Ilva Fabiani: Meine langen Nächte

In “Meine langen Nächte” lässt Ilva Fabiani eine Tote auf ihre Entwicklung zur überzeugten Nationalsozialistin und ihren Dienst als “braune Schwester” zurückblicken. Der preisgekrönte Debütroman liegt nun in deutscher Erstübersetzung vor.

„Erneut werde ich vom Wind hochgehoben und weggetragen, weg von dieser weit zurückliegenden Nacht, weg vom Ruf des Waldkauzes. Dass sich mein Leben einige Jahre später fast nur noch nachts abspielen sollte, hätte ich damals nie geahnt. Das Hu Huhu dieser kleinen nachtaktiven Kreatur würde mich in den finsteren Nächten noch lange begleiten, in denen ich verzweifelt versuchte, meine am Tag verlorene Seele zu retten.“

Ilva Fabiani, „Meine langen Nächte“


Es ist eine ungewöhnliche Erzählperspektive, die Ilva Fabiani für ihren in Italien mehrfach ausgezeichneten Debütroman gewählt hat: Anna Alrutz spricht aus dem Reich der Toten zu den Lesern, reflektiert 90 Jahre später, wie es zu ihrer großen Lebensverirrung kommen konnte, warum sie im Glauben an eine furchtbare Ideologie dazu beitrug, das Leben anderer Menschen zu zerstören.

Die Wahl dieser Perspektive erscheint wie ein intelligenter Kunstgriff: Wie kann man sich dem Unbegreiflichen fiktional annähern, zumal als Autorin, die 1970, also lang nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten geboren ist? Fabiani gelingt es durch diese Technik, die tote Anna Alrutz selbst über ihre Kindheit und Jugend und ihre ideologische Verblendung reflektieren zu lassen und auf Erklärungssuche für das Unbegreifliche zu gehen.

Dass dies nicht ganz überzeugend aufgeht, mag zum einem daran liegen, dass selbst ein Roman, der versucht, seine Hauptfigur psychologisch so fein zu ziselieren, wie es Fabiani unternimmt, keine vollkommene Aufklärung bieten kann: Das Unbegreifliche entzieht sich immer ein Stück weit dem Wunsch nach logischer Nachvollziehbarkeit. Und darüber hinaus sind in der – freilich fiktiven – Vita der Anna Alrutz doch viele Grundlagen vorhanden, um nicht auf die „schwarze“ respektive „braune“ Seite zu rutschen.

Die verlorene Generation

Zwar gehört Anna altersmäßig zur „verlorenen Generation“, materiell spürt sie davon allerdings wenig.

„Jedem, der wie ich im Jahr 1907 geboren wurde, hätte das Jahrhundert normalerweise die Ehre zuteilwerden lassen, gleich zwei verheerende Kriege mitzuerleben.“

Doch, wie sie selbst sagt, wird sie vor dem Ersten Weltkrieg „durch eine Art kindliche Unversehrtheit bewahrt.“ Als älteste Tochter einer wohlhabenden Familie aus Braunschweig bekommt Anna die Not der Nachkriegsjahre selbst kaum mit, auch vom Hunger und der Armut ganzer Bevölkerungsschichten ist im Roman wenig die Rede. Die Familie kann es sich nach wie vor leisten, ihre Sommer im Kurort Salzgitter zu verbringen, Anna kann zudem später als eine der wenigen Frauen ein Medizinstudium aufnehmen. Ihr Vater vertritt liberale Ansichten, das Aufkommen der Nationalsozialisten betrachtet er mit Entsetzen und versucht, so gut es geht, seinen Kindern einen bildungsbürgerlich geprägten Humanismus vorzuleben.

Wohlbehütet in Krisenzeiten

Eine junge Frau, die also wohlbehütet aufwächst und in ihrem Lebensumfeld wenig von den sozialen Unruhen und Ungleichgewichten, die in ihrem Heimatland herrschen, spürt. Als in Salzgitter der Spielkamerad ihres Bruders krankenhausreif geschlagen wird, weil er Jude ist, ist Anna helfend zur Stelle, spricht gar davon, das Kind in die Familie aufzunehmen. Es fehlt ihr also nicht an Empathie und Mitgefühl. Was ihr im Wege steht, ist jedoch ein übergroßer Ehrgeiz und das Gefühl, nicht gut genug, nicht schön genug zu sein. Dass die Aufmerksamkeit der Eltern sich auf die schwerkranke jüngere Schwester Annas konzentriert sowie die vergebliche Verliebtheit in einen verheirateten, evangelischen Pastor trägt dazu bei, um die junge Frau anfällig für Verblendungen zu machen.

Die Beziehung zu einem Reichswehr-Mann und SA-Soldaten sieht sie als gewisse Aufwertung. Später, als Tote, versucht sie dies zu rechtfertigen:

„Mein Beinahe-Verlobter war ein Mörder und ich wusste nichts davon. Ich war eine ebenso dumme Gans wie viele andere Mädchen meines Alters.“

Sätze wie dieser hinterlassen einen Nachgeschmack, erinnern an die Haltung vieler Deutscher, die von „nichts etwas gewusst hatten“. In ihrem Ansatz, das Abrutschen in eine Ideologie überwiegend auf der psychologischen Ebene zu erklären, wird Ilva Fabiani an anderer Stelle noch deutlicher:

„Wie soll man den Enkelkindern denn erzählen, dass die Großmutter sich auf den Nationalsozialismus eingelassen hat, weil sie sich mit siebzehn Jahren wie eine alte hässliche und hoffnungslose Jungfer fühlte? Wie dem Wind, der mich hochhebt und wieder hinunterwirft, erklären, dass die Macht des Leitwolfs darin bestand, das Innerste jedes Einzelnen aufzuwühlen, wo sich die Enttäuschungen, die Ängste, die Schicksalsschläge und die Einsamkeit verbergen?“

Vielleicht, das kann ich nur spekulieren, lag das Motiv Fabianis, ihre Hauptfigur so zu charakterisieren, darin, ihren Lesern zu zeigen: Keiner ist vor solchen ideologischen Verführbarkeiten gefeit, jeden kann es, wenn er sich in einer Lebenskrise befindet, treffen. Ganz geht diese Rechnung für mich jedoch nicht auf, zu wenig nachvollziehbar bleibt für mich der Weg zu wohlbehüteten Mädchen hin zur „braunen Schwester“ und zurück: Wieder ist es die Liebe, dieses Mal zu einem französischen Medizinstudenten mit jüdischen Wurzeln, die Anna am Ende die Augen öffnet und erneut „umdreht“. Von der Mittäterin wird sie zu einer Frau, die Widerstand übt, den sie letzten Endes als Hochverräterin mit dem Leben bezahlt.

Zwangssterilisationen als Programm

Am bewegendsten und greifbarstem wird der Roman für mich im letzten Drittel, als Fabiani detaillierter auf das Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten und deren Programm der Zwangssterilisation eingeht: Schätzungsweise bis zu 400.000 Menschen wurden dem unterworfen, weil sie als „erbkrank“ eingestuft wurden, zum Teil aus ganz willkürlichen Gründen.

Auch an der Universitätsklinik Göttingen, wo Ilva Fabiani, die als Italienisch-Dozentin an der Göttinger Universität tätig ist, Anna ihren Dienst als „braune Schwester“ tun lässt, kam es dazu: „Leider ganz real sind die 787 Frauen, die in den Räumlichkeiten der Klinik auf schreckliche Weise und vollkommen willkürlich sterilisiert wurden. Ihnen und den wenigen Krankenschwestern, die sich ihrer erbarmten, ist diese Geschichte gewidmet“, schreibt die Autorin im Nachwort.

Dort, wo sie Anna, die sich als „braune Schwester“ an den Sterilisationen beteiligt, von den einzelnen Frauen, deren Widerstand gegen den Eingriff, deren Ängsten und Verzweiflung erzählen lässt, ist das Buch am stärksten.

„Die Sterilisationen waren im Grunde einfache Eingriffe. Schwierig war hingegen die Aufnahme der Patientinnen. Manchmal wurden die Frauen von der Polizei gebracht, und wir mussten sie sofort sedieren. Die Aufsässigsten von ihnen wurden in einen Raum eingeschlossen (…). Keine Bettlaken, nur feste Wolldecken, die man nicht zusammenknoten konnte.“

Die an diesen Stellen nüchterne Erzählweise zeigt die ganze Perversion des nationalsozialistischen Systems. Wie sehr darin gerade auch Ärzte und Wissenschaftler verstrickt waren, welchen Aderlass Universitäten wie Göttingen durch die Vertreibung jüdischer und nicht gleichgeschalteter Wissenschaftler (Max Born, Felix Bernstein, Emmy Noether) erfuhren, auch das wird auf den letzten Seiten eindrucksvoll deutlich.

Der Wechsel aus poetischen Passagen und nüchterner Detailbeschreibung, die Erzählperspektive, die die Hauptfigur auf ihre Vergangenheit blicken lässt, aber vor allem die Thematik der „braunen Schwestern“ machen „Meine langen Nächte“ zu einem lesenswerten Roman, auch wenn mir die Protagonistin in ihrer Entwicklung „unfassbar“ und seltsam fremd blieb.


Bibliographische Angaben:

Ilva Fabiani
Meine langen Nächte
Übersetzt von Birgit Ulmer
Steidl Verlag, 2023
ISBN 978-3-96999-198-5

Hildegard E. Keller: Was wir scheinen

„Wahrheit ist kein Geschenkartikel“, heißt es an einer Stelle des Buches. So bekam auch Hannah Arendt, die sich plötzlich einer feindseligen Öffentlichkeit gegenübersah, für ihren Mut zum selbständigen Denken nichts geschenkt. Wie die Denkerin zu dem wurde, was sie war (und nicht nur schien), dies zeichnet Hildegard Keller in ihrem geschickt aufgebauten Roman wunderbar nach.

„Sie schüttelte den Kopf. Gleichschaltung ist wirklich ein hässliches graues Wort. Das Wort für das Grauen, dasselbe Grau wie auf dem Gesicht im Glaskasten. Wissen wir denn, warum ein Mensch sich so durch und durch farblos machen lässt? Warum einer zulässt, dass man ihn zu einem Instrument in den Händen anderer macht? Ein Instrument, ganz egal, wofür, Hauptsache, ich gehöre nicht mehr mir selbst und trage nicht mehr die Verantwortung für das, was ich tue? Nein. Keiner vermag in die Seele eines andern hineinzuschauen. Niemand weiß, warum einer wollen kann, dass er nicht mehr der ist, der er ist.“

Hildegard E. Keller, “Was wir scheinen”


Es ist bereits viel über den ersten Roman der Schweizer Literaturkritikerin Hildegard Keller geschrieben worden und all das Positive, was über „Was wir scheinen“ berichtet wurde, es ist richtig. Tatsächlich tritt einem die poetische Denkerin Hannah Arendt aus diesem Buch so lebendig und nahbar entgegen, dass man meint, eine Mischung aus „der Arendt“, wie man sie unter anderem aus dem Gaus-Interview kennt und einer Barbara Sukowa, die sie im Film verkörperte, zu begegnen. Fiktion und Realität verschmelzen hier aufs Schönste.

Hannah Arendt (1906 – 1975), die nach ihrer Flucht 1933 aus dem nationalsozialistischen Deutschland ab 1941 in den USA lebte, kam immer wieder nach Europa zurück, unter anderem verbrachte sie regelmäßig Ferien im Tessin. Ihr letzter Tessin-Aufenthalt ist der Rahmen der Erzählung: Arendt ist allein, von den wenigen noch lebenden Freunden ist keiner greifbar. Zum Arbeiten zu unkonzentriert, zum Faulenzen zu unruhig, wandern die Gedanken zurück in die Vergangenheit: Zu den Jahren des Studiums bei Jaspers und der Liebe zu Heidegger, zur Pariser Zeit, als sie sich mit Walter Benjamin befreundet und ihren Mann Heinrich Blücher kennenlernt, zu den Anfängen mit Heinrich und ihrer Mutter in New York und natürlich zu dem prägenden Ereignis ihres beruflichen Lebens, das sowohl politisch und als auch privat einen Bruch darstellt: Der Eichmann-Prozess, der im April vor 50 Jahren begann. Ihren Berichten im New Yorker darüber und ihrem darauffolgenden Buch folgten Wellen der Empörung, eine regelrechte Hetzkampagne, heute würde dies als Shitstorm bezeichnet.

Das erste Gedicht war eine Reflexion über die Kraft des
Wassers, die sie an Brechts Legende erinnerte. Wenn im Innern
des Steins Wasser gefriert, bringt es ihn zum Bersten, nur was
gibt ihm die Kraft dazu? Merkwürdige Frage, aber sie schlägt
die Brücke ins Unsichtbare.
Bild: Schlucht im Tessin, Bild von adege auf Pixabay

Ihre missverstandene These von der „Banalität des Bösen“, ihr unabhängiger Blick auf die Rolle der Judenräte, ihre Weigerung, sich als Jüdin einen bestimmten Blick auf Eichmann und auf die Prozessführung in Jerusalem anzueignen, dies alles stellte Hannah Arendt in den Zentrum eines Empörungssturms. Welche Verletzungen, welche Schrammen Hannah Arendt dabei davontrug, darüber äußerte sie sich öffentlich nicht.

Keller zeigt die Philosophin von einer ganz unbekannten Seite

Diesen Blessuren geht Hildegard Keller in ihrem Roman auf den Grund, nähert sich behutsam der verletzbaren, „weichen“ Seite der Denkerin, die dennoch streitbar und unbeugsam blieb, an. Die Form des biographischen Romans ist nicht unumstritten – im schlimmsten Fall überwiegt die Interpretation über die Realität, werden historische Personen zu Figuren umgezeichnet. Hildegard Keller umgeht diese Falle elegant und intelligent und spielt sogar charmant mit dieser Falle, in die auch sie hätte tappen können:

„Fiktiv werden ist nicht schön, wenn alles erstunken und erlogen ist“, reflektiert die Hannah Arendt des Romans beim morgendlichen Sinnieren im Bett. „Stillgelegt wie Figuren in einer Farce. Ach, wen geht es an, was wir sind und scheinen.“

Aber: „Wenn man zur Romanfigur gemacht wird, ist das natürlich was Anderes. Im Zeichen der Dichtung darf man schließlich einen Funken von Inspiration erwarten.“

Ein Roman, der zum Denken auffordert

Profunde Faktenkenntnis gepaart mit Inspiration, das Spiel mit Schein und Sein, dies geht bei diesem biografischen Roman eine glückliche Verbindung ein. Doch der größere Verdienst von „Was wir scheinen“ liegt nun nicht darin, dass „die Arendt“ so lebensnah erscheint, sei es, wenn sie Ingeborg Bachmann zeigt, wie man amerikanischen Speck brät, wenn sie mit zwei Fingern pfeift oder ein wenig verschämt-stolz ihre Straußenledertasche ausführt und dadurch von Keller etwas vom Status der politischen Pop-Ikonie, zu der Arendt ebenfalls geworden ist, weggerückt wird. Sondern, dass dieses Buch geradezu dazu animiert, den Kant`schen Leitspruch „Sapere aude!“, dem sich auch Hannah Arendt verpflichtet fühlte, anzueignen. „Was wir scheinen“ ist auch – ohne irgendwie professoral daherzukommen – eine Einführung in das selbständige Denken, eine Aufforderung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.

Wahrheit ist kein Geschenkartikel

„Wahrheit ist kein Geschenkartikel“, heißt es an einer Stelle des Buches. So bekam auch Hannah Arendt, die sich plötzlich einer feindseligen Öffentlichkeit gegenübersah, für ihren Mut zum selbständigen Denken nichts geschenkt. Wie die Denkerin zu dem wurde, was sie war (und nicht nur schien), dies zeichnet Hildegard Keller in ihrem geschickt aufgebauten Roman wunderbar nach:

„Er (Heidegger) hat mich unterscheiden gelehrt, das Beste überhaupt.  Wissen Sie, uns Studenten war der gelehrte Gegenstand damals ziemlich gleichgültig, nicht aber das Denken. Noch heute ist es rar an den Universitäten, weil man dort ja immer über etwas oder jemanden arbeitet. Wer denkt, sagte Heidegger, steht nicht über den Dingen, sondern geht in sie ein. Der Denkende ist mittendrin.“

(Nur als Einschub: Gerade die Beziehung zu Heidegger, die über dessen nationalsozialistisches Engagement hinweg bestehen blieb, zeigt, dass Hannah Arendt mehr war, als sie schien).

Die Bereitschaft und Fähigkeit zum unabhängigen Denken, wie sie Hannah Arendt von sich und anderen verlangte, ist in einer Zeit, in der Wahrheiten in einem Wust von fake news unterzugehen zu scheinen, notwendig wie eh und je. Und wenn die Aufforderung, selbst zu denken, so gescheit und unterhaltsam wie in diesem Roman vermittelt wird, dann bitte gerne mehr davon!


Informationen zum Buch:

Hildegard E. Keller
Was wir scheinen
Eichborn Verlag, 2021
Hardcover, 576 Seiten, 24,00 €
ISBN: 978-3-8479-0066-5

Judith Hermann: Aller Liebe Anfang

Öko-Links wird bürgerlich. Doch in das Vorstadtidyll schleicht sich das Grauen ein. Ein Roman über Stalking und die Fragilität der Liebe.

„Sie erkennt ihn an seiner Haltung, an seinem Ausdruck, sie ist sich sicher und trotzdem überrascht, wie jung er ist, wie hübsch und wie müde. Er trägt einen schwarzen Kapuzenpullover. Keine Jacke mehr, trotz der frühabendlichen, frühsommerlichen Kälte. Sie kann nicht sehen, was in seinem Pappkarton drin ist, was er kauft. Er macht noch einen Schritt vor und stellt den Pappkarton aufs Förderband, dann schaut er auf, vielleicht weil er spürt, dass er angesehen wird. Sein Blick geht suchend über die Leute hin. Trifft Stellas Blick.
Mister Pfister sieht sie an.
Stella sieht Mister Pfister an, sie denkt, spürst du das, der ganze Weg, den man zum anderen hin auf sich nehmen kann, ist ja in diesem Blick. Der Weg hin, der Weg zurück auch.
Zorn, Höflichkeit, noch was anderes.“

Judith Hermann, „Aller Liebe Anfang“


Es gibt einen Judith Hermann-Sound. Die Schriftstellerin, die sich erfreulicherweise so viel Zeit lässt mit ihren Büchern, die zwischen den Werken stille Jahre einfließen lässt und nicht wie andere, die – wie sie auch – schon mit dem Debüt als literarische Sensation gefeiert wurden, dann eines nach dem anderen abliefern. Und doch, nimmt man nach diesen Pausen ein neues Buch von ihr in die Hand, erklingt da eine vertraute Stimme wieder, taucht man in diese unaufgeregte Sprache ein, eine ruhige Sprache, die selbst dann beruhigt, wenn sie von beunruhigenden Dingen erzählt. Wie in ihrem 2014 erschienen Roman „Aller Liebe Anfang“.

Drei Bände mit Erzählungen hat Judith Hermann, 1970 geboren, zuvor veröffentlicht: 1998 „Sommerhaus, später“, 2003 „Nichts als Gespenster“, 2009 „Alice“ – beinahe im fünfjährigen Rhythmus, viel Zeit dazwischen, eine, die sich offenbar nicht vereinnahmen lässt von einem hektischen Literaturgetriebe, das immer und stets nach Neuem schreit. Doch nicht nur damit entspricht sie wenig dem Zeitgeist – auch in der Sprache, die in ihrer zarten Bedächtigkeit, mit dieser leisen Melancholie manches Mal beinah schon altmodisch klingt.

binoculars-2474698_1920
Bild von Oliver Kepka auf Pixabay

Dagegen waren manche ihrer Erzählungen jedoch durchaus in einem „zeitgeistischen“ Milieu angesiedelt, eine Mischung aus Studentenleben, Künstlerkreisen, ein bisschen Bohème und Biokost, irgendwo zwischen Prenzlauer Berg und Friedrichshain verortet.

Als „Sommerhaus, später“ 1998 erschien, wurden eine Viertelmillion Exemplare davon verkauft, eines auch an mich. Die Renaissance der deutschen Kurzgeschichte wurde gefeiert. Judith Hermann schreibt viel über Menschen, die irgendwo während einer Reise, bevorzugt in nordische Länder, melancholisch Kaffee aus zerknitterten Plastikbechern trinken. Oder im Zug mit einem Freund sitzen, der Bier aus der Dose und den Parka aus der Kleiderkammer für modische Accessoires hält. Bei Liebespaaren ist die Trennung – niemals dramatisch, sondern lapidar – schon vorgezeichnet, und selbst wenn die Menschen sagen, dass sie glücklich sind, klingt das ziemlich traurig. Soviel Melancholie kann in einem Erzählband ganz schön sein, machmal aber auch ermüdend.

Der ganz spezielle Sound von Judith Hermann

Dann also erstmals ein Roman. Ich war gespannt, ich war interessiert – würde dieser spezielle Hermann-Sound eine längere, rundere Geschichte tragen oder würde das Buch in schöner Melancholie versickern? Vorweggenommen: Der Sound trägt einen durch das ganze Buch, ein Sprach- und Lesefluss, der durchaus mitnimmt. Dazu trägt zudem der Plot bei, der durchaus Spannungsmomente in sich birgt. Ein schön geschriebenes, lesbares Buch, ein Roman, der Leichtigkeit und Schwere vereint – vielleicht kein Roman, der lange nachhallt, aber auch alles andere als verschwendete Lesezeit.

Die Figuren der Judith Hermann sind erwachsener geworden. Sie leben in einem Vorort, Mann, Frau und Kind, er wochentags auf Baustellen unterwegs, sie pflegt alte Menschen. Scheinbar eine Kleinstadtidylle.

Äußere Beschreibungen wie bei einer Kamerafahrt:
„Ein Haus aus Backstein mit einem moosigen Ziegeldach. Eine Haustür mit eingefassten Bleiglasscheiben, zur Linken eine Bank aus Holz, neben der Bank ein Olivenbäumchen in einem Tontopf, unter der Bank Avas Gummistiefel, Stella weiß gar nicht, wie die da hingekommen sind, seit wann sie schon da stehen. Rechts von der Haustür das Panoramafenster, deutlich sichtbar der Sessel, die zerknautschte Decke über der Armlehne, die Bücher in Stapeln und auf dem breiten Fensterbrett Kissen, ein Stoffzebra und ein Teeglas, eine Flasche Wasser und etwas Kleines, von dem Stella glaubt, dass es Jasons Brillenetui ist. All das ist zu sehen, einen Augenblick lang ist sie fassungslos über diese Ausstellung von Privatem, über ihre Gedankenlosigkeit.“

Würde nicht bereits angedeutet, dass nicht hinter, aber vor der Fassade nicht alles stimmt – so wäre dies beinahe ein wenig zu viel Idyll, knapp am Kitsch vorbeigeschrammt: Öko-Links wird bürgerlich, richtet sich ein in der Behaglichkeit. Doch eben so leise, wie Hermann als Autorin wirkt, so leise schleicht sich auch die Unbehaglichkeit, das langsam zum Grauen wird, in das Vorstadtidyll ein, in Person des Mr. Pfister.

Der Stalker besetzt auch die Gedanken

Ein Stalker, der beginnt, in Stellas Alltag zu dringen, aber schlimmer noch, in ihre Gedanken. Der plötzlich Raum einnimmt und eindringt vor allem in die Beziehungen zu anderen – zum Ehemann, zur Tochter, zur Kollegin, zu ihren Patienten. Stella kommt an ihre Grundfesten – erinnert sich an die Anfänge ihrer Liebe zu Jason, muss sich auch dieser Liebe immer wieder vergewissern, erinnert sich an alte Zeiten, als alles noch unbelastet war, erinnert sich an Träume vom Leben, die verschüttet wurden vom Alltag. Die positive Botschaft: Letztendlich setzt diese Grenzerfahrung wieder Prozesse frei, ermöglicht einen Re-Start, einen neuen Anfang aller Liebe.

Dennoch: Stalking ist ein Phänomen unserer Zeit, das oftmals Betroffene, aber auch deren Umwelt in Rat- und Hilflosigkeit versetzt. Judith Hermann beschreibt den Ablauf, vom ersten unerwünschten Kontakt, dem Klingeln an der Haustür, dem Wunsch nach einem Gespräch mit Stella, bis zur Eskalation (ungewöhnlich spektakulär für Hermann`sche Verhältnisse) in ihrer zurückgenommenen Sprache so, als habe sie es beinahe selbst erlebt. Sie muss die Gefühlswelten, die Stella durchlaufen muss, nicht „ausschreiben“, um ein Bild dessen zu malen, was im Inneren der Betroffenen vorgeht.

Die Meisterin der Beschneidungskunst

Hermann, „Meisterin der Beschneidungskunst“, lässt Stella die ganze Gefühlspalette durchleben – Angst, Verunsicherung, Wut, Zorn, das Bemühen, zu verstehen: „Warum gerade ich?“. Wie erstaunlich viele Menschen, die dies erleben, gibt es keinen Anlass, der das Verhalten eines Stalkers rechtfertigt, ist das Ziel oftmals nur zufällig ausgelöst – bedingt durch einen einmaligen Kontakt, durch eine zufällige Nähe (hier die Nachbarschaft), das Opfer eine Folie für die unerfüllten Lebensziele und Träume des psychisch angeknacksten Verfolger.

Zunächst hatte ich mich über das Thema dieses Romanerstlings gewundert – vieles hätte ich von Judith Hermann erwartet, aber keinen Roman über Stalking. Doch beim Lesen wurde mir klar: Gerade das passt. Weil dies eine zwischenmenschliche Grenzerfahrung ist. Weil es Gefühle auslöst, die so schwer fassbar sind. Weil sich diese Erfahrung des eigenen Lebens bemächtigen könnte. Und weil ein Stalker Unerklärbares tut, sich selbst wahrscheinlich auch kaum erklären könnte.

Das Unerklärbare in den Beziehungen zwischen Menschen – genau das ist Judith Hermanns Metier.


Bibliographische Angaben:

Judith Hermann
Aller Liebe Anfang
S. Fischer Verlage, 2014
ISBN: 978-3-10-033183-0