/

D.H. Lawrence
John Thomas & Lady Jane
Übersetzt aus dem Englischen von Susanna Rademacher
mit einem Nachwort von Roland Gart
Italienische Erstausgabe: Mailand, 1954
Englische Erstausgabe: London, 1972
Amerikanische Erstausgabe: NY. 1972
diese Ausgabe: diogenes, TB, ca. 500 S., 1978

D.H. Lawrence
Lady Chatterley
diverse, teils ‘bereinigte’ Ausgaben von ‘Lady Chatterley`s Lover’ erschienen ab 1932 in verschiedenen Verlagen
Der/Die Übersetzer/in dieser Ausgabe ist nicht angegeben
Deutsche Buch-Gemeinschaft, HC, ca. 380 S., 1967

Herbert Schmidt
https://radiergummi.wordpress.com/