Gabriele Tergit: Der erste Zug nach Berlin

„Der erste Zug nach Berlin“ ist eine literarische Überraschungstüte und eindrucksvolles Zeitzeugnis zugleich: Knallbunt und doch auch düster, tragisch und komisch zugleich, wie von leichter Hand geschrieben und doch voll tiefem Ernst.

„Anfang Mai verabschiedete ich mich von der ganzen Bande und wir gingen noch mal ins Twenty-One. Ich ging in meinem großen Abendkleid von Chanel zum Aerodrom mit einem Pfauenfächer, das Neueste aus Paris.“

Gabriele Tergit, „Der erste Zug nach Berlin“


Voilà, hier haben wir sie: Die 19-jährige Maud, eine nicht dumme, aber zunächst reichlich naiv daher plaudernde Angehörige des amerikanischen Geldadels. Mehr durch Zufall ­– und auch, weil sie vor der Heirat mit dem Sohn vom Governor Perry noch eine kleine Sause erleben will – wird sie Mitglied einer amerikanischen Mission ins Nachkriegsdeutschland. Der Verlobte sieht das kritisch:

„Er sagte, ich sei eine Närrin, nach dem wilden Europa zu gehen, wenn ich in dem schönen New York mit seinem sanften Klima und noch sanfteren Sitten bleiben könnte. Dass ein Mensch aus Vergnügen nach Europa ginge, habe er überhaupt noch nicht gehört.“

In der Tat betrachtet Maud die Reise, die die Gruppe nach London und dann in das zerbombte Deutschland und in den Osten führt, zunächst wie einen abenteuerlichen Jux. Sie ist Zeugin zahlreicher erregter politischer Diskussionen, die sie kaum nachvollziehen kann – ein handwerklicher Kunstgriff, der den Lesern auch heute noch die Augen öffnet für das Klima, in dem die Nachkriegspolitik der Besatzungsmächte stattfand.

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Patriotismus und kapitalistische Gier

Die Erfahrung des Krieges als Nährboden für überbordenden Patriotismus und kapitalistische Gier: Im Preisausschreiben einer englischen Zeitung wird dazu aufgerufen, „alle Dinge aufzuschreiben, die wir aus dem Empire bekommen können oder auf die wir verzichten können und die noch immer woanders gekauft werden“. Der Brexit lässt grüßen.

„Der erste Zug nach Berlin“ ist ein schmaler Roman Gabriele Tergits, den die jüdische Schriftstellerin unter dem Eindruck ihrer eigenen ersten Berlin-Reisen 1948 und 1949 schrieb. Man kann davon ausgehen, dass die Autorin, die sich vor ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland auch als Journalistin beim Berliner Tageblatt und Gerichtsreporterin einen Namen gemacht hatte, die Verhältnisse in Deutschland weitaus scharfsinniger und klüger kommentierte als ihre Kunstfigur Maud.

Naivität als Stilmittel

Doch gerade deren Blauäugigkeit ist ein genialer Kunstgriff Tergits, der es dadurch gelingt, die Grausamkeiten, Härten und Absurditäten dieser Zeit aus einer quasi neutralen Position zu schildern – nicht nur die Kriegsgewinnler und Kollaborateure erhalten so einen Auftritt, sondern auch die Interessensvertreter aus den Besatzungsmächten, die zum Teil durchaus auch Sympathien für den Antisemitismus des Hitlerstaates hegten. So bekommt in diesem schmalen Buch, das nun erstmals nach dem Original-Typoskript erschien (zu Lebzeiten von Gabriele Tergit blieb es unveröffentlicht), jeder sein Fett ab.

In ihrem Nachwort betont Herausgeberin Nicole Henneberg, die sich um die Wiederentdeckung Gabriele Tergits verdient gemacht hat, zur Erzählerin Maud:

„Aber Maud ist nicht nur naiv, sondern auch abenteuerlustig und fest entschlossen, ihre Augen weit aufzureißen und alles mitzumachen, auch wenn sie die Verhältnisse um sie herum nicht versteht und die Gespräche noch viel weniger.“

Sie werde so zu einer „Kamera mit weit geöffneter Blende“.  Ein idealer Ausgangspunkt, meint Henneberg, „um alles ohne Unterschied aufzunehmen und zu schildern (…), ohne zu werten oder zu zensieren. Was so entsteht, ist eine Szenenfolge, die auf dem schmalen Grat zwischen Satire und Tragik balanciert (…).“

Maud ist zwar Ohrenzeugin – „Ich hörte gespannt zu und dachte, wie schön es ist, etwas zu lernen“ – aber stürzt sich in ihrer Blauäugigkeit erst einmal von einer Verliebtheit in die andere, bis sie in den Armen eines Deutschen landet, dessen exzellente Manieren und selbstsicheres Auftreten Eindruck hinterlassen. Erst spät erkennt sie, dass dieser Herbert Stegen, der sich als Journalist bei den Engländern andient, einst ganz eng mit Goebbels war: Nur einer von mehreren Mittätern und Mitläufern in diesem Roman, die zeigen, wie nahtlos es für viele Hitler-Anhänger auch nach dem verlorenen Krieg weiterging. Überhaupt trifft Maud auf zahlreiche Deutsche, die der Nazi-Ideologie ungebrochen anhängen, so auf ein Zimmermädchen, „sie war sehr groß, hatte blonde Zöpfe um den Kopf“, das sich weigert, „den Feinden den Koffer auszupacken“. Die anschließende Diskussion mit den englischen Reisemitgliedern zeigt die Schizophrenie jener Zeit:

Miss Battle-Abbey sagte: „Jeder kann sich ein Beispiel daran nehmen. Hitler hat wirklich den Selbstrespekt des deutschen Volkes wieder hergestellt.“

Für das langsame Erwachen und den Erkenntnisgewinn Mauds sorgen letztlich nicht nur ihre eigenen Erlebnisse, sondern vor allem der Kontakt zum amerikanischen Journalisten Merton, der ihr „das andere Deutschland“ zeigt.

Düstere Schlüsselszene

Eine Schlüsselszene dieses trotz seines leichten Grundtons, der mitunter auch an die Romane Irmgard Keuns erinnert, düsteren Romans ist der Besuch der beiden bei dem deutschen Journalisten Reinhold, der von den Nazis gefoltert und im KZ gequält vor den Augen der Amerikaner an Auszehrung stirbt. Die Suche durch „Schutt und Asche“ nach einem Arzt wird für Maud wie zu einem Abstieg in die Hölle, insbesondere beim Blick ins ärztliche Wartezimmer:

„Es saßen da Tod und Teufel, Krankheit und Hunger, eine alte Frau, fett und gierig und neidisch, und ein junger Mann, er hielt eine Uhr in der Hand und grinste, ein Geschöpf war da voll von Bandagen mit Auswuchs und ein kleines Kind mit einem aufgeblähten Bauch. Ich stand im Zimmer und ich wusste, Krankheit, Tod und Teufel und Hunger würden mich holen, wenn ich nicht aufhörte zu denken und mitzuleiden und zu wollen, wenn ich nicht so rasch wie möglich aus Europa floh.“

Die ganze Erschütterung, die auch Gabriele Tergit bei ihren beiden Berlin-Reisen Ende der 1940er-Jahre erfahren haben muss, werden hier spürbar. Und wie Maud zog es Tergit, die an „ihrem“ Berlin hing, nie mehr zurück, sie blieb in London, das ihr zur neuen Heimat geworden war und wo sie 1982 starb. Maud, das Mädchen im Chanelkleid und mit dem Pfauenfächer, kehrt nach drei Monaten um einiges klüger und reifer geworden, in die Vereinigten Staaten zurück, heiratet ihren Clark Perry und lebt im „modernsten Flat in New York“. Merton, jene Romanfigur, die die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge am klarsten durchschaute und kommentierte, sieht sie nur noch einmal, als „lay preacher“, etwas verkommen aussehend, an einer Ecke stehen:

„Nur drei Leute hörten ihm zu: der eine war bucklig, der andre war blind, der dritte war lahm.“

„Der erste Zug nach Berlin“ ist eine literarische Überraschungstüte und eindrucksvolles Zeitzeugnis zugleich: Knallbunt und doch auch düster, tragisch und komisch zugleich, wie von leichter Hand geschrieben und doch voll tiefem Ernst.

Das letzte Wort soll Merton gehören:

„Dieses Spiel spielt die Menschheit seit einigen tausend Jahren“, sagte Merton. „Ich bin der Letzte, der findet, dass es auf ein paar Hundert Quadratmeilen ankommt. Aber solange das der Maßstab für Ehre ist, solange alle nationale Leidenschaft sich auf ein paar Quadratmeilen Land irgendwo erstrecken kann, soll man sehr vorsichtig mit territorialen Änderungen sein, die nächste Generation muss immer dafür sterben. Wir alle leben in einer Welt.“


Bibliographische Angaben:

Gabriele Tergit
Der erste Zug nach Berlin
Schöffling Verlag, 2023
ISBN: 978-3-89561-475-0

Uwe Wittstock: Februar 33. Der Winter der Literatur.

“Februar 33”: Sorgfältig recherchiert, rasant geschrieben. Ein gelungenes Buch, das nochmals deutlich macht, welchen geistigen Verlust die deutsche Literatur und Kunst in diesen wenigen Wochen erlitten hat.

Wenn man sich dieser Tage darüber echauffiert, wie mühsam und zäh sich in einer vielfältiger gewordenen Parteienlandschaft der Regierungsbildungsprozess gestaltet, ja, dem sei nicht nur Geduld angeraten, sondern vielleicht auch die Lektüre dieses Buches. Prozesse in der Demokratie brauchen ihre Zeit. Notstandsgesetze sind dagegen schnell erlassen, der Terror regiert ohne Rücksicht auf langatmige Meinungsbildung.

Dass der Wandel einer zwar maroden Weimarer Republik hin zum nationalsozialistischem Terrorregime rasend schnell ging, ist jedem mit etwas historischem Interesse zwar bewusst. Aber wie sehr dies die Intellektuellen – die es ja vielleicht besser hätten wissen können – überraschte und überrollte, das macht der Literaturkritiker und Schriftsteller Uwe Wittstock mit seinem Band „Februar 33“ eindrucksvoll deutlich.

Zwischen der Machtergreifung Hitlers und den ersten brennenden Büchern lagen nur wenige Wochen. Und obwohl der „Stürmer“ und andere nationalsozialistischen Presseorgane schon in den Jahren zuvor keine Zweifel daran ließen, dass Autorinnen und Autoren und Journalisten wie Carl von Ossietzky, Erich Mühsam oder Gabriele Tergit auf ihren schwarzen Listen standen, dass selbst der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, der mit den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ noch zu den Befürwortern des Ersten Weltkriegs gezählt hatte, argwöhnisch beäugt wurde – ja trotz dieser offenen Feindschaft zu allem, was als intellektuell, meinungsstark und links galt – ja trotzdem wurde diese Zielgruppe quasi über Nacht nicht nur zum Staatsfeind Nummer eins, sondern zu Gefangenen, Verfolgten, Ermordeten. Erich Mühsam, bereits 1934 von KZ-Wächtern erschlagen, war eines der ersten Todesopfer, die in Wittstocks Buch ihren Platz finden.

Die “Säuberungen” gingen rasend schnell

Er bezeichnet es im Untertitel als den „Winter der Literatur“: In den wenigen kalten Wochen ab dem 30. Januar 1933 wurden die Straßen tatsächlich buchstäblich leergefegt von allem, was zuvor die lebendige, laute und intellektuell herausragende Weimarer Zeit ausgemacht hatte. Wittstock schreibt in seinem Vorwort: „(…) über Schriftsteller und Künstler im Februar 1933 wissen wir unvergleichlich mehr Persönliches als über jede andere Gruppe. Ihre Tagebücher und Briefe wurden gesammelt, ihre Notizen archiviert, ihre Erinnerungen gedruckt und von Biografen mit detektivischem Ehrgeiz durchleuchtet.“

Der Autor, davon zeugt auch die umfangreiche Liste an „benutzter“ Literatur, die Wittstock benennt, hält sich eng an diese Fakten, gibt im Nachwort auch einen Werkstatteinblick, in dem er erläutert, wie er mit diesen Quellen umging. Das ist wohltuend: Gab es in den vergangenen Jahren doch auch eine gehäufte Anzahl an Büchern aus dem Bereich literarischer Dokumentation und fiktionalisierter Biographien, die diese Einblicke nicht erlaubten – und die Lesenden ratlos im Bereich zwischen Dichtung und Wahrheit zurückließen.

Gleichschaltung der Akademie der Künste

Doch die große Stärke des Buches ist, dass Wittstock, anstatt anekdotenhaft ein ganzes Kaleidoskop an Schicksalen und Figuren aufzufächern, um diese Zeit zu bebildern, sich auf ein gutes Dutzend (oder etwas mehr) Protagonisten beschränkt und die Fäden der einzelnen Schicksale und ihre Verknüpfungen immer wieder aufgreift. So am Beispiel von Thomas Mann, Bert Brecht und Hanns Johst, der 1935 Präsident der Reichsschrifttumskammer wird und bereits 1933 die Gleichschaltung der Sektion Dichtung an der Preußischen Akademie der Künste betreibt.

„Eine faszinierende Konstellation: drei Schriftsteller, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in München über den Weg laufen und deren Entwicklung unterschiedlicher nicht sein könnte.“

Gerade am Schicksal der Akademie macht Wittstock eindrücklich deutlich, wie vehement und gut organisiert sich die Nationalsozialisten die Meinungshoheit eroberten und Andersdenkende ausschalteten, wie schnell Mitläufer bereit waren, sich anzupassen oder narzisstische Naturen wie Gottfried Benn versuchten, die Zeitenwende für sich zu nutzen. In der Akademie, den Gesprächszirkeln, den Stammkneipen und den Cafés, in die Wittstock die Leser mitnimmt, war eine Frage, ein Zwiespalt der beherrschende: Gehen oder bleiben? Widerstand aus dem Innern oder aus dem Exil? Und wenn Flucht, was konnte einen dort erwarten? Über Oskar Maria Graf meint Wittstock:

„München und Bayern sind für Graf mehr als nur die Heimat. Sie sind für ihn als Schriftsteller das wichtigste Thema, das unentbehrliche Material, von dem er lebt. Worüber wird er schreiben, wenn er jetzt ins Ausland geht?“

Aber Graf weiß auch: „Unter den Nazis würden seine Geschichten niemals gedruckt und verkauft werden dürfen.“

Wie Thomas Mann von seinen Kindern geradezu gedrängt werden muss, nach einer Lesereise nicht in dieses Deutschland zurückzukehren, das über Nacht ein anderes geworden ist, wie Carl von Ossietzky, sein Schicksal erahnend, beschließt, zu bleiben, wie Brecht, Döblin und andere auf gepackten Koffern sitzen, dies alles verbindet Uwe Wittstock sehr gekonnt mit den parallel verlaufenden Entwicklungen auf der politischen Ebene. Vom Presseball, wo der letzte Tanz der Republik stattfindet, rüber in die Reichskanzlei, wo in der Wohnung des Franz von Papen die Machtübernahme eingefädelt wird, bis gegen Ende des Buches hinein in die Folterkammern der SA: Das liest sich streckenweise atemlos und – wäre es nicht bittere deutsche Vergangenheit – auch wie ein Krimi.

Seit „1913: Der Sommer des Jahrhunderts“ ist diese Technik der zeitgeschichtlichen Collage geradezu en vogue. Und wie es halt so geht: Da kommen dann auch etliche Schnellschüsse auf den Markt, die nicht allzu sehr überzeugen. Wie gut, dass sich Wittstock für dieses Buch, das einen elementaren Einschnitt in die deutsche Geistesgeschichte beschreibt, offenbar Zeit zum Recherchieren und Schreiben gelassen hat. Ein gelungenes Buch, das nochmals deutlich macht, welchen geistigen Verlust die deutsche Literatur und Kunst in diesen wenigen Wochen erlitten hat.


Bibliographische Angaben:

Uwe Wittstock
Februar 33. Der Winter der Literatur.
C.H.Beck Verlag, 2021
ISBN: 978-3-406-77693-9

Gabriele Tergit: Effingers

„Effingers“, das ist ein gewaltiger Familienroman, ein deutsches Epos, ein Berlinroman, lebendige Geschichtsschreibung am Beispiel zweier fiktiver Familien.

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„(…) Ben ist Engländer. Er hat sich naturalisieren lassen.“
„Das finde ich aber merkwürdig. Ich war doch schließlich ein politischer Emigrant und habe meinen Weg in Frankreich gemacht, aber ich bin nie auf die Idee gekommen, ich könnte mich naturalisieren lassen, trotzdem ich die herrlichen Jahre des zweiten Kaiserreichs dort verlebte.“
„Wir fanden das auch merkwürdig von Ben, aber Ben hat in Bezug auf Deutschland und besonders auf den Antisemitismus so seine Ansichten.“
„Ach, man soll doch das nicht so überschätzen. In Berlin, wissen Sie, kommen alle möglichen Bewegungen hoch und verschwinden wieder. Es geht uns doch nichts an, wenn eine minderwertige kleine Partei uns nicht zu den Deutschen rechnen will. Die Hauptsache ist, daß wir uns als Deutsche fühlen.“

Gabriele Tergit, „Effingers“


Emmanuel Oppner, einer der Grandseigneure dieses Romans, wird es glücklicherweise nicht mehr erleben, wie sehr er sich täuscht. Er verstirbt 1908, noch in seinem Bett. Seinen Nachfahren, man weiß es aus der Geschichte, wird ein anderes Schicksal zuteil.

Thea Dorn schwärmte im „Literarischen Quartett“ von diesem Buch und Nicole Henneberg schreibt in ihrem Nachwort zu längst fälligen Wiederausgabe: „Was für ein großartiger Roman!“. Dem kam man mit keiner Silbe widersprechen: „Effingers“, das ist ein gewaltiger Familienroman, ein deutsches Epos, ein Generationenbuch, ein Berlinroman, lebendige Geschichtsschreibung am Beispiel zweier fiktiver Familien. Viel hat Gabriele Tergit (1894 – 1982), die wendige und intelligente Gerichtsreporterin und Autorin, dem Schicksal ihrer Familie entliehen, vieles, was sie beschreibt, kennt sie aus ihrem Erleben und ihrem Milieu: Und das macht dieses Buch so groß- und einzigartig.

Opulenter Generationenroman

Erzählt wird die Geschichte zweier Familien über mehrere Generationen hinweg, vom Kaiserreich über die Kriegsjahre und die kurze Zeit der Weimarer Republik bis hin zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Beide, sowohl die Effingers, die ursprünglich aus einem kleinen Handwerkerbetrieb in Süddeutschland kommen, als auch die Oppners, eine alteingesessene Bankiersfamilie, sind jüdischer Herkunft. Doch Religion und Zugehörigkeit spielen in ihrem Alltag meist eine nachrangige Rolle – in erster Linie sind sie deutsche Bürger.

Verglichen mit den Buddenbrooks

Der vielfach angeführte Vergleich mit den Buddenbrooks kommt nicht von ungefähr: Tergit erzählt auf diesen rund 900 Seiten vom Aufstieg und Fall einer Familie. Doch ihr Blick, ihr Tonfall ist ein ganz anderer als der Mann`sche: Weniger prätentiös, lebendiger, dialogreich, voller Verve, voller Wärme und Witz. Sie mag ihre Figuren, selbst mit deren Schattenseiten. Und davon gibt es viele genug: Denn mit dem Wandel der Zeiten, mit dem zunehmenden Reichtum und dem nachfolgenden Absturz kommen nicht alle gleichermaßen zurecht. Zudem wird die Orientierungslosigkeit, die Sinnentleerung, das Suchen nach Werten und einem Halt gerade der jungen Zwischenkriegsgeneration greifbar: Die alten Traditionen zählen nicht mehr, was kommen wird ist ungewiss.

Jens Bisky schreibt in seiner Besprechung in der Süddeutschen Zeitung:
„Dieser große Roman des zwanzigsten Jahrhunderts ist in vielem außergewöhnlich. Historisch glänzend informiert, aber nie belehrend vergegenwärtigt Gabriele Tergit ein Panorama der Berliner Geschichte zwischen Reichsgründung und Zerstörung der Stadt. Ihre Bankiers und Unternehmer sind, was selten ist in der deutschen Literatur, keine Karikaturen, vielmehr ehrliche, irrende, mehr oder weniger gescheite Geschäftsleute.“

Jüdische Lebenswelt detailliert geschildert

Diese Wahrhaftigkeit, diese realitätsgetreue Schilderung ist es, die mich an diesem Roman so zu begeistern mochte: Die Figuren des Romans werden beim Lesen zu Menschen, die man sich beinahe bildhaft vergegenwärtigen kann, man lebt mit ihnen, man lacht und leidet mit ihnen. Am Ende ist man erleichtert, dass es dem lebenslustigen Paar Lotte und Erwin gelingt, in das Exil zu flüchten, am Ende ist man traurig und wütend, weil der hochbetagte Waldemar – ein liberal gesinnter Jurist, lebensklug und weise, wenig anfällig für die Ideologien seiner Zeit – von den Nazischergen verschleppt wird.

In keinem anderen Roman habe ich so viel nicht nur über die Lebenswelt deutscher Juden, die von den Nationalsozialisten zerstört wurde, sondern überhaupt über die Mentalität und Gedankenwelt dieser Zeit erfahren. Denn noch eines unterscheidet die „Effingers“ von den „Buddenbrooks“: Der Roman ist noch viel weitgehender in das gesellschaftliche und politische Geschehen verankert.

Herauszuheben ist auch, dass das Buch im Grunde ein Buch der Frauen ist: Es zeigt, wie sich deren Rolle ändert – es reicht von der Welt der in Konventionen erstarrten Bankiersgattinnen Selma und Eugenie bis hin zu den jungen Frauen, die zwischen Anpassung an das Alte und Selbstbestimmung hin- und hergerissen sind.

Dass Gabriele Tergit so realitätsgenau schrieb, dass sie ihre Menschen als Menschen beschrieb, mit ihren Stärken und Charakterfehlern, dies war für die Veröffentlichung ihres Roman, den sie bereits in Berlin begann und an dem sie dann im Exil noch Jahre schrieb, in den 1950er-Jahren ein Hindernisgrund: Im Nachkriegsdeutschland wollte man solche Bücher nicht. Das Buch erschien zunächst nur in gekürzter Fassung und dann erst in den späten 1970er-Jahren im Zuge einer späten Wiederentdeckung der Autorin.

Dass der Schöffling Verlag es nun wieder herausgebracht hat, ist eine literarische Wohltat. Und einmal mehr kann ich mich nur der Aussage von Thea Dorn anschließen: „Dass dieses Buch nicht längst ein fester Bestandteil des deutschen literarischen Kanons ist, halte ich für einen Skandal.“


Bibliographische Angaben:

Gabriele Tergit
Effingers
Schöffling & Co., 2019
28, 00 Euro, 904 Seiten, gebunden, Lesebändchen
ISBN 978-3-89561-493-4

Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm

Der 1931 beim Ernst Rowohlt Verlag erschienene Roman hat alles, was eine gute Satire braucht: Witz, Tempo, eine turbulente Handlung, starke Typen.

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„Ich kannte diese Stadt noch“, dachte er, „als sie noch aussah fast wie eine Stadt, als man noch nicht Haus bei Haus abgerissen hatte, als noch das Wollager im Hohen Hause war und die Planwagen in der Klosterstraße standen, am Hackeschen Markt noch die Hollmannsche Schule war und alles dort voll Gärten. Es ist kein Platz mehr für den Menschen und seine Sehnsucht.“ Er wanderte weiter, kam an den Schloßplatz und ging die Französische Straße lang. Niemand begegnete ihm. Er war zurückgekehrt nach 1000 Jahren in die verfallene Stadt. Unbewohnt waren die Häuser, nur manchmal stand ein alter Gott davor in bortenbesetzter Uniform, der Schlüssel hielt. Nie mehr würden hier Menschen atmen. Das Lachen starb, als die Menschen zugrunde gingen. Er nur allein war aufgeweckt. Er war müde, die Sohlen brannten ihm. „Müde Füße“, dachte er, „das mildeste Tun ist, die Füße zu waschen. Wir haben aufgehört zu wandern, wir haben keine müden Füße mehr, wir haben niemanden, der sie uns wäscht, verratenes Herz, getäuschtes Vertrauen in den großen Städten.“

Gabriele Tergit, „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“


Ein wenig lässt der melancholische Gedankengang des Redakteurs Miermann an Georg Heyms „Gott der Stadt“ denken – der expressionistische Furor, mit dem Heym bereits 1910 die menschenfressende Metropole beschrieb, klingt in diesen Zeilen ebenfalls durch. Und macht deutlich, wer in diesem Roman aus der Weimarer Republik tatsächlich die Hauptrolle spielt: Nicht der titelgebende Volksliedsänger Käsebier, nicht der gescheiterte Schriftsteller Miermann, nicht das ganze Panoptikum an Bauspekulanten, vom Konkurs bedrohten Bankern, windigen Medienleuten und halbseidenen Damen. Sondern sie steht im Mittelpunkt, die Stadt, DIE Stadt der Weimarer Republik an sich, Berlin.

Witz, Tempo und starke Typen

Der 1931 beim Ernst Rowohlt Verlag erschienene Roman hat alles, was eine gute Satire braucht: Witz, Tempo, messerscharfe Dialoge, eine turbulente Handlung, starke Typen. Erzählt wird vordergründig von Aufstieg und Fall des nur mittelmäßig begabten Alleinunterhalters Käsebier. Eine über ihn verfasste Story dämmert bei der Berliner Rundschau vor sich hin, rutscht als Platzhalter eher zufällig in die Zeitung, wird aber von einem aufstiegsgierigen freien Journalisten hochgeputscht – die Maschine kommt ins Rollen, es gibt kein Halten mehr: Käsebier wird von der Halbwelt und der feinen Welt entdeckt, bekommt Auftrittsverträge, eine Welttournee, Grundstücksspekulanten planen ein Käsebier-Varieté am Kurfürstendamm, Käsebier-Biographien werden verfasst, Käsebier-Puppen finden reißenden Absatz, das Käsebier-Merchandising läuft auf Hochtouren. Doch die Blase platzt so schnell, wie sie sich entwickelt hat – das Publikum findet einen neuen Liebling, am Ende ist eine Zeitung plattgemacht, eine Bank geht Konkurs und Käsebier verschwindet in der Provinz.

Alle, die in diesem Zirkus auftreten, sind „Menschen der Zeit“, wie ein altgedienter Journalist anmerkt:

„Der Erfolg ist eine Sache der Suggestion und nicht der Leistung.“
Miermann würde sagen: „Dieser einzige Satz erklärt den ganzen Faschismus, ihr seid feige Sklaven, ihr braucht Autorität.“

Man schluckt ein wenig bei diesem fein eingestreuten Bosheiten, den locker formulierten Zwischentönen, die ihre eigene Wahrheit in sich bergen: Denn der ganze Käsebier-Rummel erinnert an die It-Girls und Boys von heute, der Bauwahn an die Gentrifizierung der Städte der 2000er-Jahre, die Krise der Berliner Rundschau an die Verlagskrisen unserer Zeit. So merkt denn auch Nicole Henneberg in ihrem Nachwort „Die sieben fetten Jahre im Leben einer Generation“ an:

„Heute ist diese Geschichte wieder brennend aktuell: Es ist haargenau dieselbe Krise, unter der jetzt die Printmedien ächzen, und die vermeintlichen Problemlösungen gleichen sich bis ins Detail, bis zur Neueinführung wöchentlicher Mode-, Kosmetik- und Klatsch-Seiten in bis dahin ernsthaften Blättern.“

Ein Stück Realsatire

Gabriele Tergit (1894 – 1982) hatte mit ihrem Roman durchaus ein Stück Realsatire verfasst, aus eigenem Erleben als Journalistin, die den Untergang ihrer Zeitungsredaktion zusehen musste, geschöpft. Tergit war neben „Sling“ (Paul Schlesinger), die Gerichtsreporterin der Weimarer Zeit, ungewöhnlich in jenen Jahren, war der Gerichtssaal doch noch eine reine Männerdomäne. Die freie Autorin und Literaturkritikerin Nicole Henneberg schreibt über diese interessante Autorin, die neben zahlreichen Feuilletonberichten, Reportagen, auch drei Romane und ihre Erinnerungen verfasst hatte:

„So wird sie die erste deutsche Gerichtsreporterin, und erst durch ihre nachdenklichen, klugen Schilderungen, die stets das gesellschaftliche Umfeld eines Falles und vor allem den erstarkenden rechten Nationalismus von Richtern und Staatsanwälten im Blick behalten, wird die Gerichtsreportage zu einer literarischen Gattung.“

Ihre genaue Beobachtungsgabe, die „Straßenweisheit“, die sie auch im Gerichtssaal lernt, aber vor allem ihr rascher Geist und ihr Witz prägen auch den Käsebier-Roman und machen ihn auf eine besondere Art und Weise auch höchst unterhaltsam. Dies zeigt ein Blick ins Wohnzimmer des Ehepaares Käsebier:

„Sie hatte hochblondes Haar, trug Stöckelschuh und sehr grelle Kleider. Sie war Feuer und Flamme für den Kurfürstendamm: „Denn ne große herrschaftliche Wohnung, weißt du, wo wir`n schönes Büfett stellen können, und ne neue Küche möchte ich dann auch haben, nich? (…)
Aber Männe, ich versteh dich nich? Was willste denn. Sie machen`n Tonfilm für dich. Du bist berühmt. Du warst im Wintergarten. Was klebste denn hier an de Hasenheide? Kannst doch Caruso werden, ladet dich Hindenburg ein, singste vorm König von England, bei uns is et ja nischt Rechtes mehr so ohne gekröntes Haupt.“

So locker der Roman daherkommt – er spricht eine deutliche Sprache, ist kritisch und hochpolitisch. Für ihre deutliche antifaschistische Haltung zahlte Gabriele Tergit einen hohen Preis, zumal sie auch noch aus einer jüdischen Familie stammte: Schon am 4. März 1933 versucht ein SA-Kommando ihre Wohnung zu stürmen, am nächsten Tag gelingt der Journalistin und Schriftstellerin die Flucht nach Prag. Ab 1935 lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Palästina, später siedelt die Familie nach London um. Sie teilt das Schicksal vieler Künstler, die von den Nationalsozialisten vertrieben wurden: Sie wird in Deutschland vergessen, erst spät beginnt man sich wieder für ihr Werk zu interessieren.


Bibliographische Angaben:

Gabriele Tergit
Käsebier erobert den Kurfürstendamm
Schöffling Verlag
ISBN: 978-3-89561-484-2