Das langsame Erwachen des Mädchens mit dem Pfauenfächer: Gabriele Tergit – Der erste Zug nach Berlin

„Anfang Mai verabschiedete ich mich von der ganzen Bande und wir gingen noch mal ins Twenty-One. Ich ging in meinem großen Abendkleid von Chanel zum Aerodrom mit einem Pfauenfächer, das Neueste aus Paris.“

Gabriele Tergit, „Der erste Zug nach Berlin“, Schöffling & Co, 2023

Voilà, hier haben wir sie: Die 19-jährige Maud, eine nicht dumme, aber zunächst reichlich naiv daher plaudernde Angehörige des amerikanischen Geldadels. Mehr durch Zufall ­– und auch, weil sie vor der Heirat mit dem Sohn vom Governor Perry noch eine kleine Sause erleben will – wird sie Mitglied einer amerikanischen Mission ins Nachkriegsdeutschland. Der Verlobte sieht das kritisch:

„Er sagte, ich sei eine Närrin, nach dem wilden Europa zu gehen, wenn ich in dem schönen New York mit seinem sanften Klima und noch sanfteren Sitten bleiben könnte. Dass ein Mensch aus Vergnügen nach Europa ginge, habe er überhaupt noch nicht gehört.“

In der Tat betrachtet Maud die Reise, die die Gruppe nach London und dann in das zerbombte Deutschland und in den Osten führt, zunächst wie einen abenteuerlichen Jux. Sie ist Zeugin zahlreicher erregter politischer Diskussionen, die sie kaum nachvollziehen kann – ein handwerklicher Kunstgriff, der den Lesern auch heute noch die Augen öffnet für das Klima, in dem die Nachkriegspolitik der Besatzungsmächte stattfand. Die Erfahrung des Krieges als Nährboden für überbordenden Patriotismus und kapitalistische Gier: Im Preisausschreiben einer englischen Zeitung wird dazu aufgerufen, „alle Dinge aufzuschreiben, die wir aus dem Empire bekommen können oder auf die wir verzichten können und die noch immer woanders gekauft werden“. Der Brexit lässt grüßen.

„Der erste Zug nach Berlin“ ist ein schmaler Roman Gabriele Tergits, den die jüdische Schriftstellerin unter dem Eindruck ihrer eigenen ersten Berlin-Reisen 1948 und 1949 schrieb. Man kann davon ausgehen, dass die Autorin, die sich vor ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland auch als Journalistin beim Berliner Tageblatt und Gerichtsreporterin einen Namen gemacht hatte, die Verhältnisse in Deutschland weitaus scharfsinniger und klüger kommentierte als ihre Kunstfigur Maud. Doch gerade deren Blauäugigkeit ist ein genialer Kunstgriff Tergits, der es dadurch gelingt, die Grausamkeiten, Härten und Absurditäten dieser Zeit aus einer quasi neutralen Position zu schildern – nicht nur die Kriegsgewinnler und Kollaborateure erhalten so einen Auftritt, sondern auch die Interessensvertreter aus den Besatzungsmächten, die zum Teil durchaus auch Sympathien für den Antisemitismus des Hitlerstaates hegten. So bekommt in diesem schmalen Buch, das nun erstmals nach dem Original-Typoskript erschien (zu Lebzeiten von Gabriele Tergit blieb es unveröffentlicht), jeder sein Fett ab.

In ihrem Nachwort betont Herausgeberin Nicole Henneberg, die sich um die Wiederentdeckung Gabriele Tergits verdient gemacht hat, zur Erzählerin Maud:

„Aber Maud ist nicht nur naiv, sondern auch abenteuerlustig und fest entschlossen, ihre Augen weit aufzureißen und alles mitzumachen, auch wenn sie die Verhältnisse um sie herum nicht versteht und die Gespräche noch viel weniger.“

Sie werde so zu einer „Kamera mit weit geöffneter Blende“.  Ein idealer Ausgangspunkt, meint Henneberg, „um alles ohne Unterschied aufzunehmen und zu schildern (…), ohne zu werten oder zu zensieren. Was so entsteht, ist eine Szenenfolge, die auf dem schmalen Grat zwischen Satire und Tragik balanciert (…).“

Maud ist zwar Ohrenzeugin – „Ich hörte gespannt zu und dachte, wie schön es ist, etwas zu lernen“ – aber stürzt sich in ihrer Blauäugigkeit erst einmal von einer Verliebtheit in die andere, bis sie in den Armen eines Deutschen landet, dessen exzellente Manieren und selbstsicheres Auftreten Eindruck hinterlassen. Erst spät erkennt sie, dass dieser Herbert Stegen, der sich als Journalist bei den Engländern andient, einst ganz eng mit Goebbels war: Nur einer von mehreren Mittätern und Mitläufern in diesem Roman, die zeigen, wie nahtlos es für viele Hitler-Anhänger auch nach dem verlorenen Krieg weiterging. Überhaupt trifft Maud auf zahlreiche Deutsche, die der Nazi-Ideologie ungebrochen anhängen, so auf ein Zimmermädchen, „sie war sehr groß, hatte blonde Zöpfe um den Kopf“, das sich weigert, „den Feinden den Koffer auszupacken“. Die anschließende Diskussion mit den englischen Reisemitgliedern zeigt die Schizophrenie jener Zeit:

Miss Battle-Abbey sagte: „Jeder kann sich ein Beispiel daran nehmen. Hitler hat wirklich den Selbstrespekt des deutschen Volkes wieder hergestellt.“

Für das langsame Erwachen und den Erkenntnisgewinn Mauds sorgen letztlich nicht nur ihre eigenen Erlebnisse, sondern vor allem der Kontakt zum amerikanischen Journalisten Merton, der ihr „das andere Deutschland“ zeigt. Eine Schlüsselszene dieses trotz seines leichten Grundtons, der mitunter auch an die Romane Irmgard Keuns erinnert, düsteren Romans ist der Besuch der beiden bei dem deutschen Journalisten Reinhold, der von den Nazis gefoltert und im KZ gequält vor den Augen der Amerikaner an Auszehrung stirbt. Die Suche durch „Schutt und Asche“ nach einem Arzt wird für Maud wie zu einem Abstieg in die Hölle, insbesondere beim Blick ins ärztliche Wartezimmer:

„Es saßen da Tod und Teufel, Krankheit und Hunger, eine alte Frau, fett und gierig und neidisch, und ein junger Mann, er hielt eine Uhr in der Hand und grinste, ein Geschöpf war da voll von Bandagen mit Auswuchs und ein kleines Kind mit einem aufgeblähten Bauch. Ich stand im Zimmer und ich wusste, Krankheit, Tod und Teufel und Hunger würden mich holen, wenn ich nicht aufhörte zu denken und mitzuleiden und zu wollen, wenn ich nicht so rasch wie möglich aus Europa floh.“

Die ganze Erschütterung, die auch Gabriele Tergit bei ihren beiden Berlin-Reisen Ende der 1940er-Jahre erfahren haben muss, werden hier spürbar. Und wie Maud zog es Tergit, die an „ihrem“ Berlin hing, nie mehr zurück, sie blieb in London, das ihr zur neuen Heimat geworden war und wo sie 1982 starb. Maud, das Mädchen im Chanelkleid und mit dem Pfauenfächer, kehrt nach drei Monaten um einiges klüger und reifer geworden, in die Vereinigten Staaten zurück, heiratet ihren Clark Perry und lebt im „modernsten Flat in New York“. Merton, jene Romanfigur, die die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge am klarsten durchschaute und kommentierte, sieht sie nur noch einmal, als „lay preacher“, etwas verkommen aussehend, an einer Ecke stehen:

„Nur drei Leute hörten ihm zu: der eine war bucklig, der andre war blind, der dritte war lahm.“

„Der erste Zug nach Berlin“ ist eine literarische Überraschungstüte und eindrucksvolles Zeitzeugnis zugleich: Knallbunt und doch auch düster, tragisch und komisch zugleich, wie von leichter Hand geschrieben und doch voll tiefem Ernst.

Eine ausführliche und kenntnisreiche Besprechung von Fabian Wolff erschien in der Süddeutschen Zeitung.

Der Roman erschien im Schöffling Verlag, der mir für diese Besprechung ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte.

Das letzte Wort soll Merton gehören:

„Dieses Spiel spielt die Menschheit seit einigen tausend Jahren“, sagte Merton. „Ich bin der Letzte, der findet, dass es auf ein paar Hundert Quadratmeilen ankommt. Aber solange das der Maßstab für Ehre ist, solange alle nationale Leidenschaft sich auf ein paar Quadratmeilen Land irgendwo erstrecken kann, soll man sehr vorsichtig mit territorialen Änderungen sein, die nächste Generation muss immer dafür sterben. Wir alle leben in einer Welt.“

Ulrich Becher: New Yorker Novellen

new-york-1867569_1920

Bild von Pexels auf Pixabay

„Doch er war frei von jedwedem Gruppenhaß. Indes ein Deutscher. Und akkurat dieser auf der Altleutebank hockende Deutsche, fürchtete der Doktor dumpf in schlafarmen Nächten, werde vor das Tribunal gezogen werden wegen der namenlosen Untaten der deutschen Schreckensherrscher …
Ja, er hatte heimliche Sorgen, der erfolgreiche Seelenwart der Park Avenue. Nicht war er ohne Liebe. Doch konnte sie nicht als Triebkraft seines Daseins gelten. Diese Triebkraft, die ihn hatte vom Schlachtfeld des Ersten Kriegs in die Schweiz fliehen, zum Pazifisten werden, aus dem Dritten Reich fliehen, zum Hitlergegner werden lassen, dieser Motor, der ihm nimmer erlahmte, trag einen knapperen Namen:
Angst.“

Ulrich Becher, „New Yorker Novellen“.

Alle paar Jahre wird sein Magnum Opus, der 1969 erschienene Roman „Murmeljagd“, wiederentdeckt und gefeiert (verdientermaßen), als sei diese literarische tour de force durch die Schweizer Berge ein aufsehenerregendes Debüt. Dabei wäre es mehr als überfällig, Ulrich Becher (1910 – 1990) gleichrangig mit anderen Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zu nennen und den Blick auf sein gesamtes Werk zu öffnen.

Wie Markus Bauer 2012 in „Der Tagesspiegel“ erwähnte, war der Berliner zu Lebzeiten in Österreich bereits ein Klassiker:

„Nach der Flucht von dem havarierenden Kontinent Europa nach Brasilien hatte der Exilant in den USA mit dem Piscator-Schauspieler Peter Preses das Stück „Der Bockerer“ über die Wurzeln des Faschismus in Österreich geschrieben, ein unübertroffenes, vielleicht nur noch vom „Herrn Karl“ seines engen Freundes Helmut Qualtinger sekundiertes Spiegelbild des Verhaltens der Alpenländler im Faschismus.“

Der Schöffling Verlag hat nun dankeswerterweise nicht nur die „Murmeljagd“ wieder aufgelegt, sondern auch die drei „New Yorker Novellen“, die zwanzig Jahre zuvor erschienen waren. Becher, den die Flucht vor den Nationalsozialisten durch etliche europäische Länder, schließlich nach Brasilien und 1944 an den Big Apple getrieben hatte, konnte diese Impressionen der New Yorker Zeit erst in deutscher Sprache veröffentlichen.

Drei Novellen, die das Fremdsein und Fremdbleiben, das Unbehauste der Vertriebenen, auf ganz unterschiedliche Art und Weise beschreiben. Eines haben sie jedoch gemeinsam: Diesen schwarzhumorigen Unterton, die beinahe groteske Verzerrung mancher Situationen, die nicht von ungefähr an George Grosz erinnern: Ulrich Becher, eine Doppelbegabung als Schreibender und Malender, war Schüler und Freund des großen Künstlers.

Doch trotz der Lust am Sprachwitz und ungeheurer Kapriolen – allein, wie aus dem schmächtigen Flüchtling Hans Heinz Nachtigall der wohlsituierte und erfolgreiche Psychoanalytiker John Henry Nightingale wird, zeugt von der Spielfreude des Autors – sind die Erzählungen auch geprägt von einem düsteren Setting: Der in den USA aufgestiegene Nightingale, der es nicht wagt, seinen betagten Vater in Deutschland, den er allein zurückließ, aufzusuchen, der arme jüdische Exilant, der in der Erzählung „Der schwarze Tod“ von seinen Erinnerungen an das Konzentrationslager Dachau eingeholt wird, der amerikanische Soldat, traumatisiert von den Kriegserlebnissen, der in „Die Frau und der Tod“ durch das nächtliche New York streift, einer ebenso betörenden und verstörten Frau auf der Spur.

Als diese New Yorker Novellen im Nachkriegsdeutschland erschienen, waren sie nicht unumstritten: Ausgerechnet dem Exilautor, der mit seinem Witz eben niemanden verschonte, soll „antisemitische Propaganda“ unterstellt worden sein, andere hielten ihn für einen unverbesserlichen Kommunisten. Es ist zu hoffen, dass Ulrich Becher, so wie es Moritz Wagner, Herausgeber der „New Yorker Novellen“ es in seinem Nachwort andeutet, auch eine Lebenseinstellung hatte, die er in seinen Werken immer wieder durchblicken lässt: Das Komische als Überlebenshilfe, kein „Lamento-Boy“ sein.

Schon alleine wegen dieser literarischen Herangehensweise, dieser satirisch-grotesken Betrachtung der Welt, aber auch wegen seiner Fabulierlust, den fast schon barocken Sprachspielereien, lohnt es sich, Ulrich Becher immer wieder und wieder zu lesen.

Informationen zum Buch:

Ulrich Becher
New Yorker Novellen
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Moritz Wagner
Schöffling Verlag, 2020
408 Seiten, Gebunden,  Lesebändchen, € 24,00 €[A] 24,70
Auch als E-Book erhältlich
ISBN: 978-3-89561-453-8


Spende? Gerne!

Wer das Engagement dieses Blogs unterstützen möchte, kann dies gerne mit einem Beitrag via Paypal tun. Oder ganz klassisch mit einer Überweisung, die Daten dafür finden sich im Impressum.

€5,00

Jami Attenberg: Nicht mein Ding

statue-of-liberty-984017_1920

Bild von Free-Photos auf Pixabay

„Die Beständigkeit meiner Unbeständigkeit. Sie gehört zu mir, so stehe ich da. Ich stehe vor ihm am Eingang einer U-Bahn-Station und besitze nichts als mich selbst. Ich selbst bin alles, will ich ihm sagen. Doch für ihn heißt das: nichts, denn so nimmt er sich im Augenblick wahr. Er ist allein, also ist er nichts. Wie erkläre ich ihm, dass das, was für ihn gilt, für mich nicht gilt?“

Jami Attenberg, „Nicht mein Ding“.

Die größten Feinde einer klugen Frau sind nach Marie von Eber-Eschenbach alle „dummgeborenen“ Männer. Den „Feind“ vor Augen, die Mutter im Rücken: Man könnte ein ganzes Literaturlexikon nur mit Büchern füllen, in denen sich Frauen an beiden Seiten abarbeiten. Einen witzigen, sarkastischen und lebensklugen Beitrag dazu liefert Jami Attenberg mit ihrem Roman „Nicht mein Ding“.

Es ist das vierte ins Deutsche übersetzte Buch der US-Amerikanerin, die sich die Familie zum literarischen Topos erkoren hat. Und so ist auch die Familie der 39-jährigen Singlefrau Andrea auf ihre ganz eigene Weise unglücklich: In Rückblenden erzählt die gescheiterte Kunststudentin von ihrem vergötterten, aber drogensüchtigen und früh verstorbenen Vater, einem Jazzmusiker, von der Mutter, die als Witwe versucht, ihre beiden Kinder durchzubringen, von seltsamen Hausfreunden, die den Teenager sexuell belästigen, vom nicht ganz normalen Chaos einer unorthodoxen jüdischen Familie in New York.

Andrea, die ihr Singledasein gegen alle Anfechtungen – von allen Seiten, die Mutter voran, wird sie mit einschlägigen Ratgeberbüchern und Beziehungstipps versorgt – verteidigt, hat einen sarkastisch-abgeklärten Blick auf die Welt:

„Eins weiß ich, jetzt, als Erwachsene: Niemand ist cooler als ein Teenager. Noch in schlimmster Verfassung sind unsere Augen ganz klar, und unser Wissen reicht gerade eben aus, um der Welt mit einer gewissen Gewandtheit zu begegnen (…) Nach unseren Teenagerjahren ist Schluss mit lustig und wir halten alle einfach nur durch bis zum Tod.“

Nun ja, dazwischen passiert denn doch noch eine ganze Menge: Mehr oder weniger verunglückte Dates, scheiternde Beziehungen im Freundeskreis, Zoff im Beruf und mit der Therapeutin. Insbesondere der verbale Schlagabtausch zwischen Andrea und ihrer Mutter bietet intelligente Unterhaltung. Das alles kennt man zwar irgendwie aus der einschlägigen New York-Literatur und von etlichen Filmen. Und doch liest es sich bei Jami Attemberg (in der Übersetzung von Barbara Christ) wieder frisch und originell.

Homepage der Autorin:

http://www.jamiattenberg.com/

Informationen zum Buch:

Jami Attenberg
Schöffling & Co., 2020
224 Seiten, gebunden mit Lesebändchen, Preis:  22,00 €, [A] 22,70  €
ISBN: 978-3-89561-357-9

Verlagsinformationen mit Leseprobe.


Spende? Gerne!

Wer das Engagement dieses Blogs unterstützen möchte, kann dies gerne mit einem Beitrag via Paypal tun. Oder ganz klassisch mit einer Überweisung, die Daten dafür finden sich im Impressum.

€5,00

Joshua Cohen: Auftrag für Moving Kings

cartons-4240821_1280

Bild von Ulrike Leone auf Pixabay

„Es war unerklärlich, dass er zustimmte – und was er bei der Ankündigung von Yoavs Kommen empfand. Seine gierige Bereitschaft zwischen den erholsamen Dämmerphasen, dem Morphiumschlaf, der faden Diät, kein Nikotin, kein Alkohol. Es war eine Schwäche des Herzens. Während der Behandlung hatte er sich mit Sentiment angesteckt, mit Nostalgie, ein schlimmer Fall von Krankenhausinfektion. Aus dem Nichts hatte David plötzlich ein Sehnen verspürt, aber nicht nach Naheliegendem, sondern nach fernen Dingen.“

Joshua Cohen, „Auftrag für Moving Kings“.

David King, ein älterer Transportunternehmer in New York, ein Selfmademan, einer, der den amerikanischen Traum lebte, vom Tellerwäscher zum Großunternehmer. Trinkt zu viel, raucht zu viel, isst die falschen Sachen, ist aber zu eingefahren, seinen Lebensstil zu ändern, selbst zu bequem, sein emotionales Leben in Ordnung zu bringen. Seine Exfrau hat ihn vor die Tür gesetzt, seine Geliebte, zugleich auch seine wichtigste Mitarbeiterin, die den Laden zusammenhält, hofft endlich auf etwas Verbindliches und seine Tochter ist nach Drogenabstürzen und Entzug ein emotionales Wrack. Da erscheint zum rechten Augenblick Yoav, der Neffe aus Israel, der sich nach seinem Militärdienst auf Orientierungssuche begibt. Er könnte für King, dessen Pumpe aufgrund seines Lebensstils in Streik geht, der Anlass für einen Neubeginn sein – doch hier nimmt das Buch eine neuerliche Wendung und rückt weitere Personen in den Vordergrund. Erzähltechnisch bedingt bricht die Geschichte Kings ab, baut sich zwischen den zwei Männern keine eigene Beziehung auf. Schade eigentlich.

Joshua Cohen steht einerseits in der Erzähltradition großer amerikanischer Romanciers wie Saul Bellow, Philip Roth, John Updike. Darüber hinaus jedoch gilt er auch als das Pendant zu David Forster Wallace, schreibt moderner, avantgardistischer als die Granden des amerikanischen Romans. Doch mit ihnen gemein hat er, dass er das Urbane in den Fokus nimmt, Männer mit Brüchen in den Lebensläufen und den Seelen in diese Welt stellt, meist jüngere beziehungsweise modernere Rabbitts. Cohen kombiniert einen messerscharfen Blick für das Alltägliche mit den gesellschaftlichen Megathemen – so eignet sich sein jüngster Roman, der in der deutschen Übersetzung von Ingo Herzke beim Schöffling Verlag erschien, natürlich dafür, um insbesondere den Folgen der amerikanischen Immobilienkrise, der Gentrifizierung und zunehmenden Obdachlosigkeit ihren Raum zu geben.

Doch daran kränkelt dieses Buch auch ein wenig: Es sind so viele Bücher in einem, zu viel wird angerissen, zu wenig auserzählt. Ähnliches bemerkte Ulrich Rüdenauer im WDR, den die Erzählkunst Cohens begeisterte, der aber an der Komposition des Buches als „einerseits zu ambitioniert, andererseits als zu sprunghaft“ seine Kritik hatte:

„Die Beschreibung der Wohnungsräumungen korrespondiert mit Yoavs Erinnerungen an die Militäreinsätze in den besetzten Gebieten, das äußerst robuste Vorgehen gegen die Palästinenser. Die eine Arbeit unterscheide sich kaum von der anderen, denkt Yoav. Man würde diesem inneren Konflikt gerne weiter folgen. Die Ängste, die Tragik, die Traumata Yoavs werden angerissen, aber nicht auserzählt. Am blassesten bleibt Avery Luter, die zuletzt eingeführte Hauptfigur. Cohen scheint zu sehr darum bemüht, verschiedenste gesellschaftliche Themenfelder in seinem Buch unterzubringen – Israel, Juden in der Diaspora, Gentrifizierung, Rassismus, das Auseinanderbrechen gesellschaftlicher Zusammenhänge. Jedes für sich genommen kommt dabei zu kurz.“

Vielleicht hätte Cohen, sonst auch eher ein Mann voluminöser Romane, schaut man auf das „Buch der Zahlen“ oder „Solo für Schneidermann“, einfach mehr Raum gebraucht. Gefolgt wäre ich ihm gerne: Denn Cohen ist ein starker und intelligenter Erzähler, hat eine Hand für Figuren, zeichnet plastisch, humorvoll, ironisch, zuweilen auch sarkastisch und ist bei allem Anspruch, den er an seine Leser stellt, immer auch wahnsinnig unterhaltsam.

Mehr Informationen zum Buch:
Joshua Cohen
„Auftrag für Moving Kings“
Aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke
Schöffling Verlag 2019 (Link zum Buch mit Leseprobe)
Gebunden, 288 Seiten, 24 Euro
ISBN 9783895616280


Spende? Gerne!

Wer das Engagement dieses Blogs unterstützen möchte, kann dies gerne mit einem Beitrag via Paypal tun. Oder ganz klassisch mit einer Überweisung, die Daten dafür finden sich im Impressum.

€5,00

Margit Schreiner: Sind Sie eigentlich fit genug?

glasses-919304_1920„Der erste Satz ist ausschlaggebend. Das weiß heute jeder. Grundstoff in der Schreibwerkstatt am Wochenende. Faulkner hat es schon gesagt: Schreiben Sie den ersten Satz so, dass der Leser unbedingt den zweiten lesen will – und dann immer so weiter. Eigentlich ganz einfach. Neugierig machen! Verkaufsprinzip! Nach Faulkner haben es alle gesagt. Hemingway hat es gesagt, Fontane hat es schon vorher gesagt. Und. Und. Und. Tatsache ist aber, dass ich, als ich plötzlich mitten im Schreiben meine Tochter in die Physiotherapiestunde fahren sollte, meine Weitsichtbrille nicht gefunden habe.“

Margit Schreiner, „Sind Sie eigentlich fit genug?“, 2019.

Glücklicherweise ist Margit Schreiner eine Autorin, die ihre Leser mit dem ersten Satz des Öfteren auch aufs Glatteis führt: Was wie das x-te Lamento Schreibender über ihre Blockaden (innerliches Aufstöhnen beim Lesen) beginnt, geht über in die Betrachtungen über den Fehlkauf einer Brille mit grünem Gestell und führt zu einem Schlusswort, das aus einem Zitat Dieter Bohlens besteht – vorhersehbar ist da also nichts, langweilig wird es einem mit der österreichischen Schriftstellerin selten.

Da schreibt eine mit scharfem Verstand und von quirligem Temperament über die Literatur, das Leben, das Frausein und die Politik – Themen, die eng zusammenhängen, die auch zeigen, alles ist im Grunde ineinander übergehend, jedes Schreiben auch politisch, wenn man die Welt mit klarem Geist betrachtet. Der nun im Schöffling Verlag neu erschienene Band „Sind Sie eigentlich fit genug?“ versammelt neben Erstveröffentlichungen wie „Der erste Satz“ Essays und Artikel Margit Schreiners, die in den vergangenen Jahren in Anthologien und Zeitschriften erschienen sind, sowie Reden, unter anderem zu Literaturpreisen, die die Autorin erhalten hat.

Immer schimmert dabei durch ein besonderer Blick auf die Welt, vor allem aber wird deutlich: Diese Frau hat Haltung. In ihre Betrachtungen zur Literatur fließen die Erkenntnisse neurologischer Wissenschaft ein, sie beschäftigt sich mit der Art Brut sowie dem Begriff der Behinderung und setzt sich mit Macht- und Kindesmissbrauch und den Abgründen (österreichischer) Politik auseinander.

In einer Welt, die immer unübersichtlicher wird, hat die Literatur dabei eine besondere Bedeutung:

„Es ist nicht ihre Aufgabe zu richten, zu interpretieren, zu werten. Ihr fällt die Rolle der Generalinventur zu, Bestandsaufnahmen, wie sie niemand leisten kann, der in irgendeiner Form, sei es finanzieller oder prinzipieller Art, Interesse am Endergebnis einer solchen Bestandsaufnahme hat.“

Das Dilemma: Zugleich nimmt die Literatur im gesellschaftlichen Kontext eine marginale Rolle ein, ändern sich der Literaturbegriff, Literaturverständnis und Literaturbetrieb. Aber auch hier denkt Margit Schreiner weiter, begnügt sich nicht mit den verbreiteten Klagen über die immer schnellere Rotation im Büchermarkt und dem Bedienen des Massengeschmacks, sondern geht den Ursachen für diesen Geschmack auf den Grund. Dazu ein längeres Zitat:

„Wenn sich etwas verändert, liegt es nie nur an einem Faktor: Die Krise der zeitgenössischen Literatur liegt nicht nur an den geänderten Marktbedingungen. (…) Die Literatur hat viele Funktionen verloren, die sie einmal hatte: religiöse, politische und geographische Information, beziehungsweise Erziehung, Psychologie, Wissenschaftsvermittlung und so weiter. Das alles haben spezielle Fachgebiete übernommen. Das, aber nicht nur das, hat zur Krise des Romans geführt.

Was heute in unserer Welt alles passiert, zu dem wir dank Internet auch noch ständig Zugang haben, übertrifft die Fantasie jedes Romanciers. Es scheint kaum ein Tabuthema zu geben, alles wird öffentlich gezeigt, beschrieben und besprochen. In sogenannten Realityshows werden Situationen als real dargestellt, die in Wirklichkeit gespielt sind, gefakt oder das zeigen, wovon die Macher glauben, dass die Menschen es für Realität halten. Der Unterschied zwischen Realität und Virtualität verschwimmt. Das formt unreflektiert ein neues Menschenbild. Was fehlt, sind keine ungeheuerlichen oder außergewöhnlichen oder metaphorischen oder großartigen Geschichten. Was fehlt, ist die Selbstreflexion, die Gewichtung.“

Nicht ohne Grund jedoch ist dieses Essay mit „Literatur und Trost“ betitelt: Völlig unakademisch und dennoch äußerst präzise, zeigt Margit Schreiner auf, was Literatur vermag, warum wir Lesenden sie brauchen, schätzen und lieben. Literatur ist es, die zur Reflexion anhält, die Orientierung zu geben vermag, die neue Blickweisen eröffnet, die Fragen stellt.

„Kunst fördert die Orientierung und behindert gleichzeitig den glatten Ablauf der Dinge, das reibungslose Getriebe, den Markt. Kunst ist ein Kind, das peinliche Fragen stellt.“

Und kluge Kunst ist auch ein großes Vergnügen: Es macht einfach Freude, dieser intelligenten Autorin durch ihre Lebens- und Gedankenwelt, sei es bei ihren biographischen Ausflügen in die Heimatstadt Linz und zur bevorzugten Kaffeesorte ihrer Mutter, sei es bei ihrer Bewunderung von Jane Bowles und Margaret Atwood (zwei Autorinnen, die ich auch sehr schätze) oder ihren politischen Aufsätzen zu folgen. Klug, analytisch, bissig, mit viel schwarzem Humor – eine Lesensfreude.

Bibliographische Angaben:
Margit Schreiner
„Sind Sie eigentlich fit genug?“
Schöffling Verlag 2019
20,00 Euro, 224 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen
ISBN: 978-3-89561-282-4

 

 

Spende? Gerne!

Wer das Engagement dieses Blogs unterstützen möchte, kann dies gerne mit einem Beitrag via Paypal tun. Oder ganz klassisch mit einer Überweisung, die Daten dafür finden sich im Impressum.

€5,00

 

Margit Schreiner: Kein Platz mehr

books-768426_1920-1024x683

Bild von Free-Photos auf Pixabay

„Es nützt alles nichts. Weder im In- und Ausland, weder am See noch im Hochgebirge, weder am Meer noch im Hinterland, und schon gar nicht auf einer einsamen Insel ist Platz und Ruhe. Jeder muss seinen eigenen, ganz persönlichen Platz und seine eigene, ganz persönliche Ruhe finden. Ein Stühlchen unter einem Baum, den Laptop auf den Knien, auf dem Balkon mit Ohropax gegen den Straßenlärm, oder, wenn es regnen sollte, unter dem Sonnenschirm. Wer wirklich will, lebt und schreibt überall. Auch beim Lärm vom Nachbarn, der den Rasen mäht oder die Fenster abschleift oder Volksmusik hört. Es kommt ausschließlich auf die positive Einstellung an. Darüber gibt es genug Sachliteratur, die sich mehr und mehr besser verkauft als alle noch so unterhaltende belletristische Literatur.“

Margit Schreiner, „Kein Platz mehr“, Schöffling & Co.

Es hat schon etwas leicht Skurriles, wenn man inmitten des Gedränges auf der Leipziger Buchmesse – man sitzt zusammengequetscht auf einer Bank, Menschenmassen schieben sich am Stand vorbei, man balanciert mit Büchern, Wasserflaschen und Notizblock auf engstem Raum – ein Buch mit dem Titel „Kein Platz mehr“ in die Hände gedrückt bekommt. Und noch skurriler wird es, wenn man im überbesetzten ICE anfängt, ab und an laut vor sich hinzukichern, haltlos, den irritierten Blicken der Mitreisenden trotzend, weil man einfach nicht anders kann bei der Lektüre.

Margit Schreiner war mir zuvor kein Begriff. Und das, obwohl Schöffling schon etliche Bücher der Österreicherin herausgegeben hat, obwohl die 66-jährige Linzerin mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet wurde und obwohl schon allein die Titel ihrer älterer Bücher verlockend klingen – „Haus, Frauen, Sex“ aus dem Jahr 2001 beispielsweise oder „Schreibt Thomas Bernhard Frauenliteratur?“ (2008) – war sie mir völlig unbekannt.

Etwas, was ich ändern muss: Denn Schreiner bringt das Talent mit, unterhaltend und niveauvoll zu sein, elegant zu schreiben und zugleich aber über eine ordentliche Portion tiefschwarzen Humors zu verfügen. Für mich die richtige Mischung. „Kein Platz mehr“, vom Verlag als Roman bezeichnet, ist im Grunde ein ausführliches autobiographisches Essay. Schreiner schreibt über sich und Freunde in ihrem Alter: Allesamt im universitären Bereich oder als Kreative tätig, sogenannte „Golden Ager“, die eigentlich ihren Herbst genießen wollen, aber nicht können. Denn es gibt buchstäblich und wortwörtlich zu wenig Platz auf der Welt, wie die Autorin feststellt. Angefangen beim eigenen Haushalt, der vollgestopft ist mit den Utensilien zweier langer Berufsleben und den Hinterlassenschaften der Kinder. Endend bei der Feststellung, dass es selbst die ideale einsame Insel nicht gibt. Zu welchen Verwerfungen im Familienleben und in der Erotik zu wenig Platz führen kann, das zeigt die Schriftstellerin am Beispiel Japans auf: Herrlich! Und ein Höhepunkt des Buches ist zweifelsohne jener, in dem das Paar den Müll aus einem einsam gelegenen italienischen Haus zu entsorgen versucht.

Die Betrachtungen über den Platzmangel unserer Welt sind eng verbunden mit den Alltagsplagen im Leben einer Schriftstellerin. Dabei wird es herrlich amüsant:

„Man fragt sich dann als älterer Schriftsteller naturgemäß im Laufe der Jahre, was für einen Sinn es haben soll, Bücher aus einer reichhaltigen Lebenserfahrung, die nur bedrückend sein kann, wenn man die Welt rundum betrachtet, heraus zu schreiben, die sowieso niemand mehr lesen will. Das heißt, nicht niemand, aber zu wenige, als dass man vom Verkauf der Bücher auf Dauer leben könnte, eine Familie erhalten, in Urlaub fahren, die Katzen und Hunde füttern, etc. Es ist nun einmal ein Unterschied, ob ich mit zwanzig ohne Kranken- und Pensionsversicherung in einem Kämmerchen in Paris oder Berlin schreibe und mich von Baguette und Camembert oder meinetwegen von Currywurst ernähre, oder ob ich mit fünfundfünfzig eine Familie habe, mich altersbedingt gesund ernähren sollte und womöglich wegen des ständigen Sitzens vor dem Computer Bandscheibenprobleme habe und deshalb eine teure Physiotherapie oder wegen der seelischen Dauerbelastung des Schriftstellers gar eine Psychotherapie, die noch teurer ist, brauche. Fallen die Zähne mit der Zeit aus, stehen teure Zahnbrücken und/oder – implantate an, die Haare werden auch nicht besser, was Friseurbesuche nötig macht, um halbwegs anständig vor sein Publikum treten zu können. Ein zerraufter Zwanzigjähriger macht einen wilden, ein zerraufter Sechzigjähriger nur einen ungepflegten Eindruck.“

Der letzte Satz, der sitzt: Das ist ein Merkmal dieses Buches, das so einen lockeren Erzählton anschlägt und mittendrin durch eine kleinen verbalen Hammer überrascht. Oder, wie Zsuzsa Bánk auf dem Cover zitiert wird: „Der Mensch an sich ist ungeeignet für die Welt. Das liest sich lustig-elegant, aber nur bis dieser eine Satz kommt. Das ist ihre Note, erst die verschwenderische Leichtigkeit – und dann die Ohrfeige.“

Informationen zum Buch:

Margit Schreiner
Kein Platz mehr
Schöffling & Co
20,00 Euro
ISBN: 978-3-89561-281-7

Homepage der Autorin: www.margitschreiner.com

Spende? Gerne!

Wer das Engagement dieses Blogs unterstützen möchte, kann dies gerne mit einem Beitrag via Paypal tun. Oder ganz klassisch mit einer Überweisung, die Daten dafür finden sich im Impressum.

€5,00