#MeinKlassiker (36): Hildegard E. Keller sagt: Endlich! Etty Hillesum – Chronistin ihrer Zeit

Erstmals liegen sämtliche Schriften Etty Hillesums in deutscher Sprache vor. Endlich, sagt Literaturexpertin Hildegard E. Keller. Denn die Tagebücher der jungen Niederländerin werden als philosophische Lebenskunst, Mystik des Alltags und Ethik des Mitleidens gefeiert. Für Keller ist Hillesum #MeinKlassiker.

2016 bat ich einige Literaturblogger*innen, Autor*innen und andere Menschen aus dem Literaturbetrieb, doch einmal ganz frei über ihre Klassiker zu schreiben: Schriftstellerinnen und Schriftsteller und Bücher, die einen das ganze Leben über begleiten. Der Zuspruch und das Interesse war enorm: Es gab 35 Beiträge unter dieser Rubrik auf dem Blog, der seinerzeit noch unter Sätze&Schätze firmierte. Sie werden nach wie vor gelesen: Klassiker machen neugierig. Allen, die bisher zu der Reihe beigetragen haben, an dieser Stelle nochmals mein herzlichster Dank!
Inzwischen ist mein Literaturblog wiederbelebt. Und als ich neulich einen Beitrag über meinen Klassiker schrieb, “Die Insel des zweiten Gesichts” von Albert Vigoleis Thelen, wurde einmal mehr deutlich, wie groß, auch im Trubel der Neuerscheinungen, das Interesse an Autor*innen ist, deren Werke die Jahre überdauern.
Die Idee, #MeinKlassiker mit dem Blog wieder mit neuem Leben zu erfüllen, war da – und ich war ganz positiv überrascht, dass schon einige literaturaffine Menschen meiner Einladung gefolgt sind und hier über ihre Klassiker schreiben werden. Ich freue mich sehr über den Auftakt zu #MeinKlassiker 2.0 durch Hildegard E. Keller, die mit Etty Hillesum eine ganz besondere Frau vorstellt.
Ein Werk, das die Jahre überdauert hat und eine Neuerscheinung ist.


Ein Gastbeitrag von Hildegard E. Keller

Im Mittelalter stellte man sich die Liebe als noble Dame vor: Vrouwe Minne, Frau Minne, Lady Love. Die ersten Dichterinnen im deutschen und niederländischen Sprachraum, deren Namen wir kennen und deren Werke erhalten geblieben sind, dienten ihr als Sprachrohr. Es sind grosse Namen. Es sind Klassikerinnen. Es sind auch die einzigen schreibenden Frauen zwischen 1100 und 1300. Dichten ist für sie Dienst an ihrer Chefin, denn die Liebe ist die heimliche Göttin an Gottes Seite.

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Im Hörspiel Der Ozean im Fingerhut (2011) brachte ich drei dieser Klassikerinnen zusammen: die alte Hildegard von Bingen (1098-1179), die in ihrem langen Leben über fast alles geschrieben hat; Mechthild aus Magdeburg (um 1207-1282), die uns ihr Buch Das fliessende Licht der Gottheit hinterliess und die geheimnisvolle Hadewijch (sie schrieb um 1250), die in mittelalterlichem Niederländisch Lieder, Visionen und Briefe dichtete. Die inoffizielle Hauptperson des Hörspiels ist aber Etty Hillesum (1914-1943). Sie gehört zu den Klassikerinnen, die genug bekannt sind, dass sich jemand für ihr Werk interessiert, genug unbekannt, dass man sie neu entdecken kann. Das Hörspiel inszeniert eine fiktive Begegnung. Da die vier nur jenseits von Ort und Zeit zusammenfinden konnten, erschuf ich mit literarischen Mitteln einen Begegnungsraum. Für mich war es Forschung mit künstlerischer Freiheit, ein Abenteuer, auf Mittelhochdeutsch âventiure.

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Etty Hillesum spricht mit ihren christlichen Kolleginnen über die gemeinsamen Themen: das Schreiben, die Liebe, Gott und die Welt. Etty sah sich selbst als Chronistin ihrer Zeit, ist aber weit mehr als eine jüdische Zeitzeugin. In ihrem nur neunundzwanzig Jahre langen Leben, das in Auschwitz gewaltsam beendet wurde, hat sie lieben gelernt wie keine. Zwei Jahre lang beschreibt sie in Tagebüchern ihren inneren Weg. Sie schildert auch, wie sich im nationalsozialistisch besetzten Amsterdam ihr Lebensraum verengt, wie es sie immer stärker nach innen drängt. Ihre Tagebücher und Briefe wirken auch achtzig Jahre nach ihrem jähen Abriss atemberaubend und erfrischend. Als ich 2010 mein Hörspiel schrieb, musste ich mich auf internationale Ausgaben ihres Werks stützen, die niederländische Originalausgabe, die englische, italienische, französische und spanische, denn die gab es alle, meist gut kommentiert. Was fehlte, war die deutschsprachige Gesamtausgabe. Dies fand ich so unerhört, dass ich einen deutschen Verlag zu gewinnen suchte, doch das Projekt versandete. Das ist gut so. Denn vor wenigen Tagen ist sie endlich bei C.H. Beck erschienen: die erstmals vollständige und neu übersetzte Gesamtausgabe: «ICH WILL DIE CHRONISTIN DIESER ZEIT WERDEN. Sämtliche Tagebücher und Briefe 1941–1943.» Hg. von Pierre Bühler. Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth ausgezeichnet übersetzt. Die rund tausend Seiten lesen sich hervorragend, man ist dankbar für den grosszügigen Kommentar- und Bilderteil, diese Ausgabe erfüllt einen meiner Herzenswünsche. Eine Pflichtlektüre für alle.

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Wie schon die meisten internationalen Ausgaben hilft das neue Gesamtwerk beim Lesen. Damit meine ich den wichtigen Zwei- und Mehrsprachenraum, in dem Etty Hillesum gelebt, gedacht, geschrieben hat. Literatur, Weltliteratur, aber besonders auch russische und deutsche Literatur bedeuteten ihr viel. Einer ihrer Hausdichter, Rainer Maria Rilke, vor allem aber die Begegnung mit Julius Spier, nach der Reichskristallnacht aus Berlin nach Amsterdam geflohen, trugen dazu bei, dass Etty Hillesum zahlreiche Passagen auf Deutsch in ihr niederländisches Original einfügte. Diese Koexistenz von Niederländisch und Deutsch, die in der neuen Ausgabe mit Serifen bzw. serifenloser Schrift sichtbar gemacht wird, ist wesentlich. Etty Hillesum pflegte das Neben- und Miteinander der zwei Sprachen ganz bewusst, in Amsterdam wie auch später im Durchgangslager Westerbork. Es war eine Geste des inneren Widerstands gegen den Hass, den die Situation aufoktroyierte. Sprachlich und überhaupt in nur jeder denkbaren Weise nutzte Etty Hillesum jeden Moment, um in ihrer Liebesfähigkeit zu wachsen.  

Mittwochmorgen, 29. April [1942].

Dass ich so stark lieben kann! Mein Inneres blüht in alle Richtungen auf und die Liebe wird immer stärker und größer und ich lerne auch immer besser, sie zu ertragen und nicht darunter zermalmt zu werden. Und durch dieses Ertragen fühlt man, dass man immer stärker wird. Dass ich so sehr lieben kann!
Er ist ganz großartig. (S. 450)

5 Uhr nachmittags.

An ihm bin ich eigentlich erst schöpferisch geworden – verrückt, manche Dinge kann ich überhaupt nicht mehr auf Niederländisch sagen. An ihm sind meine schöpferischen Kräfte zum ersten Mal erwacht und an ihm werden sie auch zum ersten Mal eine Form annehmen. Er muss mich später wieder von sich wegstoßen, in den Raum hinein. In einem einzigen klaren Augenblick sehe ich dies plötzlich sehr deutlich: dass ich mich nicht danach sehnen sollte, ein Leben lang bei ihm zu bleiben oder ihn heiraten zu wollen. An ihm bin ich zu einer Form gelangt, aber er muss sich von mir wegstoßen, sodass ich später in einem kosmischen Raum zu einer neuen Form gelangen werde, unabhängig von ihm. (S. 451)

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Endlich kann diese Klassikerin des literarischen Humanismus neu gelesen werden. Alle, die diese bahnbrechende Gesamtausgabe in die Welt gebracht haben, verdienen Hochachtung. Das gilt ganz besonders für die Übersetzerinnen. Am 5. April findet die Buchpräsentation in Zürich statt, mit dem Herausgeber Pierre Bühler, der Übersetzerin Christina Siever, Marja Clement und mir; Moderation Verena Mühlethaler. Am 12. April werde ich den Experimentalfilm Der Ozean im Fingerhut, den ich 2012 auf der Grundlage des gleichnamigen Hörspiels produziert habe, zeigen.

Ein Beitrag von Hildegard E. Keller


Bibliografie:

Etty Hillesum
Ich will die Chronistin dieser Zeit werden
Sämtliche Tagebücher und Briefe (1941 – 1943)
C.H.Beck Verlag, München, März 2023
Hardcover, 989 S., mit 46 Abbildungen
ISBN 978-3-406-79731-6

Von Etty Hillesum. Herausgegeben von Klaas A.D. Smelik, Deutsche Ausgabe herausgegeben von Pierre Bühler. Mit einem Vorwort von Hetty Berg. Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth.

Buchvernissage in Zürich:
https://citykirche.ch/buchvernissage-und-mystikreihe-zu-etty-hillesum/


Zur Autorin dieses Beitrags:

Von 2009 bis 2019 war Hildegard Keller Literaturkritikerin im Fernsehen (Jurymitglied beim Bachmannpreis, ORF/3sat; Kritikerteam des Literaturclubs SRF/3sat). Seit 2019 konzentriert sie sich auf ihre künstlerischen Projekte (Literatur, Film, Storytelling) und gibt die Edition Maulhelden heraus. Seit den frühen 1990er Jahren lehrte sie deutsche Literatur an Universitäten im In- und Ausland (USA, GB, NL, D, ARG, TUR), zehn Jahre lang als Professorin an der Indiana University in Bloomington (USA), wo sie ihren ersten Dokumentarfilm (Whatever Comes Next, 2014) geschaffen hat; heute lehrt sie Multimedia-Storytelling an der Universität Zürich. Ihr Werk umfasst Romane, Hörspiele, Radiofeatures, Podcast, Filme und Performances. Ihr Hörspiel DIE STUNDE DES HUNDES war für den Deutschen Hörbuchpreis 2009 nominiert und wurde mit dem Theophrastus-Preis ausgezeichnet. Sie ist zudem Herausgeberin, Übersetzerin und Biografin von Alfonsina Storni; die fünfbändige Werkauswahl wurde in der Edition Maulhelden veröffentlicht. 2021 erschien mit WAS WIR SCHEINEN ihr erster, vielbeachteter Roman: Eine Lebensreise mit Hannah Arendt. Am 28. März erscheint er auf Italienisch (Quel che sembriamo. Übersetzt von Silvia Albesano. Guanda; Buchpremiere am 30. März in Venedig).

Homepage von Hildegard Keller:
https://www.hildegardkeller.ch/

Edition Maulhelden:
https://www.editionmaulhelden.com/

Den Film und das Hörspiel “Der Ozean im Fingerhut” gibt es zu kaufen, weitere Information und Bestellmöglichkeiten unter info@hildegardkeller.ch.

Wilhelm Schmid: Unglücklich sein. Eine Ermutigung.

Warum das Streben nach Glück auch unglücklich machen kann und was es mit der Glücksindustrie auf sich hat, darüber philosophiert Wilhelm Schmid.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Was häufig gemeint ist, wenn nach “Glück” gefragt wird, ist eigentlich “Sinn”. Es ist die Frage nach dem Sinn, die moderne Menschen in wachsendem Maße umtreibt. Viele bevorzugen aber die Rede vom Glück, denn das ist das Wort, das in aller Munde ist und das jeder gut zu verstehen scheint. Sinn hingegen erscheint weniger greifbar, schon die bloße Frage danach macht nicht wenigen Menschen Angst, denn sie ahnen Abgründe, die sich damit auftun können. Die Dringlichkeit des Strebens nach Glück kann als ein Indiz für die Verzweiflung gelten, die die Entbehrung von Sinn hervorruft.

Sinn, der in tiefster Seele zu fühlen ist

Tief innerlich in seiner Seele, in diesem Raum, dessen eigentümliche Energie in der Bewegung von Gefühlen zum Ausdruck kommt, ist ein Mensch berührt vom Sinn, den alle Arten von Beziehungen stiften können, nicht nur momentan, sondern auch über ganze Zeitspannen hinweg und vielleicht das ganze Leben hindurch: Sinn im gesamten Leben. Beziehungen “machen Sinn”, insofern sie Zusammenhänge begründen, erfahrbar in Begegnungen, die gesucht werden, in Gesprächen, die geführt werden, in Umgangsformen, die beachtet werden, beginnend zwischen zweien. (…) Umso mehr jedoch die starke, gefühlte Bindung, die von herausgehobener Bedeutung für das jeweilige Selbst ist und einen innigen Zusammenhang bewirkt, in dem auch gegensätzliche Gefühle ihren Platz haben: Menschen, die Liebe füreinander fühlen, stellen sich die Frage nach dem Sinn nicht mehr – denn sie fühlen sich in dessen Besitz, daran ändern auch gelegentliche Unlustgefühle und Auseinandersetzungen nichts.

An der Fülle von Glücks- und Lebenskunstratgebern, die in größeren Buchhandlungen heutzutage zu finden sind, laufe ich meist achtlos vorbei. Käufliche Heilsversprechen, die den Lesenden meist noch unglücklicher machen: Jeder ist seines Glückes Schmied, wird da oft suggeriert, und wer diese Selbstoptimierung nicht hinbekommt, versagt in unserer Glücksindustrie.

Dieser gewollten Ignoranz meinerseits fiel bislang auch Wilhelm Schmid zum Opfer. Doch da der Philosoph ab und an auch Vorträge in seiner alten Heimat Bayerisch-Schwaben hält, kam ich nicht an ihm vorbei. Eingenommen haben mich: Eine klare, verständliche Sprache, eine Intelligenz, die sich nicht verkleiden muss, ein dem Leben zugewandter Pragmatismus, der Gelassenheit vermittelt und verdeutlicht, warum Glück nicht das Wichtigste im Leben ist.  Eine Lebenskunstphilosophie, die auch zum “Unglücklichsein” ermutigt. Die zeigt, wie das allseits vorausgesetzte und eingeforderte “Streben nach Glück” Menschen in die Irre führt, wenn “das Glück” mit Heilsversprechen, Ansprüchen und Vorstellungen überfrachtet wird.

“Was kann dieses Buch dazu beitragen, dass Sie ihr Glück finden können? Einen Moment des Nachdenkens, sonst nichts. Eine kleine Atempause inmitten der Glückshysterie, die um sich greift. Viele Menschen sind plötzlich so verrückt nach Glück, dass zu befürchten ist, sie könnten sich unglücklich machen, nur weil sie glauben, ohne Glück nicht mehr leben zu können. Fluten von Diskursen brechen über die Menschen herein, um ihnen zu sagen, was das Glück denn sei und was der richtige Weg dazu wäre. Klar ist dabei vor allem eins: Es steht nicht gut um das Glück.”


Bibliographische Angaben:

Wilhelm Schmid
Unglücklich sein. Eine Ermutigung
Insel Verlag, 2012
ISBN: 978-3-458-17559-9

Steven Bloom: Das positivste Wort der englischen Sprache

Erst spät im Leben entdeckt Goldstein „das positivste Wort der englischen Sprache“: „YES“. Ein kleiner, feiner, melancholischer Roman mit viel Herz & Humor.

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Bild von Dean Moriarty auf Pixabay

„Als Maggie ging, wußte Norman nicht, was er fühlte. Er arbeitete weiter an seinem Roman über das Postamt, und obwohl es während der nächsten Jahre Frauen gab, fühlte er sich keiner so nahe wie seinen Figuren.
Das Dunkel der Nacht kam sehr gut an, und Norman bewarb sich mit Erfolg an einem kleinen, aber renommierten College zwei Zugstunden von New York entfernt.
Als er eines Tages eine Mitteilung des Fachbereichs las, merkte er beim Blick auf das Datum, dass er, wie auch immer, zweiundvierzig geworden war.“

Steven Bloom, „Das positivste Wort der englischen Sprache“

Vor allem Männer, die über die Mitte des Lebens hinaus sind, sollten dieses Buch lesen. Man steht auf, macht seinen Job, versucht, irgendwie durchzukommen, kleinere und größere Ereignisse und Katastrophen verschwimmen irgendwann im Fluss der Zeit – und ehe man sich versieht, ist man Vierzig plus, ein Sonderling und ziemlich einsam. Norman Goldstein ist so ein Typ, beinahe ein „Stoner“, etwas tapsig, unbeholfen, aber auch stoisch bis hin zum zeitweiligen Gefühlsautismus, dabei aber auch überaus sympathisch. Dieser Goldstein scheint durch sein Leben zu gehen und sich meistens zu wundern, was ihm geschieht (oder vielmehr: nicht geschieht):

„In der Mensa der Fakultät wurde er eines Tages Ohrenzeuge einer Diskussion über die „Neue Enthaltsamkeit“ und war überrascht, dass es noch andere gab, die wie er waren. Seine Enthaltsamkeit war jedoch schon über zehn Jahre alt. Sie war das Geschenk, das er sich zu seinem fünfzigsten Geburtstag gemacht hatte.“

Vor allem die Frauen, die ihm geschehen:

Ehrlich gesagt, sagte Maggie, hast du bei manchem keine Wahl. Ich war auch mal verheiratet, ich lebe auch schon zu lange allein. Ich leide auch an einer Unterversorgung mit Zärtlichkeit. Der einzige Unterschied zwischen uns ist, dass ich keine verkorkste Lebensphilosophie habe. (…)
Du brauchst mir nicht zu sagen, dass ich dich herumkommandiere, sagte Maggie, als sie in einem Restaurant in Chinatown saßen, denn das ist nicht zu übersehen. Ich tue es aber aus dem besten aller möglichen Gründe: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Das stammt von Gott persönlich, Norman.

Dass das mit Maggie – wie mit den Frauen zuvor – nicht gut ausgeht, liegt auf der Hand…

Eine späte Liebe lockt den Eremiten aus der Höhle

Erst als ihn eine späte Liebe ereilt, entdeckt Goldstein „das positivste Wort der englischen Sprache“: „YES“. Die temperamentvolle, wesentlich jüngere Kollegin Vashti holt den Bildungs-Eremiten aus seiner Höhle, überrollt ihn mit ihrer Lebensfreude, nimmt ihm förmlich an der Hand, rüttelt und schüttelt ihn aus seiner Lethargie.

Vashti spießte ein Stück Kiwi mit der Gabel auf.
Dein Gesicht, sagte sie, ist wie ein offenes Buch. Irgendetwas plagt dich.
Ich fühle mich dir näher, sagte Norman, als ich mich je einem Menschen gefühlt habe, und trotzdem hält mich etwas zurück.
Liebe, sagte Vashti, ist ziemlich beängstigend. Du liebst mich doch, oder?
Ich wünschte, ich könnte einfach ja sagen.
Dann sag es halt.
Mit „yes“, sagte Norman, endet der Ulysses. Er wollte, sagte Joyce, sein Buch mit dem positivsten Wort der englischen Sprache enden lassen.
Es ist ein gutes Wort, Norman, sagte Vashti.

Endlich angekommen beim positivsten Wort der englischen Sprache, erfährt Norman tragischerweise ein großes, finales „No“: Vashti stirbt.

Kein Happy End

Es ist dem Talent des Steven Bloom zu verdanken, dass man diesen schmalen Roman zuklappt, und neben der Melancholie über ein Unhappy End (das Bloom leise, wehmütig ausgleiten lässt), auch ein Gefühl der Heiterkeit mitnimmt. Wie Vashti ihren Norman, so kann auch dieses Buch schütteln und rütteln. Es fordert die Frage heraus: Was stellst Du mit deinem Leben an?

Dabei ist „Das positivste Wort der englischen Sprache“ kein melancholisches Buch an sich. Bloom hat ein außerordentliches Talent für witzige Dialoge, stellt seinem Stadtneurotiker Norman zynische und lakonische Gesprächspartner an die Seite, lässt in dem schmalen Werk eine ganze Reihe bunter, schillernder Typen auftreten: Die linksliberalen jüdischen Eltern, den gewitzten Hausmeister, rassistische Vermieter, abgetackelte Spieler, versoffene irische Dozenten. Seitenweise prallvolles Leben, kapitelweise amerikanische Geschichte im Vorbeigehen – von der latent und offen rassistischen New Yorker Gesellschaft der Nachkriegsjahre, über die Aufbruchsstimmung unter Kennedy, die Emanzipation unter Martin Luther King, bis zur revisionistischen Reagan-Ära spannt sich der Bogen. Ulrich Rüdenauer schrieb in der Zeit über das Buch:

Sein neuer Roman ist zugleich sein ambitioniertester, zumindest was die darin erzählte Zeitspanne angeht, und sein zurückgenommenster. Er beginnt in den sechziger Jahren und umfasst ein halbes Jahrhundert, in dem wir den jungen Norman Goldstein auf seinem Weg durchs Leben begleiten. Das positivste Wort der englischen Sprache ist ein schmaler Entwicklungsroman, der wie nebenbei die Geschichte Amerikas des letzten halben Jahrhunderts miterzählt. Episoden und Lebenssplitter werden aneinandergereiht, dazwischen immer wieder kleinere und größere Lücken gelassen, die dem Buch bei aller chronologischen Strenge eine reizvolle Offenheit geben. 

Unterschlagen hat Rüdenauer dabei, dass der schmale Roman auch witzig und überaus unterhaltsam ist, vor allem dann, wenn Norman, der Schüchterne, von seinen Gesprächspartnern förmlich überrollt wird.

Das positivste Wort der englischen Sprache ist – trotz der ihm innewohnenden Melancholie – der positivste Roman der englischen Sprache, den ich in letzter Zeit gelesen habe. Volle Leseempfehlung daher.

Mein Dank an den Wallstein Verlag für das Rezensionsexemplar Und für die Entdeckung des Autoren: Steven Bloom, 1942 in Brooklyn geboren, lebt seit Jahren in Heidelberg, schreibt in amerikanischem Englisch (Übersetzerin Silvia Morawetz), seine Werke erschienen bislang jedoch bei deutschsprachigen Verlagen, nicht jedoch im angelsächsischen Raum.

Informationen zum Buch:

Steven Bloom
Das positiviste Wort der englischen Sprache
Übersetzt von Silvia Morawetz
Wallstein Verlag, 2015
ISBN 978-3-8353-1597-6