Ilva Fabiani: Meine langen Nächte

In “Meine langen Nächte” lässt Ilva Fabiani eine Tote auf ihre Entwicklung zur überzeugten Nationalsozialistin und ihren Dienst als “braune Schwester” zurückblicken. Der preisgekrönte Debütroman liegt nun in deutscher Erstübersetzung vor.

„Erneut werde ich vom Wind hochgehoben und weggetragen, weg von dieser weit zurückliegenden Nacht, weg vom Ruf des Waldkauzes. Dass sich mein Leben einige Jahre später fast nur noch nachts abspielen sollte, hätte ich damals nie geahnt. Das Hu Huhu dieser kleinen nachtaktiven Kreatur würde mich in den finsteren Nächten noch lange begleiten, in denen ich verzweifelt versuchte, meine am Tag verlorene Seele zu retten.“

Ilva Fabiani, „Meine langen Nächte“


Es ist eine ungewöhnliche Erzählperspektive, die Ilva Fabiani für ihren in Italien mehrfach ausgezeichneten Debütroman gewählt hat: Anna Alrutz spricht aus dem Reich der Toten zu den Lesern, reflektiert 90 Jahre später, wie es zu ihrer großen Lebensverirrung kommen konnte, warum sie im Glauben an eine furchtbare Ideologie dazu beitrug, das Leben anderer Menschen zu zerstören.

Die Wahl dieser Perspektive erscheint wie ein intelligenter Kunstgriff: Wie kann man sich dem Unbegreiflichen fiktional annähern, zumal als Autorin, die 1970, also lang nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten geboren ist? Fabiani gelingt es durch diese Technik, die tote Anna Alrutz selbst über ihre Kindheit und Jugend und ihre ideologische Verblendung reflektieren zu lassen und auf Erklärungssuche für das Unbegreifliche zu gehen.

Dass dies nicht ganz überzeugend aufgeht, mag zum einem daran liegen, dass selbst ein Roman, der versucht, seine Hauptfigur psychologisch so fein zu ziselieren, wie es Fabiani unternimmt, keine vollkommene Aufklärung bieten kann: Das Unbegreifliche entzieht sich immer ein Stück weit dem Wunsch nach logischer Nachvollziehbarkeit. Und darüber hinaus sind in der – freilich fiktiven – Vita der Anna Alrutz doch viele Grundlagen vorhanden, um nicht auf die „schwarze“ respektive „braune“ Seite zu rutschen.

Die verlorene Generation

Zwar gehört Anna altersmäßig zur „verlorenen Generation“, materiell spürt sie davon allerdings wenig.

„Jedem, der wie ich im Jahr 1907 geboren wurde, hätte das Jahrhundert normalerweise die Ehre zuteilwerden lassen, gleich zwei verheerende Kriege mitzuerleben.“

Doch, wie sie selbst sagt, wird sie vor dem Ersten Weltkrieg „durch eine Art kindliche Unversehrtheit bewahrt.“ Als älteste Tochter einer wohlhabenden Familie aus Braunschweig bekommt Anna die Not der Nachkriegsjahre selbst kaum mit, auch vom Hunger und der Armut ganzer Bevölkerungsschichten ist im Roman wenig die Rede. Die Familie kann es sich nach wie vor leisten, ihre Sommer im Kurort Salzgitter zu verbringen, Anna kann zudem später als eine der wenigen Frauen ein Medizinstudium aufnehmen. Ihr Vater vertritt liberale Ansichten, das Aufkommen der Nationalsozialisten betrachtet er mit Entsetzen und versucht, so gut es geht, seinen Kindern einen bildungsbürgerlich geprägten Humanismus vorzuleben.

Wohlbehütet in Krisenzeiten

Eine junge Frau, die also wohlbehütet aufwächst und in ihrem Lebensumfeld wenig von den sozialen Unruhen und Ungleichgewichten, die in ihrem Heimatland herrschen, spürt. Als in Salzgitter der Spielkamerad ihres Bruders krankenhausreif geschlagen wird, weil er Jude ist, ist Anna helfend zur Stelle, spricht gar davon, das Kind in die Familie aufzunehmen. Es fehlt ihr also nicht an Empathie und Mitgefühl. Was ihr im Wege steht, ist jedoch ein übergroßer Ehrgeiz und das Gefühl, nicht gut genug, nicht schön genug zu sein. Dass die Aufmerksamkeit der Eltern sich auf die schwerkranke jüngere Schwester Annas konzentriert sowie die vergebliche Verliebtheit in einen verheirateten, evangelischen Pastor trägt dazu bei, um die junge Frau anfällig für Verblendungen zu machen.

Die Beziehung zu einem Reichswehr-Mann und SA-Soldaten sieht sie als gewisse Aufwertung. Später, als Tote, versucht sie dies zu rechtfertigen:

„Mein Beinahe-Verlobter war ein Mörder und ich wusste nichts davon. Ich war eine ebenso dumme Gans wie viele andere Mädchen meines Alters.“

Sätze wie dieser hinterlassen einen Nachgeschmack, erinnern an die Haltung vieler Deutscher, die von „nichts etwas gewusst hatten“. In ihrem Ansatz, das Abrutschen in eine Ideologie überwiegend auf der psychologischen Ebene zu erklären, wird Ilva Fabiani an anderer Stelle noch deutlicher:

„Wie soll man den Enkelkindern denn erzählen, dass die Großmutter sich auf den Nationalsozialismus eingelassen hat, weil sie sich mit siebzehn Jahren wie eine alte hässliche und hoffnungslose Jungfer fühlte? Wie dem Wind, der mich hochhebt und wieder hinunterwirft, erklären, dass die Macht des Leitwolfs darin bestand, das Innerste jedes Einzelnen aufzuwühlen, wo sich die Enttäuschungen, die Ängste, die Schicksalsschläge und die Einsamkeit verbergen?“

Vielleicht, das kann ich nur spekulieren, lag das Motiv Fabianis, ihre Hauptfigur so zu charakterisieren, darin, ihren Lesern zu zeigen: Keiner ist vor solchen ideologischen Verführbarkeiten gefeit, jeden kann es, wenn er sich in einer Lebenskrise befindet, treffen. Ganz geht diese Rechnung für mich jedoch nicht auf, zu wenig nachvollziehbar bleibt für mich der Weg zu wohlbehüteten Mädchen hin zur „braunen Schwester“ und zurück: Wieder ist es die Liebe, dieses Mal zu einem französischen Medizinstudenten mit jüdischen Wurzeln, die Anna am Ende die Augen öffnet und erneut „umdreht“. Von der Mittäterin wird sie zu einer Frau, die Widerstand übt, den sie letzten Endes als Hochverräterin mit dem Leben bezahlt.

Zwangssterilisationen als Programm

Am bewegendsten und greifbarstem wird der Roman für mich im letzten Drittel, als Fabiani detaillierter auf das Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten und deren Programm der Zwangssterilisation eingeht: Schätzungsweise bis zu 400.000 Menschen wurden dem unterworfen, weil sie als „erbkrank“ eingestuft wurden, zum Teil aus ganz willkürlichen Gründen.

Auch an der Universitätsklinik Göttingen, wo Ilva Fabiani, die als Italienisch-Dozentin an der Göttinger Universität tätig ist, Anna ihren Dienst als „braune Schwester“ tun lässt, kam es dazu: „Leider ganz real sind die 787 Frauen, die in den Räumlichkeiten der Klinik auf schreckliche Weise und vollkommen willkürlich sterilisiert wurden. Ihnen und den wenigen Krankenschwestern, die sich ihrer erbarmten, ist diese Geschichte gewidmet“, schreibt die Autorin im Nachwort.

Dort, wo sie Anna, die sich als „braune Schwester“ an den Sterilisationen beteiligt, von den einzelnen Frauen, deren Widerstand gegen den Eingriff, deren Ängsten und Verzweiflung erzählen lässt, ist das Buch am stärksten.

„Die Sterilisationen waren im Grunde einfache Eingriffe. Schwierig war hingegen die Aufnahme der Patientinnen. Manchmal wurden die Frauen von der Polizei gebracht, und wir mussten sie sofort sedieren. Die Aufsässigsten von ihnen wurden in einen Raum eingeschlossen (…). Keine Bettlaken, nur feste Wolldecken, die man nicht zusammenknoten konnte.“

Die an diesen Stellen nüchterne Erzählweise zeigt die ganze Perversion des nationalsozialistischen Systems. Wie sehr darin gerade auch Ärzte und Wissenschaftler verstrickt waren, welchen Aderlass Universitäten wie Göttingen durch die Vertreibung jüdischer und nicht gleichgeschalteter Wissenschaftler (Max Born, Felix Bernstein, Emmy Noether) erfuhren, auch das wird auf den letzten Seiten eindrucksvoll deutlich.

Der Wechsel aus poetischen Passagen und nüchterner Detailbeschreibung, die Erzählperspektive, die die Hauptfigur auf ihre Vergangenheit blicken lässt, aber vor allem die Thematik der „braunen Schwestern“ machen „Meine langen Nächte“ zu einem lesenswerten Roman, auch wenn mir die Protagonistin in ihrer Entwicklung „unfassbar“ und seltsam fremd blieb.


Bibliographische Angaben:

Ilva Fabiani
Meine langen Nächte
Übersetzt von Birgit Ulmer
Steidl Verlag, 2023
ISBN 978-3-96999-198-5

ANETTE L. DRESSLER: Brockesstraße Beletage

Ein Debütroman in der Stroux edition: “Brockesstraße Beletage” erzählt die Geschichte zweier Frauen, die kurz nach Kriegsende eine Zweckgemeinschaft eingehen müssen.

Die altansässige Lübeckerin Alma Curtz muss im Jahr 1947 zwangsweise die aus Masuren geflüchtete Frieda Markuweit in ihre Wohnung in der Brockesstraße aufnehmen. Beide Frauen sind Kriegerwitwen, sonst gibt es aber keine Übereinstimmung. Alma träumt davon, ihren Kurzwarenladen wieder eröffnen zu können und endlich wieder einmal tanzen zu dürfen. Frieda sehnt sich zurück nach der verlorenen Idylle ihres Beamtenhaushaltes. Der Roman schildert die auseinanderklaffenden Lebenswelten dieser beiden Frauen vor dem Hintergrund von Gaunereien, Schwarzhandel, Tanzwut, Swing, vom Hunger nach Leben und Liebe.

Zur Autorin:

Anette L. Dressler wuchs mit ihrer Schwester in Lübeck und am Ostseestrand auf. Sie studierte in Berlin Französisch und Englisch und unterrichtete die Fächer als Lehrerin und Dozentin. Sie lebt mit ihrem Mann in Berlin und Lübeck und schreibt Kurzrezensionen für ein Kulturportal.
Die Spurensuche nach der Herkunft und dem Ankommen ihrer Familie in Schleswig-Holstein nach Ende des Zweiten Weltkrieges inspirierte sie zu ihrem Debütroman „Brockesstraße Beletage“.

Stimmen zum Buch:

“Was der 300-Seiten-Roman auf jeden Fall leistet, ist ein sehr nahbarer Einblick in das Nachkriegsdeutschland in Bezug auf Alltäglichkeiten: Ein Mocca faux, hier des Öfteren Mukkefukk bezeichnet, hinterlässt ein Lächeln. Man erfreut sich über das Wissen um Nylonstrümpfe, Lebensmittelbeschaffung, Flohbeseitigung oder Ausgehmöglichkeiten der damaligen Zeit in Lübeck. Sehr sanft und verhalten wird die Annäherung zwischen den beiden Frauen erzählt und doch bietet sich ein Exempel für die Migration der Gegenwart – Fremdes wird irgendwann zu Vertrautem.” – katkaesk

“Anette L. Dressler ist in Lübeck aufgewachsen. Ihr erster Roman „Brockesstraße Beletage“ ist nicht nur eine Hommage an ihre hanseatische Heimatstadt, sondern vor allem auch ein zeitgeschichtlich hochinteressantes Porträt der Nachkriegszeit des Jahres 1947, das zwei starke Frauen mit bemerkenswertem Schicksal in den Mittelpunkt stellt.” – Kulturbowle

“Brockesstraße Beletage” ist ein fesselnder Roman, der mich in eine Zeit voller Widersprüche und Veränderungen entführt und zugleich die universellen Themen von Verständnis, Toleranz und Solidarität behandelt.” – Angélique’s Leseecke


Zum Buch:


ANETTE L. DRESSLER
Brockesstraße Beletage
in Lübeck St. Lorenz Nord
STROUX edition, München
328 Seiten, Hardcover
€ 24,00 [D]
ISBN 978-3-948065-28-7
https://stroux-edition.de/


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag

DIE KÖNIGIN VON TROISDORF: Shortlist beim Literaturpreis Ruhr 2022

Mit seinem Debütroman “Die Königin von Troisdorf” landete Andreas Fischer auf der Shortlist beim Literaturpreis Ruhr 2022. Für den Autor fühlt sich das bereits jetzt an wie ein Hauptgewinn.

Andreas Fischer kann sein Glück noch immer nicht richtig fassen: „Für mich ist das jetzt bereits schon wie ein Hauptgewinn“. Denn mit einem Debütroman, der zudem in einem eigens dafür gegründeten Verlag veröffentlicht wurde, auf der Shortlist eines bedeutenden Literaturpreises zu landen, das ist eher die Ausnahme denn die Regel. Und spricht für die Qualtität seines Romans „Die Königin von Troisdorf. Wie der Endsieg ausblieb“.

Der Literaturpreis Ruhr ist die wichtigste ideelle wie materielle Auszeichnung für Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die im Ruhrgebiet leben, sowie für Autorinnen und Autoren von außerhalb, die über die Region schreiben. Er wird seit 1986 jährlich vom Regionalverband Ruhr vergeben und vom Literaturbüro Ruhr organisatorisch und konzeptionell betreut.

53 Bücher unterschiedlicher Genres prüfte die Jury für den Literaturpreis Ruhr 2022, fünf kamen nun auf die Shortlist. Neben bekannten Namen wie Hilmar Klute, Jan Weiler und Jörg Hilbert auch die Debütanten Annika Büsing und Andreas Fischer. Die Eltern des Autors kamen ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, der Vater aus Essen, die Mutter aus Gelsenkirchen. Erst nach dem Krieg wurde das Paar im rheinischen Troisdorf heimisch, so spielt sich aber ein Großteil der Familiengeschichte, die Fischer beschreibt, im Ruhrgebiet ab.

Unter den Nominierten ist Fischer in einer Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung: Alle anderen veröffentlichten ihre Bücher in namhaften Verlagen, Andreas Fischer gründete nach einigen Versuchen, sein Manuskript unterzubringen, kurzerhand seinen eigenen Verlag, den „eschen 4 verlag“.

„Ich habe trotz der anfänglichen Schwierigkeiten bei der Verlagssuche und bei der Suche nach einem Vertrieb, was für einen Neuverleger mit nur einem Buch im Portfolio ein Ding der Unmöglichkeit zu sein scheint, immer an meinen Text geglaubt“, so der Autor und Filmemacher. Viele positive Reaktionen von Leserinnen und Lesern, in Blogs und Medien gaben ihm nach der Veröffentlichung im Frühjahr 2022 recht: Sein Buch greift ein Thema auf besondere Art und Weise auf, das viele Menschen berührt.

So heißt es in der Jurybegründung für die Auswahl zur Shortlist beim Literaturpreis Ruhr:
„Über drei Generationen und hundert Jahre hinweg (von 1914 bis 2014) erzählt Andreas Fischer die Geschichte der eigenen Familie, deren Wurzeln in Gelsenkirchen liegen. Er berichtet in klarer Prosa und mit Originaldokumenten angereichert von den Kriegen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die die Menschen prägen, wie sie sie im Innern begrenzen und ebenso über sich hinauswachsen lassen. So entstehen trotz der nüchternen Erzählung komplexe Charaktere. Das gilt insbesondere für Oma Lena, die „Königin von Troisdorf“. Eine Familiengeschichte, die viele in Deutschland kennen – in dieser Umsetzung einzigartig lesenswert.“

Autor im Glück: Andreas Fischer. Bild: Isabelle Höpfner

Bereits in mehreren Dokumentarfilmen beschäftigte sich der mit mehreren Preisen ausgezeichnete Filmemacher Andreas Fischer mit der Frage, wie sich kriegsbedingte Verluste und Traumata generationenübergreifend auf Familien auswirken, unter anderem in Söhne ohne Väter (3sat / SWR) und Der Hamburger Feuersturm 1943 (NDR). In „Die Königin von Troisdorf“ nahm er seine eigene Familiengeschichte zur Folie, erzählt von den Eltern, die im rheinischen Troisdorf ein gutgehendes Fotoatelier betreiben. Nach außen hin demonstriert man seinen Status: Häuser. Neues Auto. Sonntäglicher Kirchgang. Doch hinter der gutbürgerlichen Fassade legen die Familienmitglieder verstörende Verhaltensweisen an den Tag. Was treibt die Eltern um, die den Zweiten Weltkrieg als junge Erwachsene erlebten? Warum verabscheut die Oma, die zwei Weltkriege erlebte, ihren Enkel?

Mit seinem Roman zeigt Andreas Fischer auf, wie lange die Ideologie des Nationalsozialismus noch nachwirkt, wie sehr faschistische Verblendung und Kriegstraumata Familien über Generationen hinweg vergiften und prägen. „Auch vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine ist dieses Thema hochaktuell“, betont Andreas Fischer. „Ebenso erreichten mich aber auch viele Anschreiben älterer Leserinnen und Leser, bei denen nach der Lektüre eigene Erinnerungen wieder auflebten.“

Die erste Auflage war bereits im Juni vergriffen, inzwischen ist die zweite Auflage da. „Gerade zur rechten Zeit“, sagt Andreas Fischer. Denn die Nominierung für den Literaturpreis Ruhr hat insbesondere beim Buchhandel viel Interesse hervorgerufen. Der Preisverleihung am 15. September, die in Witten stattfindet, sieht Andreas Fischer zwar mit viel Vorfreude, aber auch mit Gelassenheit entgegen: „Allein die Nominierung ist schon eine wunderbare Anerkennung für mein Buch!“

Alle Informationen zum Literaturpreis Ruhr finden sich gebündelt auf der Homepage des Literaturbüros Ruhr: https://literaturbuero-ruhr.de/literaturpreis-ruhr/

Bibliographische Angaben:

Andreas Fischer
Die Königin von Troisdorf.
Wie der Endsieg ausblieb
eschen 4 verlag, Berlin
473 Seiten, Hardcover mit Lesebändchen, 22,50 €
ISBN: 978-3-00070-369-0
Erscheinungstermin: 31.3.2022

Kontakt zum Verlag:

eschen 4 verlag
Eschenstr. 4
12161 Berlin
030 81006740
verlag@eschen4.de
https://www.eschen4.de/

Presseanfragen und Rezensionsexemplare: Birgit Böllinger, Telefon 0821 4509-133, kontakt@birgit-boellinger.com


Ein Beitrag im Rahmen der Pressearbeit für den Autor

Deniz Ohde: Streulicht

Es ist kein Roman der lauten Töne, dieses einprägsame Debütwerk von Deniz Ohde, es ist tatsächlich ein „leise schreiendes“ Buch, wie es Stefan vom Blog „Poesierausch“ bezeichnete. Ein beeindruckender Roman.

Bild: Bild von Ralf Vetterle auf Pixabay

„Niemand hatte sich je die Zeit genommen, den Scheffel ausfindig zu machen, unter dem mein Licht stand; der Scheffel war der Satz selbst, der Scheffel waren die Wände, gegen die nachts die Aschenbecher flogen, der Scheffel war »Sei still« und »Sprich lauter«, zwei Forderungen, die ich gleichzeitig erfüllen sollte. Paradox oder nicht, schlussendlich war es meine eigene Schuld, dass ich Ihnen nicht Folge leisten konnte.“

Deniz Ohde, „Streulicht“


Es ist kein Roman der lauten Töne, dieses einprägsame Debütwerk von Deniz Ohde, es ist tatsächlich ein „leise schreiendes“ Buch, wie es Stefan vom Blog „Poesierausch“ bezeichnete. Und ein Debüt, das einen so sehr einnimmt beim Lesen, dass es zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist. Und das einen in der Konsequenz gerade dazu zwingt, genauer hinzuschauen, sensibler zu werden für das, was Ausgrenzung und Alltagsrassismus tatsächlich bedeuten.

Die Ich-Erzählerin in diesem Entwicklungs- und Bildungsroman trägt von Beginn an ein Stigma: Der Vater Alkoholiker, die Mutter der Armut und der Enge der Türkei entflohen, das Elternhaus ein Messiehaushalt, vom Vater und dem langsam dahinsiechendem Großvater vollgemüllt. Obwohl das Mädchen, das im Streulicht einer Industrieanlage im Ruhrgebiet aufwächst, Freunde aus der Mittelschicht hat, obwohl sie sich unbewusst anzupassen versucht, leise bleibt, zurückgenommen, instinktiv nicht auffallen will, trägt sie das Stigma an sich: Das Aussehen, die ärmliche Kleidung, die mit den Modetrends nicht mithalten kann und nach Zigarettenrauch stinkt, allein schon der Vorname, der genügt, um zu zeigen, dass sie anders ist. Als im Schulhof das erste Mal das „K“-Wort fällt, wird von allen Seiten beschwichtigt: Die Lehrerin bezeichnet die Rangelei unter Schülern, die Aggression als „Unfall“, die Mutter meint, das sei ein Schimpfwort, mit dem die Tochter nicht gemeint sein könnte: „Du bist Deutsche“.

Behutsam wird das Thema eingekreist

Ganz behutsam, in immer dichteren Kreisen, steuert Deniz Ohde auf den Kern ihrer Erzählung zu: Was es bedeutet, qua Herkunft festgelegt, etikettiert zu sein, immer wieder auf unsichtbare Grenzen zu stoßen. So begreift die Ich-Erzählerin nicht, was ihr und anderen die Lehrer bei der Aufnahme auf das Gymnasium sagen wollen, als sie ihren Schülerinnen und Schülern immer wieder predigen, sie gehörten nun zur „zukünftigen Elite“.

„Es handelte sich dabei um eine implizite Aufforderung, so viel ahnte ich damals schon, aber welches Verhalten genau von mir verlangt wurde, was genau damit zusammenhing, dass ich zur Elite gehören sollte, verstand ich nicht, und es war auch keine Frage, die ich mir bewusst stellte, sondern vielmehr eine allgemeine Ratlosigkeit, die sich daraus ergab.“

Verstärkt wird diese Ratlosigkeit durch unachtsame Äußerungen der besten Freundin, für die Reitunterricht und Ballett Selbstverständlichkeiten sind, von kleinen Bemerkungen, die auf ihr Äußeres abzielen, von der Scham und den Zuständen zuhause, die verhindern, dass jemand von außen in dieses Haus kommen kann.

„Es hatte etwas mit meinem geheimen Namen zu tun und damit, dass ich wenig Gemüse aß, dass mein Vater mir alle paar Wochen etwas Obst schnitt und der Meinung war, so bliebe ich gesund, dass ich zum Mittagessen Tiefkühlpizza bekam und niemand in unserer Wohnung an irgendeinem Tisch aß, weil diese voller Zeitungen und leerer Döschen waren.“

Und doch, trotz all der Hindernisse, die zwischenzeitlich zum Schulversagen und Arbeitslosigkeit führen, bringt die Protagonistin einen ungeheuren Bildungswillen und charakterliche Stärke mit. Auf dem zweiten Bildungsweg holt sie den Schulabschluss nach, kommt an die Universität, lässt das Streulicht hinter sich – um natürlich auch an dem neuen Ort an die alten Muster und Grenzen zu stoßen.

Vom Kind zur Erwachsenen

Das Kind, das früh weiß, dass es „mindestens dreihundert Kilometer Distanz zwischen mir und dem Ort schaffen würde“, wird zur Erwachsenen, die befürchtet, dass ihr nichts anderes übrigbleibt, „als mich an den Ort zu gewöhnen.“ Und doch liegt, als sie ihren Vater besucht, auch etwas Tröstliches in dem Satz, den er ihr beim Weggehen mitgibt: »Wenn`s nichts wird, kommst wieder heim.«

Der bereits mit dem Literaturpreis 2020 der Jürgen-Ponto-Stiftung ausgezeichnete Roman ist ein Buch der leisen Töne, der langsamen Entwicklung, der dennoch mit beeindruckender Klarheit von einer Gesellschaft erzählt, die auf der Illusion basiert, es bestünden Chancengleichheit und Bildungsmöglichkeiten für alle. Ruhig, fast schon bedächtig, und mit ganz feinen, beinahe schon poetischen Alltags- und Umgebungsbeschreibungen, die auch die Industriebrache in ein weicheres, ein Streulicht tauchen, widerlegt Deniz Ohde mit diesem beeindruckenden Roman diese Grundannahme. „Streulicht“ beeindruckt mit der Klarheit, mit der einem vor Augen geführt wird, wie unterschwellig Klassifizierung geschieht und wirkt.


Informationen zum Buch:

Deniz Ohde
Streulicht
Suhrkamp Verlag, 2020
Hardcover mit Schutzumschlag, 284 Seiten, 22,00 Euro
ISBN 978-3-518-42963-1

Malu Halasa: Mutter aller Schweine

Es sind die Frauenfiguren, die dieses Buch prägen: Sie verkörpern Tradition und Rebellion im Jordanien der Gegenwart.

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Bild von falco auf Pixabay

„Meine Geschwister in Amerika glauben, dass ihre Heimat noch genau so ist wie früher, aber das Gegenteil ist der Fall. Kriege und Revolutionen haben alles verändert. Das gebrochene Versprechen des Arabischen Frühlings ist nur eine weitere schwere Narbe für eine Region mit einer langen Vorgeschichte der Selbstverletzung. Leute wie ich sehnen sich nach was anderem, aber bis das passiert, haben ganz klar die Männer das Sagen.“

Malu Halasa, „Mutter aller Schweine“


Samira, die dieses bittere Fazit zieht, ist eine der Frauen in diesem Roman, die vergeblich auf neue Zeiten im Nahen Osten hofften. Doch sie ist auch eine, die ihr Schicksal in die Hände nimmt: Die junge Jordanierin knüpft Kontakte zu einer Gruppe syrischer Flüchtlingsfrauen, politisiert sich, rebelliert gegen die Umstände und verschwindet am Schluss dieses Buches in einer chaotischen Nacht, in der sich alles zuspitzt, um auf ihre Weise für eine bessere Welt zu kämpfen.

Es sind die Frauenfiguren, die dieses Buch prägen: Laila, die selbstständig wirkende Lehrerin, die von ihrer Ehe enttäuscht ist, Samira, die den Makel „der Ledigen“ vor sich her trägt, ihre Schwiegermutter und Mutter Fadhma, die weiß, wie es ist, nur geduldet zu sein. Die drei sind sich jedoch ähnlicher, als sie es sich selbst eingestehen wollen: Es verbindet sich der Zorn auf die Verhältnisse, der Wunsch, aus den Konventionen und Zwängen ihrer engen Welt auszubrechen.

Malu Halasa: Bekannt durch Sachbücher zum Nahen Osten

Die US-amerikanische Schriftstellerin Malu Halasa, die sich vor allem mit Sachbüchern zu Kultur und Politik des Nahen Ostens einen Namen gemacht hatte, arbeitet in ihrem Romandebüt auch einen Teil ihrer Familiengeschichte auf. Sie kommt als die amerikanische Verwandte – Malus Vater ist der Sohn Fadhmas, ihre Mutter, eine Philippin, die „einzige Ausländerin“ in dem auch in den USA weitverzweigten Familienclan – zu Besuch, mitten hinein in chaotische Zustände.

Denn ihr Onkel Hussein, der einzige Sohn Fadhmas, der in Jordanien blieb, hat sich von seinem gerissenen Onkel Abu Satar, einem gierigen Schwarzmarkthändler, in ein problematisches Geschäft treiben lassen: Der Christ Hussein züchtet Schweine mitten in der Levante – die Muttersau „Umm al-Chanasir“ und ihre Produkte, vor allem die Fleisch- und Wurstwaren, die Hussein vertreibt, sind den rechtgläubigen Muslims ein ziemlich großer Dorn im Auge.

Der Fiedler auf dem Dach

Die Mutter aller Schweine, die sich am liebsten zur Musik von „Der Fiedler auf dem Dach“ bewegt, ist für den Schlachter zunächst jedoch „die Zukunft“. Und so kommt es, dass eine deutsche Maschine namens „Wurstmeister“ in der Levante landet und sich dort unter anderem auch Blutwurst, wenn ihre Pelle türkis eingefärbt ist gegen den bösen Blick, zunächst wie geschnitten Brot verkauft.

Doch das Schweineglück währt nicht lange: Zu angespannt sind die Verhältnisse auch in Jordanien, das in jener Zeit sowohl von syrischen Flüchtlingen als auch von ultrakonservativen muslimischen Strömungen überrollt wird.

Als das Schwein seine eigenen Kinder frisst, ist klar, dass Hussein, der „König der Schweinekoteletts“ abgedankt hat. In einem furiosen Finale stehen sich die verschiedensten politischen und religiösen Gruppen gegenüber, Frauen und Männer, Christen und Muslims – und es wird klar: unter den Konflikten der Region leiden alle gleichermaßen, selbst die Ferkel, die ihren Ställen entkommen, die nahegelegene Stadt überfluten wie eine biblische Plage.

Burleske Einfälle und schwarzer Humor

Malu Halasa erzählt diese Geschichte einer christlich-jordanischen Familie kenntnisreich, gibt Einblicke in die verwirrenden politischen Zustände und in die alles überlebende einzigartige Kultur der Region. Das ist gewürzt mit einer reichlichen Prise schwarzen Humors und etlichen burlesken Einfällen. Dennoch wirkt der Debütroman, der von Sabine Wolf aus dem Englischen übersetzt wurde, nicht ganz rund – etliche Sprünge in der Erzählung, der stete Wechsel der Erzählperspektive und die fehlende Fokussierung auf ein, zwei Hauptfiguren hindern den Lesefluss. Es wird vieles angerissen, was die Psychologie einzelner Protagonisten anbelangt, aber nicht vertieft – dagegen wären die Einschübe aus „Schweineperspektive“ durchaus verzichtbar gewesen.

Aber dennoch ist „Mutter aller Schweine“ eine furiose Darstellung der verwickelten Verhältnisse am Beispiel einer Familie und eine Verbeugung vor den starken Frauen in jenem Teil der Welt.

Ein Videoclip zum Buch findet sich hier.


Informationen zum Buch:

Malu Halasa
Mutter aller Schweine
Übersetzt von Sabine Wolf
Elster & Salis Verlag
Gebunden, Fadenheftung, Schutzumschlag, Lesebändchen
348 Seiten, CHF 25.40
ISBN 978-3-906903-14-9