Lesezeichen von: Max Brod

Max Brod ist als Nachlassverwalter und Freund von Franz Kafka in Erinnerung. Aber auch seine eigenen Romane sind eine Entdeckung wert. Das goldene Prag der Zwischenkriegszeit lebt in “Arnold Beer” wieder auf. Ein kurzes Lesezeichen.

“Und nur eines hatte ihm der Vater verboten, in den Shakespearebänden den Othello. Arnold befolgte auch getreu diese Absperrung, ängstlich wich er dem Stück aus, obwohl seine Neugierde aufs höchste erregt war und niemand ihn überwachte (…). Und als Arnold, zu Jahren gekommen, später einmal diesen fürchterlichen “Othello” durchnahm, fand er zwar gleich in der ersten Szene eine obszöne Phrase, im Ganzen aber nichts, was dieses Stück vor den vielen, die er lesen gedurft hatte, ausgezeichnet hätte. Derartige Phrasen hatte er ja als Kind zu hunderten unverstanden eingeschluckt. Und so blieb ihm dieses Verbot seiner Kinderjahre weiterhin ein Geheimnis, über das er seinen Vater aus Respekt auch nachmals nicht weiter auszuforschen sich getraute.”

Aus: “Arnold Beer. Das Schicksal eines Juden”, Max Brod, 2013 wieder aufgelegt beim Wallstein Verlag.

Max Brod, der enge Freund und Nachlassverwalter Kafkas, der dessen Werke gegen dessen Anweisung nicht vernichtete, sondern sie für die Nachwelt erhielt und veröffentlichte, war zu seiner Zeit selbst ein äußerst erfolgreicher Schriftsteller. Seine eigenen Romane sind heute jedoch eher vergessen, sein eigenes Werk steht im Schatten Kafkas. Der Wallstein Verlag gab einige von Brods Büchern, ausgewählte Werke, vor wenigen Jahren wieder heraus – was für ein Schatz! Wunderbare Entdeckungen waren für mich “Die Frau, nach der man sich sehnt”, der historische Roman “Tycho Brahes Weg zu Gott”, aber vor allem “Arnold Beer. Das Schicksal eines Juden”. Die ersten sechzig Seiten, so Peter Demetz in seinem Vorwort, “zählen zu den besten, die Brod je geschrieben hat”. Beurteilen kann ich dies nicht: Dazu habe ich noch zu wenig von Max Brod gelesen. Aber nachvollziehen kann ich, was Demetz weiter über diesen kurzen Roman aus Brods Frühwerk schreibt: ” (…) kein anderer Schriftsteller hat die kleine Welt der Prager assimilierten Jeunesse dorée vor dem Ersten Weltkrieg danach mit größerer Detailtreue und ratloserer Skepsis gezeichnet.”

Schon die ersten Seiten, in denen das Kind Arnold dem Lesefieber verfällt, die Szenen, wie er unter der Aufsicht des Vaters nur ausgewählte Werke aus dem ansonsten verschlossenen Bücherschrank entnehmen darf, sind so lebhaft und plastisch geschildert, dass man sich das bürgerliche Wohnzimmer der Prager Familie deutlich vorstellen kann. Und zugleich hat dieser Ausschnitt bei mir Erinnerungen geweckt an die eigene Lesebiographie. Shakespeare gab es in unserem Haushalt nicht, aber Leseverbote schon: Auf keinen Fall sollte ich die Angélique-Reihe anrühren, zu verrucht! Mir ging es später wie dem erwachsen gewordenen Arnold: Die verruchten Stellen zauberten lediglich ein kleines Schmunzeln hervor…

Christoph Ribbat: Die Atemlehrerin

Christoph Ribbat erzählt in “Die Atemlehrerin” das Schicksal der jüdischen Gymnastiklehrerin Carola Spitz.

Bild von Anke Sundermeier auf Pixabay

Ein Gastbeitrag von Veronika Eckl

Aktuell wird ja viel über das Atmen geredet, weil es zu Pandemie-Zeiten ein Problem ist, dass wir es tun und dabei Aerosole verbreiten, die wiederum… wir wissen es. Allerdings sollten wir da, wo wir niemandem ins Gesicht schnaufen, unbedingt atmen, am besten durch die Nase ein und durch einen Strohhalm aus. Das würde unseren verspannten Körpern und Seelen guttun – davon jedenfalls ist man nach der Lektüre von Christoph Ribbats nonfiktionaler Erzählung Die Atemlehrerin überzeugt. Sie beschreibt das Leben der 1901 geborenen jüdischen Gymnastiklehrerin Carola Spitz aus Berlin, die in ihrem Studio am Central Park bis in die neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein die New Yorker in der Kunst des richtigen Luftholens unterwies.

Schicksal einer jüdischen Emigrantin

Ein Buch also, das vor allem für unterbeschäftigte Achtsamkeitsfanatiker interessant ist, denen es Spaß macht, stundenlang auf Yogamatten herumzuliegen? Mitnichten. Ribbat ist Amerikanistik-Professor in Paderborn und hat für sein Buch mit wissenschaftlicher Akribie den Nachlass Spitz’ ausgewertet, den ihm die amerikanischen Enkel überließen. Es liest sich dennoch spannend wie ein Roman, und zwar auch dann, wenn man mit selbstoptimierender Innerlichkeit nichts am Hut hat. Denn das Schicksal dieser sich emanzipierenden Frau, einer von vielen jüdischen Emigrantinnen, ist ebenso interessant wie die kleine Kulturgeschichte der körperlich-seelischen Ertüchtigung, die Ribbat hier entwirft.

Ermutigend war es jedenfalls nicht, was Carola Spitz als junges Mädchen von ihrer Mutter zu hören bekam: „’Einen Mann wirst du auch nicht kriegen’, sagt ihr die Mutter. ‘Du bist nicht schön’, sagt sie, ‘und nicht interessant, nicht besonders begabt…“ Diese Prophezeiung erfüllt sich nicht, denn Carola wird von ihrer frühen Begeisterung für Bewegung doch immer wieder heil durchs Leben getragen. Gegen den Willen der Familie bricht sie ihr geisteswissenschaftliches Studium ab und macht eine Ausbildung bei Anna Herrmann, einer von vielen Gymnastiklehrerinnen jener Zeit, die Körper und Seele in Einklang bringe wollen.

Mitarbeit bei Elsa Gindler

Dann arbeitet sie für Elsa Gindler, schon damals eine Ikone der Atemtechnik, interessiert sich für die Psychoanalyse. Kreative, spielerische Körperarbeit ist Trend in der Weimarer Republik und soll der Not des von der Arbeit gestressten, verkrampften, hypernervösen Großstädters entgegenwirken – eine erstaunliche Parallele zur heutigen Zeit. Bald werden sich jedoch die Nazis diese Bewegung zu eigen machen und den vielen jüdischen Gymnastiklehrerinnen das Unterrichten verbieten.

Mit ihrem Mann, dem Zigarettenfabrikanten Otto Spitz, und ihrer Stieftochter flieht Carola gerade noch nach Amsterdam, Paris und, nach langem, qualvollem Warten auf ein Visum, nach New York. Es ist anrührend, wie Ribbat lakonisch die Haushaltsgegenstände auflistet, die bereits mit dem Container aus Europa eingetroffen sind – der Plattenspieler und das Limoges-Porzellan sind da, ebenso die Gymnastik-Utensilien: „ein Medizinball, ein Gummiball, fünf Springseile, sechs Keulen“.

Mutter wird in Auschwitz ermordet

Der Autor schafft es, aus dem Archiv-Material heraus und mit Mut zur Leerstelle doch ein lebendiges Panorama der deutsch-jüdischen Emigranten-Szene der fünfziger Jahre zu entwerfen mit allem, was die unfreiwillig Verbannten quälte: Geldsorgen, Heimweh, Erschrecken vor dem Konkurrenzkampf in den USA, der Schmerz um die in Konzentrationslagern ermordeten Verwandten. Auch Carola Spitz’ Mutter wird es nicht mehr aus Amsterdam herausschaffen und in Auschwitz „erstickt“ werden, wie Carola erst 1951 vom Roten Kreuz erfährt – „erstickt“, wie entsetzlich muss es ausgerechnet für sie gewesen sein, das zu hören!

Da arbeitet Mrs Speads, wie sie sich inzwischen nennt, schon Jahre als Gymnastiklehrerin, von der die New Yorker zunehmend begeistert sind, während ihr Mann mehr oder weniger arbeitslos ist. Sie kämpft sich aus der Hausfrauenrolle heraus, in die der Neustart im fremden Land viele Frauen hineinzwingt, ernährt zeitweise die Familie. 1978 erscheint ihr Buch über das Atmen: Breathing: The ABCs. Wer richtig atmet, der kriegt auch das Leben auf die Reihe, das ist, etwas verkürzt gesagt, Carolas Botschaft an die Welt. Und so viele wollen jetzt in dieser hektischen Stadt mit der hohen Luftverschmutzung bei ihr atmen und lernen, achtsam mit dem eigenen Körper und der eigenen Seele umzugehen. Carola wird zu einer New Yorker Größe. Selbst nach einem Schlaganfall unterrichtet die Vierundneunzigjährige noch in ihrem Studio – halbseitig gelähmt.

Konzept der sensory awareness

Den richtig großen Erfolg allerdings hat eine andere: Carolas Berliner Jugendfreundin, die Gymnastiklehrerin Charlotte Selver, mit der Carola in den ersten zehn Jahren ihrer New Yorker Zeit zusammenarbeitet, bevor sich die beiden Frauen überwerfen. Selver zieht weiter nach Kalifornien, wird berühmt für ihr Konzept der sensory awareness, ist heute Teil der amerikanischen Kulturgeschichte. Das ist Carola nicht, und doch legt Ribbat Wert darauf, festzuhalten, dass die Achtsamkeitsbewegung, die seit den achtziger Jahren aus Amerika nach Europa schwappt – heute kommt ja keine Frauenzeitschrift mehr ohne dieses Zauberwort auf dem Titel aus – eigentlich zuerst über die Berliner Emigrantinnen in die Vereinigten Staaten gelangt ist.

Ribbat arbeitet mit harten Schnitten, lässt den Leser teilhaben an seiner Arbeit des Interviewens von Zeitzeugen und auch an seinen Zweifeln: Er belegt selbst einen Kurs in Berlin, der sich „Einführung in die Gindler-Arbeit“ nennt, um seinem Forschungsobjekt nahezukommen – und bricht nach einem Tag entnervt ab, weil er keine Lust mehr hat, seinem Atem ausgestreckt unter Stoffsäckchen nachzuspüren. Seiner Heldin hält er trotzdem die Stange. „Sie hat die Welt nicht verändert. Aber die Welt hat ihr dazu auch keine Gelegenheit gegeben“, schreibt der Autor. Wahrscheinlich ist aber genau dieses nicht ganz große Schicksal der Grund dafür, warum man das Buch mit Anteilnahme liest und die dort abgedruckten Fotos von Carola, ihrer Familie und ihren Schülerinnen am Ende betrachtet wie die von guten Freunden.


Informationen zum Buch:

Christoph Ribbat
Die Atemlehrerin. Wie Carola Spitz aus Berlin floh und die Achtsamkeit nach New York mitnahm.
Suhrkamp Verlag, 2020
Gebunden, 191 Seiten, 22 Euro
ISBN: 978-3-518-42927-3


Über die Autorin dieses Beitrags:

Veronika Eckl studierte Romanistik und Germanistik. Es folgten journalistische Lehr- und Wanderjahre bei der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Katholischen Nachrichten-Agentur« und beim »Bayerischen Rundfunk«. Nach ihrer Redakteursausbildung ging sie nach Rom, wo sie längere Zeit als Journalistin arbeitete und das Latium für sich entdeckte. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin für Deutsch, Französisch und Italienisch.

Christoph Heubner: Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen

Mit drei eindrücklichen Erzählungen gibt Christoph Heubner den Opfern des Holocaust eine Stimme.

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Das Gemälde “Triumph des Todes”(Die Gerippe spielen zumTanz) von Felix Nussbaum entstand 1944. Reproduktion von Wikimedia, das Original ist im Felix Nussbaum Haus in Osnabrück zu sehen.

„Als Kind habe ich geträumt, dass ich erwachsen bin und fliegen kann. Ich habe geträumt, dass mich Räuber in einen dunklen Wald schleppen, und ich habe geschrien. Der Junge hat zuviel Phantasie, du musst ihn schärfer herannehmen, hat mein Vater zu meiner Mutter gesagt. Also habe ich beschlossen, keinen Unsinn mehr zu machen und nicht mehr zu träumen.“

Christoph Heubner, „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“


Aus dem Jungen wird ein Mann, der Mann wird zum Großvater. Er führt ein angepasstes, arbeitsames Leben in seinem ungarischen Heimatort Kaposvár. Erst durch seine Enkelin, die er über alles liebt, wird der alte Mann wieder zum Jungen, der träumen kann. Doch sie, die kleine Giliki, ist eine der ersten, die aus dem Waggon mit 87 Menschen gezerrt wird, die der Mordmaschine vorgeworfen wird. Während für den Alten sein schlimmster Alptraum wahr wird: In einen Wald verschleppt, ein Waldstück nahe des Vernichtungslagers, wartet er gemeinsam mit einer letzten Übriggebliebenen aus seinem Dorf darauf, was ihm geschehen wird. Die Zeichen, er hat sie schon in früheren Jahren gesehen, geahnt, dass da etwas ist:

„Den Hass und die Verachtung uns gegenüber haben sie sich für zu Hause und die Straße aufgespart. Ich wusste immer, dass sie ein Tier in sich eingesperrt hielten, das endlich raus wollte. (…) Blanker Hass. Und wenn die Meinen auf den Holzplatz kamen, habe ich den Hass hinter ihren Augen gesehen, wenn sie mich angeschaut haben. Sie haben gewartet, dass sie von der Kette kommen.“

Jetzt, 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, verstummen die letzten Zeitzeugen mehr und mehr. Und dennoch erscheint es in diesen Tagen umso wichtiger, die Stimmen, die vom eigentlich Unsagbaren erzählen und von den unmenschlichen Taten Zeugnis ablegen, weiterhin hörbar zu machen.

Heubner gibt den Opfern eine Stimme

Einen besonderen literarischen Weg hat dazu der Schriftsteller Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, eingeschlagen. In seinem Band „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ gibt er den Opfern eine Stimme: Einfühlsam, nah an der Realität trotz der fiktionalen Bearbeitung, nachhallend.

Für die drei in diesem Band versammelten Geschichten wählte Heubner drei Stimmen, drei Formen. „Nach Auschwitz – drei Geschichten“, wie der Untertitel sagt, und jeder der drei Geschichten hallt lange nach. „Das leere Haus“, die Erzählung einer Überlebenden, reicht bis in unsere Gegenwart. Sie erzählt vom Überlebenskampf der allein gebliebenen und auf sich gestellten Kinder nach dem Krieg und nach dem Lager, von der Heimatlosigkeit, der Entwurzelung, dem Schuldgefühl der Überlebenden. Wie man sich wieder ein Leben zurechtzimmern kann, wie man weitermachen kann:

„Wir waren für uns. Das war jetzt unser Maulwurfhügel. Weit weg von den alten Gespenstern, die Angst lag in unserer Wohnung wie ein alter Hund, der nur noch leise vor sich hin schnarcht.“

Doch der Kettenhund – ein Symbol in allen drei Geschichten – er schläft nicht, er ist noch lebendig: Die Erzählung endet mit dem Anschlag auf die Synagoge in Pittsburgh 2018, bei dem elf Menschen getötet und andere schwer verletzt wurden.

„Vier Minuten. Es waren vier Minuten. Und mir war, als hätte ich am anderen Ende des Parkplatzes meine Mutter gesehen. Sie war so jung wie damals, als sie uns abgeholt haben und schrie: Vier Minuten, ist es nie zu Ende?“

Stellvertretend für die Toten von Birkenau

In „Ein Stück Wiese, ein Wald“ stehen sich zwei Menschen gegenüber, ein Mann und eine Frau, stellvertretend für die über 440 000 ungarischen Juden, die 1944 in wenigen Monaten in Birkenau ermordet wurden. Menschen, so Christoph Heubner, die sich in den Jahren davor niemals hätten vorstellen können, dass sie in Lager abtransportiert, verschleppt und getötet werden könnten, weil sie Juden waren.

Fiktives Tagebuch von Felka Platek und Felix Nussbaum

In der dritten, titelgebenden Erzählung „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“, setzt Heubner eine Idee fort, die 2007 nach einem Gespräch mit Stéphane Hessel entstand, ein fiktives Tagebuch der beiden Künstler Felka Platek und Felix Nussbaum, die 1944 in ihrem Versteck bei Brüssel aufgegriffen und verhaftet wurden und in Auschwitz starben. Heubner veröffentlichte das fiktive Tagebuch zunächst auf dem Internetportal des Auschwitz Komitees und trug es bei mehreren Lesungen vor – im Nachwort weist er ebenfalls auf den Roman von Hans Joachim Schädlich, „Felix und Felka“, hin.

Bemerkenswert ist es, wie Christoph Heubner es auch in diesem kurzen Text gelingt, innerhalb weniger Seiten die ganze Dramatik des Geschehens deutlich zu machen: Zwei junge Menschen, die jeder für sich aufbrechen, um sich selbst zu verwirklichen, ihren eigenen künstlerischen Weg einzuschlagen, voller kreativer Kraft und Hoffnung. Und wie schnell aus den wenigen Zeilen dann die Verzweiflung spricht, weil ihnen alles geraubt wird – Arbeits- und Lebensmöglichkeiten, wie sich die Klaustrophobie und Unsicherheit in den engen Verstecken auf den Leser überträgt, wie mehr und mehr die Hoffnungslosigkeit zunimmt. Christoph Heubner sagt dazu in seinem Nachwort:

„Die Bilder von Felka Platek und Felix Nussbaum jedoch, gegen die materielle Not, die alltägliche Angst und das Grauen entstanden: auch sie halten stand und erinnern an die Empörung und die Menschlichkeit, die die Résistance gegen die deutschen Nationalsozialisten in Europa getragen hat und zu der auch Felka Platek und Felix Nussbaum für alle Zeiten gehören. Das wollte ich unbedingt erzählen.“

Und dieses Weiter-Erzählen ist so wichtig in unserer Zeit. „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ ist ein schmaler Band, aber von großem Gewicht.


Informationen zum Buch:
Christoph Heubner
Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen
Steidl Verlag 2019
Leineneinband, gebundes Buch, 104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN 978-3-95829-717-3

Weitere Informationen:
Christoph Heubner im Interview im Deutschlandfunk
Auf der Seite des Auschwitz Komitees

Olga Tokarczuk: Die Jakobsbücher

Überwiegend wurden „Die Jakobsbücher“ im Feuilleton als „Opus Magnum“ der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk gefeiert, als ein Roman, der vor allem in Polen – wo das Buch ja auch bei Nationalisten auf heftigen Widerstand und zu Bedrohungen der Autorin führte – zu einem neuen, anderen Blick auf die europäische und polnische Geschichtsschreibung führt. Mich ließ das jüngste Werk der Literaturnobelpreisträgerin jedoch etwas ratlos zurück.

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Bild: Michael Flötotto

Überwiegend wurden „Die Jakobsbücher“ im Feuilleton als „Opus Magnum“ der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk gefeiert, als ein Roman, der vor allem in Polen – wo das Buch ja auch bei Nationalisten auf heftigen Widerstand und zu Bedrohungen der Autorin führte – zu einem neuen, anderen Blick auf die europäische und polnische Geschichtsschreibung führt. Mich ließ das jüngste Werk der Literaturnobelpreisträgerin jedoch etwas ratlos zurück.

Zugegeben: Sprachlich und stilistisch (offenkundig auch eine Meisterleistung der Übersetzer Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein) ist dieses Mammutwerk faszinierend. Olga Tokarczuk führt einen auf den Spuren des Sektengründers Jakob Frank auf „eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet“, wie es der opulente Untertitel des Romans besagt.

Barockspektakel aus Polen

Das „Barockspektakel“ (so Insa Wilke im WDR als eine der wenigen kritischen Stimmen) entfaltet an der Figur dieses Mannes ein Bild vom jüdischen Leben in Polen im 18. Jahrhundert, von der Verfolgung des Judentums zwischen willkürlichen Pogromen und den Versuchen zur Emanzipation oder auch Anpassung. So zeigen die Jakobsbücher auch die Wanderungsströme der Menschen durch Europa und den Orient nach – Frank selbst tritt beispielsweise zwischenzeitlich zum Islam über, bis er seine Anhängerschaft in das Christentum und nach Offenbach am Main führt (hier begegnet er übrigens auch Sophie von La Roche, eine der vielen Personen, die im Roman ihren Auftritt haben).

“Die Jakobsbücher” bewegt durch eine Recherche, die jüdische Geschichte als europäische Geschichte festschreibt – und es bestürzt durch die Einsicht, dass Wissen allein nicht klug macht“, urteilt Amelia Wischnewski im NDR. Dem kann ich zustimmen. Und dennoch ließ mich die zweiwöchige Lektüre unzufrieden zurück: Warum so viele Menschen auf den faulen Zauber eines Jakob Frank hereinfielen, welche Faszination der Mystizismus  vor allem auf die Ärmsten ausübte, die ihn als Ausweg aus ihrem irdischen Leid begreifen mussten, all dies geht in der Fülle des Romans unter und wäre doch das Kernmotiv.

Für den noch jungen Kampa Verlag, der seit einiger Zeit die Werke von Olga Tokarczuk in deutscher Sprache wieder auflegt beziehungsweise neu herausgibt, war die Verleihung des Literaturnobelpreises an die polnische Schriftstellerin ein Glücksfall. Für die Leserinnen und Leser ist es dies auch – aber ich würde zum Einstieg andere Bücher von ihr empfehlen, unter anderem „Unrast“, das mich vor Jahren wirklich begeisterte oder den von Veronika Eckl besprochenen “Gesang der Fledermäuse”.


Informationen zum Buch:

Olga Tokarczuk
Die Jakobsbücher
Kampa Verlag
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein
1184 Seiten | Gebunden |42,00 Euro
ISBN 978 3 311 10014 0 | Auch als E-Book

Eddy de Wind: Ich blieb in Auschwitz

Der holländische Arzt Eddy de Wind überlebte Auschwitz. Schon 1946 veröffentlichte er seinen Bericht, der jedoch erst im Jahr 2020 in deutscher Sprache erschien.

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Bild von Peter Tóth auf Pixabay

„Sie haben ihre Arbeit schlecht gemacht. Nach kurzer Zeit, nach einer Stunde vielleicht, bin ich wieder zu mir gekommen. Ich lag in der Grube, inmitten von lauter ermordeten Frauen, und habe noch gelebt. Da habe ich gespürt, dass sich meine Haltung verändert hat, dass ich am Leben bleiben muss, am Leben bleiben will, um davon zu erzählen. Um allen davon zu erzählen, die Menschen davon zu überzeugen, dass das hier wirklich passiert ist…“

Eddy de Wind, „Ich blieb in Auschwitz. Aufzeichnungen eines Überlebenden 1943 – 1945“.


Dies ist ein Buch, das sich einer gängigen Besprechung entzieht.
Es ist ein Buch, das einen auch heute noch beim Lesen, da die Geschehnisse über ein dreiviertel Jahrhundert zurückliegen, mit Entsetzen und Fassungslosigkeit erfüllt.

Und ein Buch, das Scham auslöst:
Scham darüber, dass das darin Geschilderte tatsächlich geschehen konnte.
Scham darüber, dass dieser Bericht, als er 1946 erstmals und 1980 erneut in den Niederlanden erschien, scheinbar nur wenige Menschen erreichte und interessierte.
Und auch Scham darüber, dass die Hoffnung seines Verfassers, dieses Buch möge mit „einem neuen Humanismus den Weg“ bereiten, nicht erfüllt wurde.

Berichte aus der Hölle von Auschwitz

Bereits vor 30 Jahren hatte Eddy de Wind eine Neuauflage seines Berichtes aus der menschlichen Hölle angestrebt, weil, so heißt es im Nachwort der jetzigen Auflage, er sich zunehmen Sorgen macht „über etwas, das er eigentlich nie mehr erleben wollte, über das Wiederaufflammen von Intoleranz und politischer Gewalt – auch in Westeuropa.“ Wieviel Grund zur Sorge hätte der holländische Arzt und Psychoanalytiker erst heute, in diesen Tagen, da von manchen Politikern der Nationalsozialismus ganz offen als „Vogelschiss“ und das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ bezeichnet wird und Faschisten in fast allen europäischen Ländern ihre Wiederauferstehung feiern?

Gerade deshalb ist es wichtig, dass dieses Buch gerade jetzt wieder erscheint – erstmals in deutscher Übersetzung (durch Christiane Burkhardt) im Piper Verlag sowie in weiteren zwanzig Ländern.

Die Niederlande unter nationalsozialistischer Besatzung

Eddy de Wind (1916 – 1987) ist der letzte jüdische Student, der an der Universität in Leiden noch seinen Abschluss machen kann. Noch kann der junge Mann einige Monate in Amsterdam in Freiheit verbringen. Doch der Zugriff der nationalsozialistischen Besatzer wird immer enger. Um seiner Mutter, die im Lager Westerbork inhaftiert ist, helfen zu können, meldet sich de Wind als Freiwilliger im Arztdienst für dieses Lager – als er ankommt, ist seine Mutter jedoch bereits schon nach Auschwitz deportiert. Ein Schicksal, das auch ihn und seine Frau Friedel, der er in Westerbork kennengelernt hat, wenig später trifft.

In seinem Zeitzeugenbericht schildert de Wind die Verhältnisse in Auschwitz, in dem er von 1943 bis 1945 zahllose Grausamkeiten am eigenen Leib erlebt und miterleben muss, aus beinahe sachlicher, distanzierter Sicht – in einer nüchternen Sprache, in der sich jedoch die ganze Inhumanität, die dieser Todesmaschinerie innelag, erst richtig enthüllt.

„Es ging zum alten Krematorium, das zweihundert Meter vom Lager entfernt war. Es wurde nicht mehr benutzt. Seit alle Vernichtungen in Birkenau organisiert wurden und in Auschwitz bloß noch eine „normale“ Sterblichkeit herrschte, kamen die wenigen Leichen abends auf den Leichenwagen, der damit zu den Öfen von Birkenau fuhr.“

In der darauffolgenden Szene zeigt sich der ganze bürokratische Wahnsinn, der das Lagerleben und Lagersterben regelt – Eddy de Wind, der sich in seinen Aufzeichnungen Hans nennt, wird zu einem besonderen Einsatz eingeteilt:

„In einem der Räume des Krematoriums türmten sich Blechbehälter – die Urnen der Polen, die hier verbrannt worden waren. Die Familie bekam anschließend die Todesnachricht und konnte die Urne anfordern. Aber im Laufe der Jahre hatten sich vierzigtausend Urnen angesammelt, die jetzt in einen anderen Raum gebracht werden mussten.
Die Männer bildeten eine lange Menschenkette durch die Kellerräume, in denen die drei großen Öfen standen. Sie warfen sich die Urnen zu wie Käse- oder Brotlaibe. Noch nie hatte Hans so viele Tote in den Händen gehabt wie in diesen Stunden.“

Eddy de Wind erzählt von den Massentötungen, von der Ausbeutung der Menschen als Arbeitssklaven, von Hunger, Erschöpfung und zugleich der dem Lager innewohnenden Monotonie. Er macht in seinem Bericht die Hierarchie sichtbar, die unter all den Insassen die Juden an die unterste Stufe setzt, den SS-Mann als „Krönung der arischen Schöpfung“ dagegen zu allem berechtigt:

„Wer hat noch nie einen Betrunkenen gesehen, der seinem jaulenden Hund einen Tritt versetzt? Der Hund jault dann noch lauter, und obwohl der Mann betrunken ist, spürt er zu Recht, dass das Tier ihn wegen seiner Brutalität anklagt. Zu aufrichtiger Reue ist der Mann nicht imstande, dennoch weckt das anklagende Jaulen unangenehme Gefühle, die er mit einem stets brutaleren Auftreten überspielt. Fester treten, lauter jaulen – so lange, bis der Hund totgetreten ist.“

Das Berührende an diesem Text ist es, dass hier ein Mensch aus der Vergangenheit zu uns spricht, der unwürdiger behandelt wurde wie ein Tier – und der doch, wie andere seiner Leidensgenossen auch, seine Würde behielt, seine Menschlichkeit. Eddy de Wind erzählt auch von der Solidarität unter den Häftlingen, von ihrem Überlebenswillen, der natürlich auch vom Gedanken an Rache angetrieben wird. Und den Erzähler selbst hält das Wissen aufrecht, dass seine Frau Friedel nur einen Block entfernt noch unter den Lebenden ist und sich zudem lange den grausamen Experimenten der Lagerärzte unter Leitung des Dr. Mengele entziehen kann. Um mit ihr nur ab und an einige Worte und Lebensmittel wechseln zu können, dafür riskiert Eddy de Wind regelmäßig sein Leben.

Todesmarsch und Überleben

Erst 1945, als die russischen Befreier kommen, erlebt das Ehepaar eine wirkliche Trennung: Friedel begibt sich, entgegen seines Rats, auf einen der Todesmärsche, auf die die SS Abertausende ihrer Gefangenen jagt, er dagegen versteckt sich im Lager und überlebt so die letzten Tage in Auschwitz. Es grenzt an ein Wunder, dass das Paar sich nach seiner Rückkehr in die Niederlande wiederfand, auch wenn die Ehe den durchlittenen Alptraum nicht überstand.

Eddy de Wind begann mit seinen Aufzeichnungen bereits, als die Deutschen aus Auschwitz abgezogen waren. Eine kleine Ironie des Schicksals: In einer Kladde der Deutschen hielt er all die Gräuel fest, deren Zeuge er wurde. So spricht aus diesem Buch die authentische Stimme eines Zeitzeugens, der, obwohl er selbst später als Psychiater und Psychotherapeut traumatisierten Kriegsopfern half, wusste, dass dieses Trauma in einem Menschenleben nicht zu überwinden ist, dass es kein Vergessen geben kann – „Ich blieb in Auschwitz“ ist ein Titel, der alles dazu sagt.


Informationen zum Buch:

Eddy de Wind
Ich blieb in Auschwitz
Piper Verlag 2020
Übersetzt von Christiane Burkhardt
240 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 20,00 Euro
EAN 978-3-492-07001-0

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