Literarische Orte: Naumburg – wo Nietzsche weinte

Friedrich Nietzsche verbrachte seine Kindheits- und Jugendjahre in Naumburg in Sachsen-Anhalt. 1890 kam er in die Stadt mit dem weltberühmten Dom zurück: Seine Mutter nahm den geistig umnachteten Sohn in Pflege.

Am Holzmarkt in Naumburg: Das Nietzsche-Denkmal des Bildhauers Heinrich Apel. Bild: Birgit Böllinger

Oh Mensch! Gieb Acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
„Ich schlief, ich schlief -,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit
will tiefe, tiefe Ewigkeit!“

Friedrich Nietzsche


Als Nietzsche „Zarathustras Tanzlied“ schrieb, war es zwar noch einige Jahre hin bis zu seiner tiefsten Nacht. Aber vielleicht liegt in diesem fast flehentlichem Stoßseufzer nach „tiefer, tiefer Ewigkeit“ schon eine dunkle Vorahnung begriffen: Im Januar 1889 bricht der Philosoph und Schriftsteller psychisch zusammen, kommt zunächst in psychiatrische Krankenhäuser in Basel und Jena. 1890 kann ihn seine Mutter Franziska zu sich nehmen: In das Haus im Weingarten 18 in Naumburg, jener Stadt in Sachsen-Anhalt, in der Nietzsche auch seine Kindheits- und Jugendjahre verbracht hatte.

Nach dem Tod des Vaters, dem Röckener Pastor Carl Ludwig Nietzsche, war die Mutter mit Friedrich und dessen Schwester Elisabeth 1850 nach Naumburg gezogen, wo sie und die Kinder zunächst unter der „Fuchtel“ der wohl recht dominanten Schwiegermutter Erdmuthe Dorothea bis zu deren Tod 1856 standen. Dank der Hinterlassenschaft von Erdmuthe konnte Franziska schließlich eine eigene Wohnung mieten, 1858 zog sie dann mit ihrer kleinen Familie in den Weingarten um, zunächst als Mieterin, zwanzig Jahre später konnte sie das Haus kaufen: Was, als ihr Sohn zum Pflegefall wurde, ein Glücksfall war – denn später sollen sich Nachbarn über das laute Schreien des Mannes beklagt haben, wie heute in dem kleinen Nietzsche-Museum, das in dem Wohnhaus eingerichtet wurde, zu erfahren ist.

Büste des Philosophen im Nietzsche-Haus

Obwohl Nietzsche bereits zur Zeit des Einzugs in das auffällige Eckhaus eine Freistelle im Internat Schulpforta nahe bei Naumburg erhalten hatte, blieb das Haus „Mutterhaus“ und Lebensmittelpunkt, bis er 1864 sein Studium in Bonn begann. Das Verhältnis zur Mutter blieb eng, wenn auch wechselvoll: Schon der Abbruch des Theologiestudiums, aber auch später die Ménage-à-trois mit Paul Rée und Lou von Salomé trübten das Verhältnis zum „Herzenssohn“.

Das “Lama” Elisabeth Förster-Nietzsche

1890 nahm die betagte Frau (1826 – 1897) den Sohn wieder zu sich und pflegte ihn, gemeinsam mit Elisabeth Förster-Nietzsche, die 1893 nach dem Suizid ihres Mannes aus Paraguay zurückkehrte, bis zu ihrem Tod. Elisabeth, von Friedrich mit dem Spitznamen „Lama“ betitelt, hatte einen deutschnationalen Antisemiten geheiratet (ein Streitpunkt zwischen den Geschwistern), der in Paraguay eine Siedlungskolonie gegründet hatte. Nach ihrer Rückkehr nach Naumburg übernahm Elisabeth nach und nach die Kontrolle über Nietzsches Werk, sie gründete noch in Naumburg ein „Nietzsche-Archiv“, das sie nach dem Tod der Mutter nach Weimar verlegte – dort, in der Villa Silberblick, verbrachte der umnachtete Philosoph auch seine letzten Lebensjahre bis 1900. Förster-Nietzsche ist nicht unumstritten: Sie soll Texte ihres Bruders verfälscht haben, auch ihre anhaltenden Beziehungen zu nationalen und völkischen Kreisen führten dazu, dass manche sie zum „Sündenlama“, die Nietzsches Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten den Boden bereitet habe, erklärten – eine einseitige Anschuldigung, die aber bis heute überdauert.

Wer in Naumburg auf Nietzsches Spuren wandeln will, findet im Nietzsche-Haus eine kleine, etwas in die Jahre gekommene Dauerausstellung zu Leben und Werk. Unmittelbar daneben fällt ein architektonisch moderner Bau auf: Das Nietzsche-Dokumentationszentrum, ein öffentlich zugängliches Forschungs- und Kulturzentrum mit Bibliothek und Lesesaal und einem umfangreichen Programm. Und natürlich ist ein Abstecher zum Kloster St. Marien zur Pforte zu empfehlen: Dort, nahe bei Naumburg, besuchte nicht nur Nietzsche das Internat, auch Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Gottlieb Klopstock waren Schüler. Das 1137 gegründete Zisterzienserkloster beherbergt bis heute ein Internat für besonders begabte Schülerinnen und Schüler aus ganz Deutschland. Teile der Anlage, unter anderem die Klosterkirche, ein historischer Kreuzgang und ein alter Friedhof, können besichtigt werden – und dass man sich hier durchaus wie in „Hogwarts“ fühlen kann, wie meine Reiseführerin Constanze Matthes von “Zeichen & Zeiten” meinte, liegt bei diesem verwunschenen Ort durchaus auf der Hand. Conny nahm sich dankenswerterweise die Zeit, mir noch mehr Orte der Landschaft, in der Nietzsche aufgewachsen ist, zu zeigen: Unter anderem waren Burg Saaleck, die Rudelsburg, der Weinberg des Bildhauers Max Klinger, Schloss Neuenburg und Schloss Goseck Stationen. Und wer sich die Region Saale-Unstrut literarisch erschließen will: Mit „Schweigenberg“ hat Barbara Pfeiffer von „Kulturbowle“ einen schönen Buchtipp dazu.

Und noch ein literarischer Spaziergang: Über Naumburg und Nietzsche berichtete Tobias Köberlein 2014 bei der Deutschen Welle.

Literarische Orte: Mann in Marzipan

Thomas Mann mal ganz zuckersüß: Als “hochgezüchteter Marzipan-Mann” aus Lübeck.

Mann_Marzipan2Zugegeben: Es gibt in Lübeck bedeutsamere Orte für Literaturliebhaber als das Obergeschoss des Cafés Niederegger. Das Buddenbrookhaus natürlich. Das Günter Grass-Haus beispielsweise. Oder man spaziert mit der entsprechenden App gemeinsam mit Thomas, Christian und Tony an alle jene Orte in der Hansestadt, die im ersten Roman von Thomas Mann eine bedeutende Rolle spielen.

Aber auch bei diesem Gang durch die Altstadt kommt man an dem Café, dessen Name durch eine Lübecker Spezialität weltberühmt wurde, kaum vorbei. Im 2. Stock wartet das Haus in seinem Marzipan-Museum mit einer besonderen Überraschung auf: Mann in Marzipan. Kaum zu glauben: Der strenge Thomas zuckersüß (aber beileibe nicht zum Anbeißen).

Mann_Marzipan3Er befindet sich dort als lebensgroße Marzipanfigur in ungewöhnlicher Gesellschaft, als Marzipan-Liebhaber residierend zwischen Wolfgang Joop und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Freilich, über die künstlerische Ausgestaltung lässt sich streiten. Und auch darüber, ob Thomans Mann tatsächlich ein so großer Liebhaber dieser (und anderer) Süßigkeiten war, wie es der Museumstext suggeriert. Denn Mann beschrieb beispielsweise die weihnachtliche Mandel-Crème der Buddenbrooks als “üppige Magenbelastung aus Mandeln, Zucker und Rosenwasser” und vermutete bei Marzipan, dass das Rezept “zu diesem Haremskonfekt über Venedig an irgendeinen alten Herrn Niederegger nach Lübeck gekommen ist”.

Für was das “Haremskonfekt” nicht alles herhalten musste unter Literaten! 1910 beschimpfte Theodor Lessing seinen Kollegen aus der Hansestadt als “hochgezüchteten Marzipan-Mann”. Thomas Mann soll gelassen reagiert haben.

Wer Lust hat, sich selbst an der Mandel-Crème zu versuchen: Marion von den Blogs “Schiefgelesen” und “Schiefgegessen” hat sich an dem Rezept versucht: Mandel-Crème aus Thomas Mann “Buddenbrooks”.

Literarische Orte: Tschechows letzte Tage

Anton Tschechow weilte zwar nur wenige Wochen in Badenweiler. Dennoch entwickelte sich der Kurort zur einzigen europäischen Tschechow-Gedenkstätte von Rang.

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Nachbildung des 1918 eingeschmolzenen Tschechow-Denkmals. Alle Bilder: Birgit Böllinger

„Badenweiler ist ein sehr origineller Kurort, aber worin seine Originalität besteht, ist mir noch nicht klargeworden. Eine Menge Grün, der Eindruck der Berge, es ist sehr warm, die Häuschen und Hotels, die als Villen im Grünen stehen. Ich wohne in einer kleinen Villen-Pension mit viel Sonne (bis 7 Uhr abends) und einem großartigen Garten, wir zahlen 16 Mark pro Tag für beide (Zimmer, Mittagessen, Abendessen, Kaffee). Wir werden gewissenhaft verpflegt, sehr sogar. Aber ich kann mir vorstellen, welche Langeweile hier im allgemeinen herrscht! Heute übrigens regnet es seit dem frühen Morgen, ich sitze im Zimmer und höre zu, wie unter und über dem Dach der Wind pfeift.“

Anton Pawlowitsch Tschechow an W.M. Sobolewski am 25. Juni 1904

Ebenfalls an einem Sommertag, nur 115 Jahre später, verschlägt mich ein Zufall nach Badenweiler. Der Ort wirkt auch heute noch originell, wenn er auch an denselben Krankheiten wie viele andere Kurorte zu leiden scheint. Das Grandhotel am Schlossplatz liegt verlassen da. Stillstand. Belebt werden die Straßen und Plätze vor allem von den französischen Tagesgästen, die es zur Therme zieht. Ein Hauch gepflegter Langeweile liegt in der Luft. Und dennoch scheint das Städtchen im Südschwarzwald auch heute noch anziehend für die Prominenz: Der Fernsehmann Horst Lichter hat sich hier niedergelassen, ebenso wie Rüdiger Safranski, der seit Jahren dafür sorgt, dass die Badenweiler Literaturtage mit hochkarätigen Namen glänzen können.

Seit 2015 gibt es zudem im Rathaus eine weitere literarische Attraktion: Ein literarisches Museum, kostenfrei zugänglich, sorgfältig aufgemacht und interessant präsentiert. Sein Kern ist ein seit 1998 bestehender „Tschechow-Salon“, das einzige deutsche und westeuropäische Museum, das so umfangreich an den russischen Dramatiker und Schriftsteller erinnert. Durch die Erweiterung des Museums eröffnet sich inzwischen auch der Blick auf die vielen bekannteren Kurgäste, die dem Ort in der Vergangenheit einen Hauch von Mondänität und Intellektualismus verliehen: Unter anderem kurten hier bereits Stephen Crane, Hermann Hesse, Gabriele Wohmann (die in Tschechows Sterbehotel mit dem Roman „Frühherbst in Badenweiler“ begann), Theodor Heuss und Indira Gandhi. Albert Fraenkel ließ sich im Ort als Landarzt nieder und René Schickele, Annette Kolbe sowie Oskar Schlemmer bildeten eine Art Künstlerkolonie, die häufig von Thomas Mann und Hermann Kesten besucht wurde.

2019_Freiburg (89)Doch aus diesem „name dropping“ ragt ein Name heraus: Tschechow, der eigentlich nur wenige Monate seines Lebens hier verbrachte. Allerdings seine letzten Tage und Wochen: Er war bereits schwer von der Tuberkulose gezeichnet, als er im Juni 1904 auf Anraten eines Arztes mit seiner Frau Olga – die er erst drei Jahre zuvor geheiratet hatte – in den badischen Kurort kam. Nur kurz bekam ihm das milde Klima wirklich gut. Mitte Juli 1904 hatte er mehrere Schwächeanfälle, schließlich starb er am 15. Juli. In ihren Memoiren schrieb Olga Knipper über die letzten Minuten ihres Mannes:

„Kurz nach Mitternacht wachte er auf und bat erstmals in seinem Leben selbst darum, einen Arzt zu holen (…) Es kam der Doktor, verfügte, ein Glas Champagner zu bringen. Anton Pawlowitsch setzte sich auf und sagte irgendwie bedeutungsvoll, laut zu dem Arzt auf deutsch (er konnte nur sehr wenig Deutsch!): ‚Ich sterbe…‘ Dann nahm er das Glas, wandte sich zu mir und sagte: ‚Lange keinen Champagner mehr getrunken …‘, trank in aller Ruhe aus, legte sich still auf die linke Seite und war bald für immer verstummt.“

Das Ehepaar war zunächst im mondänen Hotel Römerbad – jenes Grandhotel, das heute mitten am zentralen Schlossplatz leer steht – abgestiegen, dort aber wollte man Lungenkranke offenbar nicht dulden. Vom Hotel, dass den Tschechows zu pompös war, wechselte man in das Traditionshaus „Sommer“, das als Gasthaus bereits 1620 gegründet worden war. Am Balkon seines ehemaligen Zimmers erinnert eine Plakette an den Schriftsteller, der dort verstorben war.

2019_Freiburg (187)Das Gedenken an Tschechow hat in Badenweiler durchaus eine wechselhafte Geschichte: Bereits 1909 errichteten Verehrer des Schriftstellers ein Denkmal für ihn in Badenweiler, das erste überhaupt außerhalb Russlands. Die Bronzeskulptur wurde 1918 eingeschmolzen: Der Krieg forderte seine Opfer, auch in dieser Weise. Unter den Nationalsozialisten war die Erinnerung an einen sozialkritischen, russischen Schriftsteller von vornherein verpönt. Im Kalten Krieg gestalteten sich Versuche, erneut ein Tschechow-Denkmal zu errichten, ebenso schwierig.

Badenweiler auch Sitz der deutschen Tschechow-Gesellschaft

So dauerte es Jahrzehnte, bis die Erinnerungsarbeit wieder Schwung aufnehmen konnte – heute ist Badenweiler nicht nur Museumsort, sondern auch Sitz der deutschen Tschechow-Gesellschaft. Auf deren Seiten ist ausführlich nachzulesen, was den Schriftsteller und den badischen Kurort verbindet:

„Seit Anfang der 1970er Jahre hat Badenweiler die Zusammenarbeit mit der deutschen universitären Slavistik wie auch mit russischen Institutionen gesucht. Ein großer Teil des frühen musealen Bildbestandes kam so 1979 als Geschenk des Moskauer Tschechow-Zentralmuseums nach Badenweiler. Seither verging kein Jahr in Badenweiler, ohne dass die moderne internationale Tschechow-Rezeption in Badenweiler ihre Spuren hinterlassen hätte.“

Und es ist gut so, dass die Tschechow-Rezeption dort ihre Spuren hinterlässt und von Badenweiler aus ausstrahlt: Denn Anton Pawlowitsch Tschechow ist weit mehr als der vielgespielte Dramatiker, den man mit der Möwe und dem Kirschgarten in Verbindung bringt. Vor allem ist er ein ausgezeichneter Geschichtenerzähler gewesen: Seine Erzählungen und Novellen wirken bis heute frisch und modern, glänzen durch seinen subtilen Humor, vor allem aber durch Tschechows Menschenliebe. Tschechow, selbst Enkel eines Leibeigenen und aus kleinen Verhältnissen kommend, wurde zwar nie offen politisch in seinem Schreiben, zeigte aber eben auch die Schattenseiten seiner Zeit auf und blieb dadurch sozialkritisch. 2010 schrieb Karla Hielscher zum 150. Geburtstag des Schriftstellers im Deutschlandfunk:

„Es ist spannend zu beobachten, wie Anton Tschechow, ein Schriftsteller, dessen wirkliche Entdeckung in Deutschland erst viele Jahrzehnte nach seinem Tod in den 70er-Jahren ganz zögernd und schrittweise begann, inzwischen zu den unumstrittenen Größen der Weltliteratur geworden ist. Wie Shakespeare ist er von den Bühnen überhaupt nicht mehr wegzudenken, und seine sensible, in ihrem Verzicht auf alles Moralisieren und jede Autorenallwissenheit so moderne Prosa haben auch die Leser des 21. Jahrhunderts lieben gelernt. Der Mensch und Arzt Tschechow mit seiner Bescheidenheit, seinem lebenslangen Engagement für andere, seiner skeptisch melancholischen Lebensfreude und seiner außergewöhnlichen inneren Freiheit ist zur bewunderten Leitfigur geworden.“

Weitere Informationen:

Das Museum im Rathaus Badenweiler

Zur Deutschen Tschechow-Gesellschaft

Bilder zum Download:
Bild 1, Tschechow-Skulptur
Bild 2, Straßenschild
Bild 3, Lampe am Sterbehotel

Literarische Orte: Hesse als Lehrling

Nach krisenhaften Jugendjahren kommt der junge Hermann Hesse zur Buchhändlerlehre nach Tübingen. Hier findet er auch zu seiner eigentlichen Berufung.

Statt dessen brannte dort die strenge, fleißige Gegenwart in zahlreichen Studierampeln über die ganze Breitseite des Stifts verteilt und glänzte mattrot durch die breiten, niederen Fenster. Dort lagen jetzt Kompendien, Wörterbücher und Texte ohne Zahl vor ernsthaften, jungen Augen aufgeschlagen, Ausgaben des Platon, Aristoteles, Kans, Fichtes, vielleicht auch Schopenhauers, Bibeln in hebräischer, griechischer, lateinischer und deutscher Sprache; vielleicht brütete hinter diesen Fenstern zur Stunde ein junges philosophisches Genie über seinen ersten Spekulationen, während zugleich ein zukünftiger schwergeharnischter Apologet die ersten Steine seines Trutzgebäudes legte.“

Hermann Hesse, aus: „Die Novembernacht. Eine Tübinger Erzählung.“, 1901.

Hermann Lauscher, Protagonist dieser frühen Erzählung von Hermann Hesse und dessen Alter Ego, hält es indes in jener stürmischen Nacht weniger mit dem Studieren. Trinkend und zechend zieht er durch die Tübinger Altstadt, am Ende dann urplötzlich ernüchtert, als einer der Trinkgenossen sich das Leben nimmt.

Die Erzählung ist Teil der dritten Buchpublikation von Hermann Hesse. Sie erschien 1901 in „Die hinterlassenen Schriften und Gedichte von Hermann Lauscher“.  Und sie birgt eine der wenigen direkten Spuren von Hesses Tübinger Zeit in seinem Werk. Aber dennoch können die Jahre, die der junge Hesse in der Neckarstadt verbrachte, als entscheidende für seine Entwicklung zum Schriftsteller bezeichnet werden.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Anders als sein literarisches Ego soll Hesse sich in Tübingen wenig mit dem Studentenleben abgegeben haben, heißt es auf den Seiten der Hermann-Hesse-Stiftung:

„Zwischen Oktober 1895 und Juni 1899 absolviert Hermann Hesse in Tübingen eine dreijährige Buchhändlerlehre, der sich ein Jahr als Gehilfe anschließt. Seine Arbeitsstelle ist die Heckenhauerische Buchhandlung, Holzmarkt 5, und er wohnt in der Herrenberger Straße 28 zur Untermiete. Die Tätigkeit als Buchhändler verschafft ihm eine gewisse Befriedigung, auch wenn sie ihn anstrengt. Die Bildung seiner Vorgesetzten nötigt ihm Respekt ab. Der elterlichen Aufsicht entronnen, beginnt der Achtzehnjährige mit einer erstaunlichen Selbstdisziplin ein literarisches Selbststudium. Er liest die Klassiker, vor allem Goethe, in denen er sein literarisches Evangelium entdeckt, und widmet sich dann den Romantikern. Viele Stunden verbringt er im Zimmer, die Außenwelt hält er auf Distanz, das fröhliche Studentenleben erscheint ihm als Zeitverschwendung.“

In Tübingen beginnt Hesse, ernsthaft zu schreiben. Hier wendet sich nach krisenhaften Jugendjahren das Blatt, die spätere Karriere als Schriftsteller zeichnet sich ab. Seine frühen Texte im Hermann Lauscher bewertet der ältere Hesse später neu. In der Vorrede zu einer Neuausgabe 1907 gesteht er die autobiographischen Hintergründe ein:

„Hinterlassene Schriften und Gedichte von Hermann Lauscher war der Titel einer kleinen Schrift, die ich Ende 1900 in Basel erscheinen ließ und in der ich pseudonym über meine damals zu einer Krise gediehenen Jünglingsträume abrechnete.“

Heute ist, wo Hermann Hesse seine Buchhändlerlehre absolvierte, immer noch etwas vom Geist dieser Jahre zu spüren: In dem kleinen, aber mit viel Liebe zum Detail eingerichteten Hesse-Kabinett in Tübingen kann man dem jungen Dichter und seinen Träumen auf die Spur gehen: https://www.tuebingen.de/hesse

Bilder zum Download:
Bild Buchregal,
Bild Straße Tübingen,
Bild Hausfigur

Literarische Orte: Wieland unter “abgeschmakten” Schwaben

Nichts wie weg hier: Als Kanzleiverwalter hat Christoph Martin Wieland in Biberach arg gelitten. Dafür umso mehr geschrieben. Ein Besuch in seiner Heimatstadt.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Es geht doch, sagt mir was ihr wollt,
nichts über Wald und Gartenleben,
und schlürfen ein dein trinkbar Gold,
o Morgensonn´, und sorglos schweben
daher im frischen Blumenduft,
und, mit dem sanften Weben
der freyen Luft
als wie aus tausend ofnen Sinnen,
dich in sich ziehn, Natur, und ganz in dir zerrinnen!

Christoph Martin Wieland, „Der Vogelsang, oder die drey Lehren“, in „Der Teutsche Merkur“, März 1778.

In meiner Jugendzeit war das Biberacher Kino ein großer Anziehungspunkt. Der damalige Besitzer zeigte all die Filme, mit denen wir uns als Provinzjugendliche in das freie, wilde Leben hineinsehnen konnten. Legendär die Nachtvorführungen von „Catch 22“, „M*A*S*H“ und Filmen ähnlichen Kalibers, in dem es mehr darum ging, selbst schlaue Sprüche abzusondern denn dem Film zu folgen.

2019_Biberach-92-1024x683Dass genau gegenüber, hinter Bäumen versteckt, jenes Gartenhaus schlummerte, in dem sich knapp 250 Jahre zuvor einer der kommenden Größen der Weimarer Klassik ebenfalls Gedanken machte über Freiheit, Gleichheit und andere Prinzipien der Aufklärung und sich wegsehnte aus der Provinz, davon hatten wir keine Ahnung. Man sah den „Wald vor lauter Bäumen nicht“ – übrigens auch eine der zahlreichen Redewendungen, mit denen dieser Schriftsteller und Aufklärer den deutschen Sprachschatz bereicherte.

Wieland, einer der Großen der Weimarer Klassik

Es ist im Grunde ein pädagogisches Armutszeugnis: Ich kann mich nicht erinnern, dass während meiner Schullaufbahn, die Mitte der 1980er-Jahre endete, nur einmal die Rede gewesen wäre von jenem Klassiker, der nur einen Steinwurf entfernt von unserem Gymnasium geboren worden war. Wieland, der erste der großen vier Weimaraner, der Mann, der den Roman als literarische Form salonfähig machte, der modernen Literatur den Weg bereitete und als Erstübersetzer zahlreiche Werke Shakespeares übertrug und damit in Deutschland erst das „Shakespeare-Fieber“ auslöste, er war in seiner Heimatregion lange vergessen. Inzwischen jedoch wird das Andenken in Oberschwaben vorbildlich gepflegt.

1733 kam der Pfarrersohn Christoph Martin Wieland in Oberholzheim zur Welt, einem kleinen Ort im Landkreis Biberach a. d. Riß, der, wie es sich Wieland später in einem Gedicht wünschte, bis heute „unscheinbar“ blieb:

“Du kleiner Ort, wo ich das erste Licht gesogen,
Den ersten Schmerz, die erste Lust empfand,
Sei immerhin unscheinbar, unbekannt.
Mein Herz bleibt ewig doch vor allen Dir gewogen,
Fühlt überall nach Dir sich heimlich hingezogen,
Fühlt selbst im Paradies sich noch aus Dir verbannt.
O möchte wenigstens mich nicht die Ahnung trügen,
Bei meinen Vätern einst in Deinem Schoß zu liegen.”

Geburtsstube in Oberholzheim

Im evangelischen Pfarrhaus wurde die Geburtsstube Wielands wieder eingerichtet und auf Initiative der Biberacher Wieland-Stiftung die berühmte Löwenzahn-Wiese angelegt:

“Mein Vater wurde durch ein hitziges Fieber ein Vierteljahr außer Stand gesetzt, sein Amt zu versehen; da erinnere ich mich noch, wie der sein Amt indeß vertretende Vicar mich im Käppchen auf die Wiese geführt hat und in den gelben Blumen spielen ließ, wie ich diese Blumen pflückte …”.

Doch schon 1736 wurde der Vater als „Siechenprediger“ in die heutige Kreisstadt Biberach berufen. Der junge Wieland war ein wissbegieriges Kind, lernte schnell und hatte schon als Jugendlicher alle römischen Klassiker gelesen. 1747 kam der Junge auf ein pietistisches Internat bei Magdeburg – bis 1760 kehrte er in seine Heimatstadt nur zu Besuch bei den Eltern zurück, seine Studienwege führten ihn indes unter anderem nach Tübingen und Zürich. Doch kam es 1750 in Biberach zu einer lebensentscheidenden Begegnung: Hier lernte er Sophie von La Roche kennen, ohne die, wie er später gestand, er niemals zum Dichter geworden wäre.

„Ein Blick von Sophie genügt, um alle anderen Frauen aus meinem Herzen auszulöschen.“

Einer der erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit

Dass aus der Verlobung weiter nichts wurde, das lag vor allem an Wielands zögerlichem Hin und Her, der sich in jenen Jahren gerne auch platonisch auf Nebenwege begab. Ein Zimmer im heutigen Wieland Museum in Biberach ist diesen „Frauengeschichten“ gewidmet: So kann man auch spielerisch und doch anspruchsvoll an große Literatur heranführen.

Das Wieland Museum befindet sich im ehemaligen Gartenhaus, das sich Wieland, der 1760 als Kanzleiverwalter nach Biberach zurückkehrte, gemietet hatte, um dort musisch arbeiten zu können. Hier entstanden seine ersten Werke, „Die Geschichte des Agathon“, „Don Silvio von Rosalva, oder der Sieg der Natur über die Schwärmerey“, mit denen er seinen Weg zum bekanntesten und erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit begründete.

Literarisch war Biberach also fruchtbar – zumal er hier auch mit den Shakespeare-Übersetzungen begann und eine der ersten bedeutenden Shakespeare-Aufführungen stattfand. Als Direktor der Evangelischen Komödiantengesellschaft brachte er als Übersetzer und Regisseur 1761 „Der Sturm oder der erstaunliche Schiffbruch“ auf die Bühne. An diesen Meilenstein des deutschen Theaterlebens wird heute an der Fassade des Komödienhauses erinnert, das noch immer in Betrieb ist, als Kleinkunstbühne genutzt wird und Heimstatt des ältesten Amateurtheaters in Deutschland, dem Dramatischen Verein Biberach, ist.

Skandale und Geldnot

Trotz der literarisch erfolgreichen Zeit lässt Wieland jedoch kein gutes Haar an seinem Wohnort: Ihm fehlt der literarische und philosophische Austausch, eine „Mesalliance“ mit einer Katholikin führt zu einem handfesten Skandal und zudem plagen ihn Geldnöte.

„Sogar die Musen sind, vielleicht auf ewig, von mir geflohen, ach! (…) da ich durch einen Fluch, den mir die Götter verzeyhen wollen, meine Zeit, meine Schreibfinger und meine armen Musculos clutaeos dem Dienst der Stadt Biberach verpfändet habe! (…) und bald wird die ansteckende Dummheit einer Raths-Stube den wenigen wäßrichen Geist noch vollends auftroknen, den ihm ein fünfjähriger Auffenthalt unter den unwissendsten, abgeschmaktesten, schwermüthigsten und hartleibigsten unter allen Schwaben noch übrig gelassen haben mag.“

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

(Einschub: In seinen Abderiten greift Wieland die Geschichte von Esels Schatten, die Demosthenes zugesprochen wird, auf: Ein Zahnarzt mietet einen Esel für eine Reise. Als er sich in dessen Schatten legt, will der Besitzer, der ihn begleitet, auch dafür Geld, was zu einem Rechtsstreit führt, den Wieland satirisch zuspitzt. Die Skulptur von Peter Lenk auf dem Biberacher Marktplatz greift dies detailreich auf.)

Sophie von La Roche-Biograph Armin Strohmeyr meint dazu:

„Für Wieland hat die emsige Schriftstellerei auch ein profanes Motiv: Mit ihr versucht er Geld zu verdienen, da ihm die Auszahlung seines Gehalts als Kanzleiverwalter wegen eines Paritätsstreits zwischen katholischer und protestantischer Bürgerschaft vier Jahre lang verweigert wird. Ein Gerichtsverfahren vor der Wiener Reichsverwaltung, bei dem Wieland von Georg Michael La Roche unterstützt wird, zieht sich hin, und Wieland ist gezwungen, sich von Freunden Geld zu leihen. Kein Wunder, dass ihm die Arbeit im Amt sauer wird.“ 

Armin Strohmeyr, “Das Leben der Sophie von La Roche”, 2019

Ja, richtig gelesen: Geholfen wird Wieland vom Ehemann seiner ehemaligen Verlobten. Das Paar lebte inzwischen in Schloss Warthausen bei Anton Heinrich Friedrich Graf von Stadion, einem Wegbereiter der Aufklärung am kurfürstlichen Hof in Mainz. Man war sich – Warthausen liegt bei Biberach – also räumlich und auch persönlich wieder nähergekommen. Sophie hilft ihm aus der Misere mit der jungen Christine Hogel und vermittelt nicht zuletzt den Kontakt zu seiner künftigen Ehefrau, der Augsburger Kaufmannstocher Anna Dorothea von Hillenbrand. Mit ihr hat Wieland 13 Kinder – was ihn aber auch in späteren Jahren nicht davon abhält immer wieder aushäusig zu schwärmen und zu schielen.

Doch bringen ihn Ehe und der Familienstand in geistig ruhigere Bahnen und als er 1769 Biberach verlässt, um zunächst einem Ruf an die Universität Erfurt zu folgen und dann, als erster der vier Weimarer Klassiker (Goethe, Herder und Schiller folgten danach) an den Hof von Anna Amalia von Sachsen-Weimar zu kommen, ist er im Grunde ein gemachter Mann: In Weimar lebt er in so gesicherten Verhältnissen, dass seine Produktivität sich vollends entfalten kann. Dort zieht es ihn dann 1798 in ein Gartenhaus weit größerer Dimension als in Biberach: Er will sich auf Gut Oßmannstedt bei Weimar eine „Insel des Friedens und Glücks“ aufbauen. Lang kann er das Gut, in dem ebenfalls ein Wieland-Museum zu finden ist, nicht halten – aber das ist eine andere Geschichte. 1813 stirbt Wieland in Weimar – bis zuletzt schreibend, ein aktives Leben führend, dem Leben zugewandt.

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Vor dem Wieland-Archiv in Biberach.

Weitere Informationen:

Klein, aber fein präsentiert sich das Wieland Museum in Biberach. Die Ausstellung konzentriert sich auf seine Jahre vor Ort und seine Beziehungen nach Warthausen. In einer Hörstation kann man Arno Schmidts Radio-Dialog “Wieland oder die Prosaformen” lauschen.

Die Wieland-Stiftung Biberach ist auch zuständig für das Wieland-Archiv, eine Forschungsstätte mit rund 16.000 Bänden. Eine Sondersammlung besteht dort zudem zum Werk von Sophie von La Roche.

Bilder zum Download:

Bild 1, Eingang Gartenhaus
Bild 2, Skulptur
Bild 3, Skulptur
Bild 4, Skulptur