#MeinKlassiker (36): Hildegard E. Keller sagt: Endlich! Etty Hillesum – Chronistin ihrer Zeit

Erstmals liegen sämtliche Schriften Etty Hillesums in deutscher Sprache vor. Endlich, sagt Literaturexpertin Hildegard E. Keller. Denn die Tagebücher der jungen Niederländerin werden als philosophische Lebenskunst, Mystik des Alltags und Ethik des Mitleidens gefeiert. Für Keller ist Hillesum #MeinKlassiker.

2016 bat ich einige Literaturblogger*innen, Autor*innen und andere Menschen aus dem Literaturbetrieb, doch einmal ganz frei über ihre Klassiker zu schreiben: Schriftstellerinnen und Schriftsteller und Bücher, die einen das ganze Leben über begleiten. Der Zuspruch und das Interesse war enorm: Es gab 35 Beiträge unter dieser Rubrik auf dem Blog, der seinerzeit noch unter Sätze&Schätze firmierte. Sie werden nach wie vor gelesen: Klassiker machen neugierig. Allen, die bisher zu der Reihe beigetragen haben, an dieser Stelle nochmals mein herzlichster Dank!
Inzwischen ist mein Literaturblog wiederbelebt. Und als ich neulich einen Beitrag über meinen Klassiker schrieb, “Die Insel des zweiten Gesichts” von Albert Vigoleis Thelen, wurde einmal mehr deutlich, wie groß, auch im Trubel der Neuerscheinungen, das Interesse an Autor*innen ist, deren Werke die Jahre überdauern.
Die Idee, #MeinKlassiker mit dem Blog wieder mit neuem Leben zu erfüllen, war da – und ich war ganz positiv überrascht, dass schon einige literaturaffine Menschen meiner Einladung gefolgt sind und hier über ihre Klassiker schreiben werden. Ich freue mich sehr über den Auftakt zu #MeinKlassiker 2.0 durch Hildegard E. Keller, die mit Etty Hillesum eine ganz besondere Frau vorstellt.
Ein Werk, das die Jahre überdauert hat und eine Neuerscheinung ist.


Ein Gastbeitrag von Hildegard E. Keller

Im Mittelalter stellte man sich die Liebe als noble Dame vor: Vrouwe Minne, Frau Minne, Lady Love. Die ersten Dichterinnen im deutschen und niederländischen Sprachraum, deren Namen wir kennen und deren Werke erhalten geblieben sind, dienten ihr als Sprachrohr. Es sind grosse Namen. Es sind Klassikerinnen. Es sind auch die einzigen schreibenden Frauen zwischen 1100 und 1300. Dichten ist für sie Dienst an ihrer Chefin, denn die Liebe ist die heimliche Göttin an Gottes Seite.

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Im Hörspiel Der Ozean im Fingerhut (2011) brachte ich drei dieser Klassikerinnen zusammen: die alte Hildegard von Bingen (1098-1179), die in ihrem langen Leben über fast alles geschrieben hat; Mechthild aus Magdeburg (um 1207-1282), die uns ihr Buch Das fliessende Licht der Gottheit hinterliess und die geheimnisvolle Hadewijch (sie schrieb um 1250), die in mittelalterlichem Niederländisch Lieder, Visionen und Briefe dichtete. Die inoffizielle Hauptperson des Hörspiels ist aber Etty Hillesum (1914-1943). Sie gehört zu den Klassikerinnen, die genug bekannt sind, dass sich jemand für ihr Werk interessiert, genug unbekannt, dass man sie neu entdecken kann. Das Hörspiel inszeniert eine fiktive Begegnung. Da die vier nur jenseits von Ort und Zeit zusammenfinden konnten, erschuf ich mit literarischen Mitteln einen Begegnungsraum. Für mich war es Forschung mit künstlerischer Freiheit, ein Abenteuer, auf Mittelhochdeutsch âventiure.

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Etty Hillesum spricht mit ihren christlichen Kolleginnen über die gemeinsamen Themen: das Schreiben, die Liebe, Gott und die Welt. Etty sah sich selbst als Chronistin ihrer Zeit, ist aber weit mehr als eine jüdische Zeitzeugin. In ihrem nur neunundzwanzig Jahre langen Leben, das in Auschwitz gewaltsam beendet wurde, hat sie lieben gelernt wie keine. Zwei Jahre lang beschreibt sie in Tagebüchern ihren inneren Weg. Sie schildert auch, wie sich im nationalsozialistisch besetzten Amsterdam ihr Lebensraum verengt, wie es sie immer stärker nach innen drängt. Ihre Tagebücher und Briefe wirken auch achtzig Jahre nach ihrem jähen Abriss atemberaubend und erfrischend. Als ich 2010 mein Hörspiel schrieb, musste ich mich auf internationale Ausgaben ihres Werks stützen, die niederländische Originalausgabe, die englische, italienische, französische und spanische, denn die gab es alle, meist gut kommentiert. Was fehlte, war die deutschsprachige Gesamtausgabe. Dies fand ich so unerhört, dass ich einen deutschen Verlag zu gewinnen suchte, doch das Projekt versandete. Das ist gut so. Denn vor wenigen Tagen ist sie endlich bei C.H. Beck erschienen: die erstmals vollständige und neu übersetzte Gesamtausgabe: «ICH WILL DIE CHRONISTIN DIESER ZEIT WERDEN. Sämtliche Tagebücher und Briefe 1941–1943.» Hg. von Pierre Bühler. Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth ausgezeichnet übersetzt. Die rund tausend Seiten lesen sich hervorragend, man ist dankbar für den grosszügigen Kommentar- und Bilderteil, diese Ausgabe erfüllt einen meiner Herzenswünsche. Eine Pflichtlektüre für alle.

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Wie schon die meisten internationalen Ausgaben hilft das neue Gesamtwerk beim Lesen. Damit meine ich den wichtigen Zwei- und Mehrsprachenraum, in dem Etty Hillesum gelebt, gedacht, geschrieben hat. Literatur, Weltliteratur, aber besonders auch russische und deutsche Literatur bedeuteten ihr viel. Einer ihrer Hausdichter, Rainer Maria Rilke, vor allem aber die Begegnung mit Julius Spier, nach der Reichskristallnacht aus Berlin nach Amsterdam geflohen, trugen dazu bei, dass Etty Hillesum zahlreiche Passagen auf Deutsch in ihr niederländisches Original einfügte. Diese Koexistenz von Niederländisch und Deutsch, die in der neuen Ausgabe mit Serifen bzw. serifenloser Schrift sichtbar gemacht wird, ist wesentlich. Etty Hillesum pflegte das Neben- und Miteinander der zwei Sprachen ganz bewusst, in Amsterdam wie auch später im Durchgangslager Westerbork. Es war eine Geste des inneren Widerstands gegen den Hass, den die Situation aufoktroyierte. Sprachlich und überhaupt in nur jeder denkbaren Weise nutzte Etty Hillesum jeden Moment, um in ihrer Liebesfähigkeit zu wachsen.  

Mittwochmorgen, 29. April [1942].

Dass ich so stark lieben kann! Mein Inneres blüht in alle Richtungen auf und die Liebe wird immer stärker und größer und ich lerne auch immer besser, sie zu ertragen und nicht darunter zermalmt zu werden. Und durch dieses Ertragen fühlt man, dass man immer stärker wird. Dass ich so sehr lieben kann!
Er ist ganz großartig. (S. 450)

5 Uhr nachmittags.

An ihm bin ich eigentlich erst schöpferisch geworden – verrückt, manche Dinge kann ich überhaupt nicht mehr auf Niederländisch sagen. An ihm sind meine schöpferischen Kräfte zum ersten Mal erwacht und an ihm werden sie auch zum ersten Mal eine Form annehmen. Er muss mich später wieder von sich wegstoßen, in den Raum hinein. In einem einzigen klaren Augenblick sehe ich dies plötzlich sehr deutlich: dass ich mich nicht danach sehnen sollte, ein Leben lang bei ihm zu bleiben oder ihn heiraten zu wollen. An ihm bin ich zu einer Form gelangt, aber er muss sich von mir wegstoßen, sodass ich später in einem kosmischen Raum zu einer neuen Form gelangen werde, unabhängig von ihm. (S. 451)

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Endlich kann diese Klassikerin des literarischen Humanismus neu gelesen werden. Alle, die diese bahnbrechende Gesamtausgabe in die Welt gebracht haben, verdienen Hochachtung. Das gilt ganz besonders für die Übersetzerinnen. Am 5. April findet die Buchpräsentation in Zürich statt, mit dem Herausgeber Pierre Bühler, der Übersetzerin Christina Siever, Marja Clement und mir; Moderation Verena Mühlethaler. Am 12. April werde ich den Experimentalfilm Der Ozean im Fingerhut, den ich 2012 auf der Grundlage des gleichnamigen Hörspiels produziert habe, zeigen.

Ein Beitrag von Hildegard E. Keller


Bibliografie:

Etty Hillesum
Ich will die Chronistin dieser Zeit werden
Sämtliche Tagebücher und Briefe (1941 – 1943)
C.H.Beck Verlag, München, März 2023
Hardcover, 989 S., mit 46 Abbildungen
ISBN 978-3-406-79731-6

Von Etty Hillesum. Herausgegeben von Klaas A.D. Smelik, Deutsche Ausgabe herausgegeben von Pierre Bühler. Mit einem Vorwort von Hetty Berg. Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth.

Buchvernissage in Zürich:
https://citykirche.ch/buchvernissage-und-mystikreihe-zu-etty-hillesum/


Zur Autorin dieses Beitrags:

Von 2009 bis 2019 war Hildegard Keller Literaturkritikerin im Fernsehen (Jurymitglied beim Bachmannpreis, ORF/3sat; Kritikerteam des Literaturclubs SRF/3sat). Seit 2019 konzentriert sie sich auf ihre künstlerischen Projekte (Literatur, Film, Storytelling) und gibt die Edition Maulhelden heraus. Seit den frühen 1990er Jahren lehrte sie deutsche Literatur an Universitäten im In- und Ausland (USA, GB, NL, D, ARG, TUR), zehn Jahre lang als Professorin an der Indiana University in Bloomington (USA), wo sie ihren ersten Dokumentarfilm (Whatever Comes Next, 2014) geschaffen hat; heute lehrt sie Multimedia-Storytelling an der Universität Zürich. Ihr Werk umfasst Romane, Hörspiele, Radiofeatures, Podcast, Filme und Performances. Ihr Hörspiel DIE STUNDE DES HUNDES war für den Deutschen Hörbuchpreis 2009 nominiert und wurde mit dem Theophrastus-Preis ausgezeichnet. Sie ist zudem Herausgeberin, Übersetzerin und Biografin von Alfonsina Storni; die fünfbändige Werkauswahl wurde in der Edition Maulhelden veröffentlicht. 2021 erschien mit WAS WIR SCHEINEN ihr erster, vielbeachteter Roman: Eine Lebensreise mit Hannah Arendt. Am 28. März erscheint er auf Italienisch (Quel che sembriamo. Übersetzt von Silvia Albesano. Guanda; Buchpremiere am 30. März in Venedig).

Homepage von Hildegard Keller:
https://www.hildegardkeller.ch/

Edition Maulhelden:
https://www.editionmaulhelden.com/

Den Film und das Hörspiel “Der Ozean im Fingerhut” gibt es zu kaufen, weitere Information und Bestellmöglichkeiten unter info@hildegardkeller.ch.

Hella S. Haasse: Der schwarze See

Dieser kurze, aber intensive Roman von Hella S. Haasse erschien 1948: Er erzählt von einer Kinderfreundschaft in den niederländischen Kolonien, die an den kulturellen und sozialen Grenzen zerbricht.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Ich wollte nichts anderes, als einen Bericht über unsere gemeinsam verbrachte Jugend schreiben. Ich wollte das Bild dieser Jahre festhalten, die nun so spurlos vergangen sind, als wären sie nicht mehr gewesen als Rauch im Wind. Kebon Djati ist Erinnerung, auch das Internat und Lida; Abdullah und ich gehen schweigend aneinander vorüber, und Urug werde ich nie wiedersehen. Es ist überflüssig, einzugestehen, dass ich ihn nie verstanden habe. Ich kannte ihn, so wie ich den Telaga Hideung kannte – eine spiegelnde Oberfläche. Die Tiefe lotete ich nie aus. Ist es zu spät? Bin ich endgültig ein Fremder in dem Land, wo ich geboren bin, auf dem Boden, aus dem ich nicht umgepflanzt werden will? Die Zeit wird es lehren.“

Hella S. Haasse, „Der Schwarze See“


In der Reihe „Lilienfeldiana“ des Düsseldorfer Verlages gibt es immer wieder schöne, anspruchsvolle Entdeckungen zu machen. So der schmale Debütroman von Hella S. Haasse (1918 – 2011) der 1948 in den Niederlanden erschien. Die in den Niederlanden mit allen wichtigen Literaturpreisen ausgezeichnete Autorin schildert in ihrem Debüt eine Welt, die sie selbst aus eigener Erfahrung sehr gut kannte; wurde sie doch als Tochter eines Kolonialbeamten in Jakarta geboren und verbrachte ihre Kindheit und Jugend im stetigen Wechsel zwischen den Niederlanden und dessen Kolonien.

„Urug war mein Freund“: Mit diesen einfachen Worten beginnt der Roman, der die – deutlich einseitige – Freundschaft zweier Jungen irgendwo im heutigen Indonesien beschreibt. Der Sohn eines Niederländers schließt sich Urug, einem Jungen aus dem Dorf an: Er aus Einsamkeit (und Zuneigung), die Motive Urugs bleiben ungewiss. Die Erzählung setzt kurz vor dem Ersten Weltkrieg ein, Indonesien hat da bereits über drei Jahrhunderte Fremdherrschaft und Kolonialisierung hinter sich.

Die Geschichte der niederländischen Kolonien

Gregor Seferens, der unter anderem Harry Mulisch, Anna Enquist und Maarten `t Hart übersetzt, skizziert in seinem Nachwort die Geschichte der niederländischen Kolonien:

„Nach den Jahrhunderten der Ausbeutung empfanden sich die Niederlande nun mehr als Partner und Freunde, deren Aufgabe es war, den Eingeborenen dabei zu helfen, auf eine höhere zivilisatorische, westlich geprägte Ebene zu gelangen, und sie dazu zu befähigen, möglicherweise irgendwann sogar einmal unabhängig zu werden. Doch während sich die Weißen mit ihrem nun durch Humanität kaschierten Überlegenheitsgefühl auf der richtigen Seite wähnten, wuchs bei der indigenen Bevölkerung das Bewusstsein für das Unrecht, das sie auch in der Gegenwart noch erdulden musste. In der Aussage „Urug war mein Freund“ steckt die ganze Asymmetrie des Verhältnisses zwischen den Kolonisatoren und der eingeborenen Bevölkerung.“

Denn, wie der namenslose Erzähler am Ende erkennen muss: Es hieß nicht „Urug und ich waren Freunde“. Ganz ruhig, ganz zurückgenommen, bis auf die eindrücklichen Naturschilderungen, erzählt Hella S. Haasse wie die beiden Jungen zwar noch eine gemeinsame Schulausbildung genießen, sich dann jedoch Stück für Stück voneinander entfernen. Der Einbruch des Zweiten Weltkrieges vollendet, was schon am Zerbrechen war. Als der Ich-Erzähler in das von den Japanern zerstörte Land zurückkehrt, begegnen sich die beiden jungen Männer nur noch einmal in einer angespannten, feindlichen Situation: Urug, als Mitglied einer militanten Befreiungsbewegung, kann in dem Freund seiner Kindheit nur noch einen natürlichen Feind sehen.

Ein kleiner, schmaler Roman mit großen Nachwirkungen.


Informationen zum Buch:

Hella S. Haasse
Der schwarze See
Übersetzt von Gregor Seferens
Lilienfeld Verlag
ISBN 978-3-940357-57-1

Ich möchte auch noch auf die liebevolle Gestaltung der Reihe „Lilienfeldiana“ aufmerksam machen: Jedes Buch erscheint in Fadenheftung, mit Leineneinband und Lesebändchen, die Titel werden in Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Künstlern gestaltet. Für „Der schwarze See“ wurde das Bild „Flora“ von Anke Berßelis verwendet. Homepage der Künstlerin: www.bersselis.de

Margriet de Moor: Mélodie d`amour

Sie schreibt, als würde sie musizieren: Magriet de Moor. Bei ihrer “Mélodie d`amour” ist Moll der Grundton – eine dunkle Sinfonie der Liebe.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„So fuhren sie durch die still gewordene Stadt in der Nacht nach Hause zurück. Gustaaf mit einer Hand lenkend. Atie von Zeit zu Zeit seufzend, als wäre ihr klar, das ein Tag, ein Tag voller Glück, im All fehlte. Ausgelöscht, bei näherer Betrachtung, von irgendeiner Instanz mit langem, weitreichendem Arm.
Schlichtweg nicht dagewesen.“

Margriet de Moor: Mélodie d`amour

Moll in allen Variationen ist der Grundton dieses Buches: Ein lang verheiratetes Ehepaar, Eltern von vier Söhnen, erlebt einen glücklichen Abend zu zweit, trotz einiger Irrungen und Wirrungen zuvor, inklusive einer Ménage à trois mit Folgen, wieder glücklich vereint. Doch Atie, Gustaafs große Liebe, verliert an diesem Abend ihr Gedächtnis, später die Beherrschung über ihre Körperkraft, über ihre Körperfunktionen, lebt einem langsamen Tod entgegen. Gustaaf wird sie verlieren.

Ein Verlust, der in den Feuilletons bislang als Folge dieses Seitensprungs interpretiert wird. Ich sehe dies anders: Für mich beschließt Atie, trotz der Kränkung, trotz ihrer Wut und Verzweiflung, eine Trennung aus der Liebe heraus – wohl wissend, wie sehr ihre Krankheit alles verändern würde, auch die letzten Jahre. Aber diese Illusion möchte ich mir gern beibehalten – denn ansonsten ist in diesem Liebesreigen wenig zu finden, was Glück und Seligkeit verspricht.

Von der Liebe und der Musik

Margriet de Moor hat zwei Grundthemen: Die Liebe und die Musik. Ersteres wird sie selbst erfahren haben, zweites hat sie studiert – Gesang und Klavier an der Königlichen Akademie in Den Haag. In ihrem jüngsten Buch ist jedoch noch ein dritter Leitfaden zu finden: Der Tod. Die Liebe, der Tod und die Musik.

„Mélodie d`amour“ – leider ein etwas verkitschter Titel für ein stilistisch wunderbares Buch mit einer einfühlsamen, teilweise zarten, bittersüßen Sprache, das kunstvoll arrangiert ist: Wie eine Sinfonie in vier Sätzen. Es ist kein Roman, wie oftmals geschrieben wird, sondern es sind vier mit einander verknüpfte, doch in sich eigenständige Erzählungen, in denen die Grundtonart variiert wird. Und die ist dunkelmoll…

Im ersten, dem sogenannten Kopfsatz, wird – und zwar nur hier – aus der Perspektive des Mannes erzählt, Gustaaf, der seine Liebe verliert – zuerst an das Leben, dann an den Tod. Doch das Gespräch mit ihr endet damit nicht:

„Wie gut, dass wir hier geblieben sind. Du mochtest es immer, morgens durch das Schlafzimmerfenster den Schiffen zuzuschauen. Du liebtest es auch, am Strand spazierenzugehen und in die Bunker des Atlantikwalls hinunterzusteigen. Ich denke an die simpelsten Dinge, das Brot in deiner Hand, deine Röcke, deine Blusen. Du weißt, dass ich nicht metaphysisch veranlagt bin. Trotzdem würde ich gern wissen, was du mir gerade, kaum tot, fast noch lebend, so lieb, heimlich jenseits der Grenze hast zufunken wollen.“

Die weiteren drei Sätze dieser Liebesmelodie sind aus dem Blickwinkel von Frauen geschrieben – drei Frauen, die im Leben von Gustaafs jüngstem Sohn, dem sensiblen Luuk mit der engen Mutterbindung eine Rolle spielen: Cindy, die neurotische, obsessive Geliebte, die zur Stalkerin wird, die den Geliebten eher tot denn in den Armen einer anderen sehen will.

„Kinder, habe ich am Freitag darauf gefragt, was wiegt eurer Meinung nach schwerer, der Tod oder das Glück? Darauf gab es einiges Gemurmel und Geflüster. Ein paar Finger gingen hoch.
Der Tod.
Okay. Ich nickte und nahm einen anderen dran.
Der Tod.

Keines meiner Kinder hatte sich über meine Frage gewundert. Die kann man Dreizehnjährigen ohne weiteres stellen. Die Literatur arbeitet so viel adäquater als die Wissenschaft! Schneller, und wesentlich einleuchtender. Die Jungen und die Mädchen gaben denn auch alle de richtige Antwort. Wussten sehr gut, sowohl im philosophischen als auch im physikalischen Sinn, was es mit Schwere und Leichtigkeit auf sich hat.“

Da ist Roselynde, die zweite Geliebte, die an ihrer Jugendschuld trägt – dem tödlichen Unfall der Freundin ihres Bruders, aus Eifersucht verschuldet, der Tod ihres Bruders, der tatsächlich an gebrochenem Herzen stirbt. Ein Satz, beinahe ein Scherzo:

„Jetzt folgt leise, sogar ein wenig verlegen, seine fast tägliche Floskel: Ich ruf nur schnell an, um dir guten Morgen zu wünschen.
Und ich halte, von meiner Überraschung noch nicht erholt, meine derzeitige Lebenssituation fest. Es gibt einen Mann, der immer an mich denkt. Es gibt einen Mann, der seine Liebe zu mir als unverrückbaren Teil der Wirklichkeit betrachtet, wie beispielsweise geboren zu werden, offenkundig.“

Und es gibt in diesem Satz die leise Hoffnung, dass die Liebe mit allen ihren Komplikationen dazu geeignet ist, alte Wunden zu heilen, im kleinen Tod das tatsächliche Sterben zu überwinden, dass sie alles gut machen kann. So endet dieser Satz denn auch beinahe tröstlich:

Hoch über meinem Kopf machen sich die Schwalben in den Süden auf, obwohl sie bereits wissen: Wir kommen zurück, wir sind uns ganz sicher. Stimmt es, dass man sich vor allem in dem sicher ist, was das Verständnis übersteigt? Es ist ein altmodisch goldener Tag. Ich habe größte Lust, dir einen Liebesbrief zu schreiben oder, noch lieber, ein durch den Äther fliegendes Telegramm wie in früheren Zeiten.
KÜSSE DICH INNIG STOP LIEBE DICH STOP KÜSSE DICH NOCH MAL STOP HABE DIR ALLES ERZÄHLT STOP ROSELYNDE

Bittersüß bis zum Schlussakkord

Und dann zum Ende der Sinfonie werden die Leitfäden wiederaufgenommen, wiederholt, in Person der Ehefrau Myrte, der für mich rätselhaftesten Frauen in Luuks Welt – die, die sich mit den Geliebten arrangiert, die selbst noch nach Jahrzehnten in die unausgelebte Liebe zu einem wesentlich älteren Mann innerlich verstrickt ist, die scheinbar alles und jeden auf Distanz hält und dennoch in unverbrüchlicher Treue an ihren Menschen bleibt. Das Bild von ihr bleibt nach meinem Empfinden unentwickelt:

„Bin ich, soweit ich konnte, mit ihm gegangen in jener Nacht? Habe ich seinen letzten Blick gesucht, seine Hand in meiner gehalten? Mein Herz, meine Seele und die Wahrscheinlichkeit sagen, ja, meine Erinnerungen schweigen. Neben dem Bad mit dem Entwickler fehlte das Fixierbad. Was ich noch immer weiß, ist, dass ich sehr früh am Morgen sah, dass aus den drei Linien Striche geworden waren.“

Was also ist die „Mélodie d`amour“? Margriet de Moor erklärt nicht, interpretiert nicht, sie erzählt „nur“. Das aber streckenweise zum Weinen schön. Und dennoch – in einhelliger Verzückung pries das Feuilleton bislang diesen Liebesreigen als eines, wenn nicht gar zum Besten ihrer bisherigen Bücher. Ich blieb nach dem Lesen im Zweifel zurück – dass die Liebe in ihren Auswirkungen Verheerendes anrichten kann, dass in diesen Verstrickungen wenig bis gar nichts rational zu erklären ist, dass oft selbst die Beteiligten nicht wissen, warum sie wann auf wenn fällt und in welcher Form ereilt, das scheint bekannt. Doch manches in den vier Teilstücken bleibt zu lose, zu wenig nachvollziehbar, zu unvermittelt für meinen Geschmack. Und: Immer sind es die ganz großen Gefühle, die mit ganz großer Traurigkeit und Schuld bei den Protagonisten einhergehen. Einfach nur lieben, gelingt ihnen nicht. Einfach lieben scheint das Meisterstück zu sein, das außer Reichweite ist. Aber eine einfache Liebe ist wohl eben auch kein Stoff für die Literatur.

Fazit: Wunderschön zu lesen, aber nur dann, wenn man gewappnet ist, einer dunkeln, schweren Sinfonie zu lauschen.

Informationen zum Buch:

Margriet de Moor
Mélodie d`amour
Übersetzt von Helga van Beuningen
Hanser Verlag, 2014
ISBN 978-3-446-24478-8