Mit „Die Ungleichzeitigen“ legt der Freiburger Schriftsteller Philipp Brotz einen Roman vor, der von Heimatverlust und Einsamkeit, aber auch von Selbstfindung, neuen Perspektiven und dazu gewonnener Toleranz erzählt. Ein Buch am Puls der Zeit: Denn ein wenig Hagen steckt vielleicht in uns allen, wenn es uns, je nach Lebenssituation schwerfällt, Veränderungen zu akzeptieren und offen zu sein für andere Kulturen, Lebensweisen, Menschen.
Am Beginn und am Ende dieses Romans stehen je eine Taxifahrt, die für den Protagonisten ein neues Lebenskapitel eröffnen. Hagen, Anfang 30, ein gescheiterter Student, kehrt in seinen Heimatort in den Schwarzwald zurück. Er bezieht das Haus seiner Eltern, die bei einem Autounfall verunglückt sind und versucht sich gewissermaßen wieder in seiner Kindheit einzurichten. In Berlin ist er nie heimisch geworden und nun will er, der jahrelang zum überkorrekten Vater keinen Kontakt mehr hatte, Erinnerungen an eine vermeintlich bessere Zeit zurückholen.
Doch auch in Löwenau – der fiktive Ortsname steht für vergleichbare Dörfer im Schwarzwald, wo alles noch überschaubar zu sein scheint – ist die Zeit nicht stehen geblieben. Dass im Dorf Flüchtlinge leben, für deren Wohncontainer sein Lieblingswald abgeholzt wird, wühlt den Einzelgänger, der ohne berufliche Perspektiven und ohne Beziehungen und Freundschaften lebt, auf. Die diffuse Wut auf die „Fremden“ lenkt ihn vom eigenen Lebensversagen ab. Dass er am Ende mit der Jesidin Adana in einem Taxi sitzt, das die beiden zu einem Flug in den Irak bringen wird, ist da bei weitem nicht absehbar. Doch Hagen, der aus einer verrückten Idee heraus sein Erbe bei Online-Börsenspekulationen aufs Spiel setzt, wird gezwungen, mit einigen Asylbewerbern eine Wohngemeinschaft einzugehen – und es zeigt sich, dass man nur das fürchtet, was man nicht kennt.
Mit „Die Ungleichzeitigen“ legt der Freiburger Schriftsteller Philipp Brotz einen Roman vor, der von Heimatverlust und Einsamkeit, aber auch von Selbstfindung, neuen Perspektiven und dazu gewonnener Toleranz erzählt. Ein Buch am Puls der Zeit: Denn ein wenig Hagen steckt vielleicht in uns allen, wenn es uns, je nach Lebenssituation schwerfällt, Veränderungen zu akzeptieren und offen zu sein für andere Kulturen, Lebensweisen, Menschen.
Zum Autor:
Philipp Brotz, geboren 1982 in Calw/Schwarzwald. Wehrersatzdienst in New York, USA, dann Studium der Germanistik und Romanistik in Berlin, anschließend der Politik- und Wirtschaftswissenschaft in Freiburg im Breisgau. Heute Gymnasiallehrer in Freiburg und Moderator beim Werkstattgespräch des dortigen Literaturhauses. Für seine Prosa mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Schwäbischen Literaturpreis, dem Jurypreis beim Wiener Book-Slam und dem Nora-Pfeffer-Literaturpreis. Stipendium des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg für den Roman „Termitenkönigin“.
Bild: Rebecca Rösch
Zum Buch:
Philipp Brotz Die Ungleichzeitigen Roman Gebunden mit Lesebändchen, 320 Seiten, 24,00 € 8 grad verlag, Freiburg, 2023 ISBN: 978-3-910228-12-2 ISBN EPUB: 978-3-910228-24-5
“Dünnes Eis” von Theres Essmann ist ein lebenskluger Roman: Vor ihrem 100. Geburtstag wird eine Frau von ihrem großen Lebenstrauma, dem Tod ihres kleinen Sohnes im Krieg, eingeholt. Ein Buch, das von Schuld, Sühne und der Kraft der Versöhnung erzählt.
„Wie so eine Geschichte, die man sich ein Leben lang erzählt hat, an einer Stelle plötzlich aufplatzen und abblättern kann. Man fängt an zu knibbeln, Stückchen für Stückchen, und darunter tritt etwas ganz anderes zutage. Wie bei übereinanderliegenden Farbschichten, die man nacheinander abträgt.“
Theres Essmann, „Dünnes Eis“
Allein wenn es um die Anzahl der Jahre ginge, hätte diese Frau viel zu erzählen. Marietta ist in ihrem hundertsten Lebensjahr, lebt in einer Seniorenresidenz und vor allem mit und von ihren Erinnerungen: Mit dem bunten Schal ihrer verstorbenen Freundin und Zimmernachbarin Gisela, Fotos, Briefen und Dingen wie Brummel, ein Teddybär, der einst ihrem Sohn Johann gehörte.
Johann, das ist der große Schmerz, den sie ihr ganzes Leben lang in sich trägt: Ihr kleiner Sohn, sechs Jahre alt, wird vor ihren Augen von einem russischen Soldaten erschossen. Sie gibt sich selbst die Schuld daran, meint sie doch, ihr Kind dazu aufgefordert zu haben, wegzurennen – ein Reflex, der dazu führt, dass Johann abgeschossen wird „wie ein Hase“. Ein Trauma, das alle anderen grauenvollen Erlebnisse jener Kriegstage, die Vergewaltigungen, den Tod der Großeltern, die Flucht aus Ostpreußen über dünnes Eis verdrängt.
Und dennoch bewältigt Marietta ihr Leben, erfährt mit dem Psychoanalytiker Elias eine neue, reife Liebe, geht in ihrem Beruf als Lehrerin auf, findet Halt und Anregung in der Literatur. Doch mit 99 Jahren, auch wenn man wie diese alte Dame bei wachem Verstand und körperlich noch einigermaßen rüstig wird, wird es naturgemäß einsam um einen: Ihre Ansprechpartnerinnen sind die Mitarbeiterinnen des Heims, in den hellwachen Nächten begleiten sie die Erinnerungen.
„Mit beiden Händen zieht sie die Schublade auf, sie ist randvoll mit Leben. Fotos über Fotos, wahllos hineingeworfen. (…) Vorm Fenster steht schwarz wie die Nacht. Sie schiebt im Schein der Lampe die Fotos auf dem Schreibtisch nebeneinander, Gisela in ihrem Ohrensessel neben Johann mit seinem Brummel. Ihre älteste Tote. Und Johann, ihr jüngster.“
Eine zufällige Begegnung bringt jedoch neue Farbe in ihre Leben: Plötzlich, wie eine Erscheinung, steht im Park vor ihr der kleine Enis, ein Flüchtlingskind, das stumm bleibt, ganz offensichtlich von der Flucht und seinen Erlebnissen traumatisiert. Die Parkbank wird zum Treffpunkt der beiden, der alten Frau und des siebenjährigen Kindes, die ein ähnliches Schicksal teilen. Mithilfe einer jungen Frau, die Marietta zu ihrem 100. Geburtstag für die Zeitung fotografiert, erfährt Marietta, dass Enis gewissermaßen ihr Spiegelbild ist: Sie musste mitansehen, wie ihr Sohn ermordet wurde, Enis erlebte den Mord an seinen Eltern mit.
Die Schatten der Vergangenheit
Auch in einem zweiten Erzählstrang geht es um Schuld und die Schatten der Vergangenheit: Der mürrische, krebskranke Herr Tacke, den Marietta hartnäckig und durchaus fordernd aus seinem Schneckenhaus holt, gesteht ihr eine grauenhafte Tat, die er als jugendlicher SS-Scherge begangen hat. Ein Geständnis, das Marietta aus der Fassung bringt. Und zugleich als erzählerischer Kunstgriff notwendig ist, um das Eis, das sich um ihr Herz seit Johanns Tod gelegt hat, zum Schmelzen zu bringen:
„Es ist wie ein gewaltiges Reißen. Ein Knacken und Bersten im Eis, dort wo es am dicksten ist. Dort, wo ihre Schuld eingeschlossen ist. Es birst auseinander in zwei Hälften. Sie hat nicht geschrien. Sie hat es gedacht. Dazwischen leckt eisig die See. Und sie, sie muss nur von der einen auf die andere Seite hinüberspringen.“
Erst in ihrem 100. Lebensjahr wird für Marietta das Eis begehbar, das sich über ihre Wahrnehmung von Johanns Tod gebildet hat. Oder, wie sie sich an die Worte eines Kollegen ihres zweiten Mannes erinnert:
„(…) die traumatische Neurose als Infiltrat, die den psychischen Organismus besetzt hält. Das heißt ja, dass es dann darum geht, es herauszuarbeiten, den Widerstand schmelzen zu lassen und so der Zirkulation den Weg zu bahnen, in ein bisher vom Trauma überlagertes und versperrtes Gebiet.“
Ein Prozess, der wichtig ist, gerade am Lebensende, wenn man mit dem eigenen Abschied rechnen muss.
„In ihr ist nichts als Wärme. Eine Wärme, die sich ausdehnen will. Und ein leises Staunen. Darüber, dass in den tiefen Lücken, die das Leben dir reißt, warme Dankbarkeit nisten kann.“
Ein lebenskluger Roman mit einer starken Frauenfigur
Mit „Dünnes Eis“ ist Theres Essmann nach ihrem literarischen Debüt „Federico Temperini“ erneut ein kluges, ein lebenskluges Buch gelungen. Die Autorin erweckt große Empathie für ihre Figuren, ohne je in falsches Sentiment oder gar Klischees abzurutschen. Die großen Themen dieses berührenden Romans – Schuld und Sühne, Kriegs- und Fluchttrauma, Verluste und Versöhnung – werden mit einer Frauenfigur transportiert, die einem im Gedächtnis bleiben wird. Mit Marietta hat Theres Essmann einen Charakter geschaffen, der beeindruckt, klug und sensibel zugleich, würdevoll zudem der Gebrechlichkeit und den Einschränkungen des Alters entgegentretend.
Der Roman spricht dank einer klaren Prosa zugleich Herz und Verstand an: Zurückhaltend, manchmal sehr zart und poetisch, aber auch kristallklar deutlich, wenn es um die grauenhaften Dinge geht, die Menschen in Kriegen erfahren müssen, findet Theres Essmann für ihr Sujet eine eigene Sprache, einen besonderen Stil, der dieses Buch trägt.
Bibliographische Angaben:
Theres Essmann Dünnes Eis Dörlemann Verlag, 2023 ISBN 9783038201328
Transparenzhinweis: Für das Debüt von Theres Essmann, “Federico Temperini”, habe ich im Rahmen des damaligen Verlags die Pressearbeit geleistet. Mit dem Verlagswechsel ist dies beendet. Von “Dünnes Eis” erhielt ich ein Vorab-Rezensionsexemplar. Beides hatte auf meine Meinung zum Roman keinen Einfluss: “Dünnes Eis” ist für mich unabhängig davon eindrucksvolle Literatur.
Für die Schriftstellerin Sibylle Schleicher ist “Transit” ein Roman, den sie immer wieder liest. Denn „Transit“ beschreibt eindringlich wie kaum ein anderer Roman das Schicksal heimat- und ziellos herumirrender Menschen. Ein Buch, das zurecht als Meisterwerk der Exilliteratur gilt. Ein Beitrag in der Reihe #MeinKlassiker.
Die Schauspielerin, Sängerin, Lyrikerin, Theater- und Romanautorin Sibylle Schleicher nennt sich selbst eine Fünfkämpferin, ist sie doch in Schielleiten, in einer Bundessportschule Österreichs, geboren.
Zuletzt erschien von ihr im Chronos Verlag das Stück: ‚In einem kühlen Grunde‘ – eine schwarze Komödie, die im Theater im Turm in Regensburg im April uraufgeführt wurde. Ihr letzter Roman „Die Puppenspielerin“, der im Alfred Kröner Verlag im Herbst 2021 erschienen ist, wurde im Dezember 2022 als Bühnenadaption in der Theaterei Herrlingen uraufgeführt. Mit Olivera Stosic-Rakic hat sie die künstlerische Leitung des Literaturprogramms beim Internationalen Donaufest 2024 inne.
Und trotz ihrer zahlreichen kreativen Verpflichtungen ist Sibylle Schleicher, die bei Ulm lebt, immer auch gesellschaftlich engagiert. So ist sie als Ehrenmitglied des Stiftungsrats: ‚Stiftung Erinnerung‘ kreativ für das Dokumentationszentrum Ulm tätig, aktiv für Theaterprojekte im professionell integrativen Theater Heyoka (Ulm) und engagiert sich ehrenamtlich für Asylsuchende.
Ihr Klassiker hat mit letzterem zu tun: „Transit“ von Anna Seghers – dies zeigt auch die Verfilmung durch Christian Petzold aus dem Jahr 2018 – ist (leider) zeitlos und aktuell. Denn „Transit“ beschreibt eindringlich wie kaum ein anderer Roman das Schicksal heimat- und ziellos herumirrender Menschen – ein Buch, das zurecht als Meisterwerk der Exilliteratur gilt.
Ein Gastbeitrag von Sibylle Schleicher
„Fort, nur fort aus diesem zusammengebrochenen Land, fort aus diesem zusammengebrochenen Leben, fort von diesem Stern.“
Juni 2023. Griechenland. Am frühen Mittwochmorgen kentert ein hoffnungslos überladenes Flüchtlingsboot westlich der Halbinsel Peloponnes. Hunderte Männer auf dem Deck, Frauen und Kinder unter Deck – an die 750 Insassen. Menschen wurden gerettet, Leichen wurden geborgen. Es war das bisher schwerste Bootsunglück vor der griechischen Küste, sagt die Internationale Organisation für Migration. Einmal mehr geht der Streit um Schuld und Verantwortung los. Einmal mehr in diesen vergangenen Jahren. Und die, die gerettet worden sind, werden erfahren, wie wenig Chancen sie auf Asyl haben.
In der Woche davor höre ich im Radio Diskussionen um das Screening-Verfahren an den Außengrenzen. Nach wie vor geht es um Grenzsicherung und nicht um die Menschenrechte der schutzsuchenden Menschen. Das Screening bestimmt, welches Asylverfahren die geflüchteten Menschen bekommen. Sie selbst haben keine Rechtsmittel zur Verfügung. Sie zählen als ‚nicht eingereist‘, obwohl sie bereits eingereist sind. Sie sind gezwungen, in den Massenlagern an den Außengrenzen auf weitere Verfügungen zu warten. Illegale Pushbacks, bei denen die Schutzsuchenden gewaltsam an den Grenzen abgewiesen werden, sind an der Tagesordnung. Hinter all den statistischen Fakten und politischen Diskussionen stehen individuelle Schicksale, steht eine eigene Geschichte. Oft bleibt sie unerzählt. Nicht nur, weil die Betroffenen nicht fähig sind, darüber zu reden, auch, weil es an Zuhörern fehlt. Dabei würden uns diese Geschichten helfen, mehr zu verstehen, auch zu begreifen, wo unser Handeln ansetzen kann. Und immer wieder denke ich an Anna Seghers‘ ‚Transit‘.
„Ein Transit – das ist die Erlaubnis, ein Land zu durchfahren, wenn es feststeht, dass man nicht bleiben will.“
Winter 1940/41. Marseille. Flüchtlinge aus allen Ländern Europas treffen zu Tausenden in dieser Hafenstadt ein, um eine Schiffspassage irgendwohin zu ergattern, auf einem Schiff, das sie aus dem brennenden Europa der Nazis wegbringt. Unter ihnen der Ich-Erzähler, dessen wirklichen Namen wir nicht erfahren.
„Transit“ beginnt mit dem Ausgang der Geschichte. Der Ich-Erzähler hat erfahren, dass die „Montreal“ auf eine Mine lief und zwischen Dakar und Martinique untergegangen ist. Er sitzt in einer Pizzeria und lädt einen Gast auf Pizza und Rosé ein, um sich dessen Zuhörerschaft zu sichern. Er möchte „alles einmal von Anfang an erzählen.“ Wie er 1937 aus dem Konzentrationslager geflohen und über den Rhein geschwommen ist, wie ihn die Franzosen ohne Papiere in ein Arbeitslager bei Rouen internierten, wie er wieder entkommen konnte und 1940 in Paris landete. Die Deutschen marschierten gerade in Frankreich ein. Er lebt vorübergehend bei Freunden, der Familie Binnet. Durch einen Zufall gelangt er an den Koffer des toten Schriftstellers Weidel und verspricht, diese karge Hinterlassenschaft bei den Verwandten des Toten abzugeben. Das gelingt nicht und ehe er eine Lösung dafür findet, ist er wieder auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. Mit einem auf den Namen Seidler gefälschten Pass verschlägt es ihn mitsamt Koffer, dessen Inhalt er mittlerweile genau kennt, nach Marseille.
Dort hat er Verbindung zur weiteren Binnet-Verwandtschaft und dort lernt andere Emigranten kennen, die alle nur so schnell wie möglich auswandern wollen. Es ist ein Hetzen nach den richtigen Papieren durch ein Labyrinth von Behörden. Dem neuen Seidler jedoch gefällt es in Marseille. Er würde gerne bleiben. Aber auch das ist nicht so einfach erlaubt. Bei einem weiteren Versuch, Weidels Koffer auf dem mexikanischen Konsulat abzugeben, hält man ihn selbst für Weidel, der um eine Ausreisegenehmigung ansucht. Er klärt den Irrtum nicht auf. Nimmt vielmehr Weidels Identität an. Während der eisigen Wintertage, in denen er seine Abreise vorbereitet, lernt er Marie kennen. Eine Frau, die mit einem Arzt zusammenlebt, gleichzeitig aber auf der Suche nach ihrem Mann rastlos durch die Cafés der Stadt streift. Seidler, mittlerweile Weidel, verliebt sich in sie und auch als er begreift, dass sie die Frau des Toten ist, zögert er zu lange, sie über das Schicksal ihres Mannes aufzuklären. Durch glückliche Fügungen erhält er eine Passage nach Übersee. Doch er gibt sie zurück. Er bleibt im Land. Marie hingegen kann er zur Ausreise mit dem Arzt auf der „Montreal“ bewegen. Die beiden kommen auf dem Weg in die erhoffte Freiheit ums Leben.
Transit steht bei Anna Seghers nicht nur für das Durchreisevisum. Transit steht für ein ganzes Durchgangsstadium verbunden mit einem ständigen Auf und Ab zwischen Hoffnung und Todesangst, verbunden mit dem Verlust von Würde und Solidarität. Die Flüchtlinge werden zu namenlosem Gesindel, das jederzeit herumgeschoben werden darf. Ihr Wert misst sich an ihren Papieren und ihrem Geld.
Anna Seghers, die selbst 1940 als jüdische Kommunistin mit ihren Kindern aus Paris flüchtet und 1941 in Mexiko landet, beschreibt nicht nur das einzelne Schicksal von Flucht und Exil des Ich-Erzählers. Sie greift viele Geschichten auf, flicht sie in den Roman ein, indem sie dem Protagonisten erzählt werden. Er, der in dieser Durchgangsphase keine eigene Identität mehr hat, sondern nur eine gefälschte und eine geliehene/gestohlene, bleibt dadurch trotzdem authentisch, auf dem Boden der Tatsachen, bei sich und gleichzeitig mitfühlend bei den anderen, noch fähig zu zuhören und mit zu leiden. Er hat Glück, dass er so etwas wie einen Familienanschluss bei den Binnets hat. Die soziale Wärme erdet ihn, lässt ihn seine Flucht reflektieren. Seghers bezieht mit der Familie Binnet das gewöhnliche Leben inmitten dieses chaotischen Treibens ein, lässt ahnen, wie es sein könnte, wenn alle Flüchtlinge Anschluss zu ansässigen Familien hätten. Sie beschreibt aber gerade durch diese beinahe freundschaftliche Vertrautheit auch die Einsamkeit und Fremdheit derer, die nur auswandern wollen, sich an nichts binden, weil sie ohnehin nicht bleiben. Es ist eine Welt, in der es keinen richtigen oder falschen Weg gibt. Nichts ist im Voraus berechenbar. Die rettende Schiffspassage kann einen auch in den Tod führen.
Mit ihrer direkten und klaren Sprache nimmt Anna Seghers uns unmittelbar mit in eine starke Bilderwelt. Der Leser ist quasi Gast des Erzählers in der Pizzeria, erlebt seine zermürbende Odyssee durch Städte und Ämter mit, friert mit ihm im kalten Regen und Wind, bangt mit ihm, dass er seine Papiere zur rechten Zeit bekommt – die Lagerentlassungspapiere, den Pass, das polizeiliche Führungszeugnis, das Ausreisevisum, das Transitvisum, das Einreisevisum usw.– alles in der richtigen Reihenfolge, selbst wenn er weiß, dass es Papiere für einen Toten sind. Und schließlich hofft der Gast auf einen guten Ausgang, nicht nur für den Protagonisten, auch für alle anderen, die durch ihre einzigartigen Lebensgeschichten nahegerückt sind.
„Welchen Zweck sollte das haben, Menschen zurückzuhalten, die sich doch nichts sehnlicher wünschen, als ein Land zu verlassen, in dem man sie einsperrt, wenn sie bleiben?“
Herbst 2017. In einem Dorf bei Ulm. Im Asyl-Café. Die Asylsuchenden aus Afghanistan ducken sich, wenn ein Unbekannter ins Café kommt. Das zermürbende Warten auf endgültige Entscheidungen über ihren Asylantrag, lässt sie nicht schlafen. Sie trauen keinem mehr, reden über Suizid.
Winter 2017. In einem Dorf bei Ulm. Neue Asylsuchende sind angekommen. Aber nicht aus einem anderen Land, nur aus einem Heim in der größeren Stadt. Ein junger Mann aus Ghana erzählt mir seine Geschichte. Seit zweieinhalb Jahren ist er im Land und immer noch ohne Papiere. Sein Haus in Ghana ist drei Mal abgebrannt. Auf dem Weg nach Europa ist das Schlauchboot untergegangen. Er ist einer der wenigen Überlebenden. Das Leben gerettet, die Papiere nicht. „Wer weiß, was an der Geschichte wahr ist“, sagen sie um ihn herum. Er kann nicht beweisen, dass er aus Ghana ist, wird dem Senegal zugeordnet. Er wartet auf den Übersetzer, der seine Sprache für die Ämter bestätigten soll. Inzwischen bewegt sich nichts. Junge Menschen ohne Perspektive, ‚verwarten‘ ihre lebendigsten Jahre.
Warten spielt auch in „Transit“ die nahezu größte Rolle. Warten vor dem Konsulat, in den Cafés, am Kai, im kargen Hotelzimmer. Ein zehrendes Warten, das alle Lebensenergie aus einem herausziehen kann. Warten, in das sich bisweilen Langeweile mischt, vor allem aber Angst und Ungeduld.
„Transit“ ist eine von vielen vergleichbaren Geschichten, die unsere Vergangenheit prägen und sich in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben. Eine Geschichte, die zeitlich im Zweiten Weltkrieg verankert ist, mit ihm und seinen politischen Auswirkungen zu tun hat, so gesehen eine unzeitgemäße Variante dieses Themas sein könnte. Denn dass das Thema Emigration selbst hochaktuell ist, muss man nicht weiter ausführen. Dass auch heute viel darüber geschrieben wird und wir mit den Schicksalen der Flüchtlinge in allen Medien konfrontiert werden, ist nicht zu bestreiten. Warum also so eine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert ausgraben? Einerseits, weil Anna Seghers Sprache uns noch ganz direkt erreicht und ohne Larmoyanz oder Härte zu berühren vermag. Und anderseits, vielleicht gerade weil der Blickwinkel ein anderer ist, weil man sich durch die zeitliche Distanz viel eher Vergleiche anzustellen traut. Man wähnt sich in sicherem Abstand und kann plötzlich die Realität anders zulassen. Man hält es aus, die Nahaufnahmen anzuschauen. Und wie der Ich-Erzähler zu Mitgefühl findet, indem er zuhört, können auch wir zu einer größeren Durchlässigkeit und Empathie den aktuellen Geschehnissen gegenüber gelangen, sie in unser Leben einbeziehen und nicht außen vorlassen.
„Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wussten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder Jahre oder unser ganzes Leben.“
Mai 2023. Andau. An der Brücke. Es regnet, leichter Nebel liegt über dem Wasser. Außer uns ist heute keiner da. Das Wetter zu unwirtlich. Die Kälte kriecht unter unsere Jacken. Ich gehe langsam über die Brücke. Unter ihr der Einser Kanal. Im Hinterkopf eine leichte Ahnung, wie es 1956 gewesen sein könnte. Es ist nicht mehr die Brücke, über die mehr als 70.000 Flüchtlinge von Ungarn nach Österreich gekommen sind, weil diese Brücke damals von den sowjetischen Truppen gesprengt wurde, aber viele Zeichen erinnern rundum an die Zeit. Internationale Künstler und Künstlerinnen säumen hier mit ihren Werken im Sinne des historischen Geschehens das Gelände mit ihren Objekten und Skulpturen. Vor und hinter der Brücke stehen Informations– und Gedenktafeln, Grenzsteine, Landesschilder. Im Regen nimmt man all die Zeichen nicht so genau wahr, denkt nur daran, wie sich die Menschenmengen über die Brücke geschoben haben, nachdem sie zuvor schon tagelang auf der Flucht waren. Warten, Chaos und Angst vor der Grenze zum Burgenland. Wie in Anna Seghers ‚Transit‘, denke ich wieder. Nur ganz anders. Aber dann doch nicht anders. Flucht und Migration, ein zeitloses Thema. Menschen fliehen, weil ihr Leben in Gefahr ist, sie fliehen vor Willkür, Gewalt und Zerstörung. Sie fliehen, weil sie Ihre Kinder nicht mehr ernähren können, weil sie Hoffnung haben auf ein besseres Leben. Niemand verlässt ohne einen wichtigen Grund sein zu Hause.
Über das Burgenland wurden die Flüchtlinge unter anderem weiter in die Steiermark gebracht und auf Flüchtlingslager verteilt. 116 Flüchtlingslager verschiedener Größen gab es 1956/57 in der Steiermark. Eines davon war Schloss Schielleiten im Bezirk Hartberg, eine der Bundessportschulen Österreichs. 105 Flüchtlinge fanden dort im Winter 1956 vorübergehend eine Bleibe. Mein Vater war zu dieser Zeit Verwalter dieses Betriebs. Damals sind Freundschaften entstanden, die unser aller Leben bis heute begleiten. Darüber will ich unter anderem in meinem neuen Roman: ‚Die Kinder von Schielleiten‘ (Arbeitstitel) erzählen.
Ein Debütroman in der Stroux edition: “Brockesstraße Beletage” erzählt die Geschichte zweier Frauen, die kurz nach Kriegsende eine Zweckgemeinschaft eingehen müssen.
Die altansässige Lübeckerin Alma Curtz muss im Jahr 1947 zwangsweise die aus Masuren geflüchtete Frieda Markuweit in ihre Wohnung in der Brockesstraße aufnehmen. Beide Frauen sind Kriegerwitwen, sonst gibt es aber keine Übereinstimmung. Alma träumt davon, ihren Kurzwarenladen wieder eröffnen zu können und endlich wieder einmal tanzen zu dürfen. Frieda sehnt sich zurück nach der verlorenen Idylle ihres Beamtenhaushaltes. Der Roman schildert die auseinanderklaffenden Lebenswelten dieser beiden Frauen vor dem Hintergrund von Gaunereien, Schwarzhandel, Tanzwut, Swing, vom Hunger nach Leben und Liebe.
Zur Autorin:
Anette L. Dressler wuchs mit ihrer Schwester in Lübeck und am Ostseestrand auf. Sie studierte in Berlin Französisch und Englisch und unterrichtete die Fächer als Lehrerin und Dozentin. Sie lebt mit ihrem Mann in Berlin und Lübeck und schreibt Kurzrezensionen für ein Kulturportal. Die Spurensuche nach der Herkunft und dem Ankommen ihrer Familie in Schleswig-Holstein nach Ende des Zweiten Weltkrieges inspirierte sie zu ihrem Debütroman „Brockesstraße Beletage“.
Stimmen zum Buch:
“Was der 300-Seiten-Roman auf jeden Fall leistet, ist ein sehr nahbarer Einblick in das Nachkriegsdeutschland in Bezug auf Alltäglichkeiten: Ein Mocca faux, hier des Öfteren Mukkefukk bezeichnet, hinterlässt ein Lächeln. Man erfreut sich über das Wissen um Nylonstrümpfe, Lebensmittelbeschaffung, Flohbeseitigung oder Ausgehmöglichkeiten der damaligen Zeit in Lübeck. Sehr sanft und verhalten wird die Annäherung zwischen den beiden Frauen erzählt und doch bietet sich ein Exempel für die Migration der Gegenwart – Fremdes wird irgendwann zu Vertrautem.” – katkaesk
“Anette L. Dressler ist in Lübeck aufgewachsen. Ihr erster Roman „Brockesstraße Beletage“ ist nicht nur eine Hommage an ihre hanseatische Heimatstadt, sondern vor allem auch ein zeitgeschichtlich hochinteressantes Porträt der Nachkriegszeit des Jahres 1947, das zwei starke Frauen mit bemerkenswertem Schicksal in den Mittelpunkt stellt.” – Kulturbowle
“Brockesstraße Beletage” ist ein fesselnder Roman, der mich in eine Zeit voller Widersprüche und Veränderungen entführt und zugleich die universellen Themen von Verständnis, Toleranz und Solidarität behandelt.” – Angélique’s Leseecke
Zum Buch:
ANETTE L. DRESSLER Brockesstraße Beletage in Lübeck St. Lorenz Nord STROUX edition, München 328 Seiten, Hardcover € 24,00 [D] ISBN 978-3-948065-28-7 https://stroux-edition.de/
Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag
In ihrem ersten Gedichtband bringt Agnieszka Lessmann eigene familiäre Erfahrungen und Erfahrungen aus ihrer Arbeit mit Migranten zusammen.
Bild: Michael Flötotto
Mutter Sprache
Jetzt, nach ihrem Tod schreiben: Schritte barfuß auf rissigem Boden an den Rändern der Schollen bröckelt der Staub Es erscheint ein einziges Wort: DURST
Agnieszka Lessmann, „Fluchtzustand“
Jedes einzelne Gedicht in diesem ganz aktuell erschienenen Band ist ein Stolperstein, ein Denkanstoß. „Fluchtzustand“: Ein Zustand, so wird es an einzelnen Poemen deutlich, den die Autorin aus eigenem Erleben kennt, das dringt aus Gedichten wie „Zimmer hier“ und „Erinnerung an Wien, 11. November 1968“ hervor, die sich mit Vergangenheit und Herkunft auseinandersetzen.
Aber im „Fluchtzustand“ zu sein, das ist auch die Situation der Menschen, mit denen die Kulturjournalistin und Hörbuchautorin Agnieszka Lessmann in ihrer Arbeit als Dozentin bei Integrationskursen zu tun hat.
Für die vielen Facetten dessen, was Heimatverlust bedeutet, was die Unsicherheit des Ankommens in einer fremden Welt heißt, wie der Bruch zwischen Vergangenheit und ungewisser Zukunft vonstatten geht, für diese Facetten findet und nutzt Lessmann in ihrem ersten Gedichtband verschiedene Formen: Mal in kürzester Verdichtung wie in „Mutter Sprache“, mal in fast balladenhafter Langform, mal lautmalerisch, mal direkt und mitten ins Mark.
Und mit Bildern, die sich einprägen. So ein Auszug aus dem anrührenden Gedicht „Wie man sein Haus verlässt“, das Fluchtzustände aus drei Ländern und drei Generationen zusammenführt:
ragen die Skelette der Häuser von Aleppo in grauen Himmel wo der Alp und die Zitronen fallen aschen in den Sand.
Agnieszka Lessmann wurde in Polen geboren und wuchs in Israel und Deutschland auf. Mehr Informationen zur Autorin finden sich unter www.agnieszkalessmann.de