Karen Gershon: Das Unterkind

Käthe Loewenthal gelangte 1938 noch mit einem der letzten Kindertransporte nach England. Dort wurde sie als Schriftstellerin Karen Gershon bekannt. Doch es dauerte Jahrzehnte, bis sie eine Form für die Erzählung ihrer Kindheit fand.

„Sie hatte ihren Koffer auf die Erde gestellt, damit sie die Hände frei hatte, um ihre Mutter zu umarmen – weil das von ihr erwartet wurde, nicht weil ihr danach zumute war. (…) Und als sie sich umsah, stand Lise noch bei ihrer Mutter, ihr fiel es schwerer als Käthe, sich von ihr zu trennen, und das machte Käthe deutlich, dass sie es verpasst hatte, genug Trennungsschmerz zu zeigen.“

Karen Gershon: “Das Unterkind”


Der Trennungsschmerz wird Käthe Loewenthal später mit voller Wucht treffen. Er wird sie ihr ganzes Leben lang begleiten. Käthe ist 15, als sie mit ihrer Schwester Lise mit einem der letzten Kindertransporte den Nationalsozialisten nach England entkommt. Auch ihrer älteren Schwester Anne wird die Flucht noch gelingen. Aber die Mädchen ahnen nicht, dass sie ihre Eltern Paul und Selma nie wiedersehen werden. Paul verstirbt vermutlich in Riga, Selma kommt wahrscheinlich im Konzentrationslager Auschwitz um.

Der Verlust der Familie, der Heimat, der plötzliche Abschied: All das trägt Käthe, die sich später Karen Gershon nennt, mit sich herum. Sie trägt, wie sie es auch in ihrer Autobiographie ausdrückt, an der Schuld der Überlebenden. Es prägt ihre Beziehungen, nicht zuletzt auch zur ein Jahr älteren Lise (Anne verstirbt früh in London an einer Krankheit):

„Jede lebte, als wäre sie die einzige Überlebende, beinahe als wäre die andere auch gestorben.“

Käthe Loewenthal, die bereits als Jugendliche mit Gedichten in der Jüdischen Rundschau ihr schriftstellerisches Talent beweist, wird später unter ihrem neuen Namen Karen Gershon mit einigen Lyrikbänden, Romanen und der 1966 erschienen kollektiven Autobiographie „Wir kamen als Kinder“ bekannt.

Erst nach Jahrzehnten kann sie über ihre Kindheit schreiben

Aber es wird Jahrzehnte dauern, bis sie in der Lage ist, die Geschichte ihrer eigenen Kindheit und Jugend bis zum Tag der Flucht im Jahr 1938 autobiographisch zu erzählen. Immer wieder arbeitet sie das Manuskript um, ringt mit der Form, mit dem Ausdruck. Sie entschließt sich, die Erinnerungen nicht in der Ich-Form zu verfassen, sondern eine (notwendige) Distanz zwischen sich und die Erzählerin zu bringen. Es ist Käthe, die von der wohlbehüteten Kindheit in einer zunächst gut situierten Familie erzählt, von der zunehmenden Ausgrenzung, der damit einhergehenden Armut und sozialen Isolation. Karen Gershon sagte dazu:

„Das ist eine Autobiografie, von mir so wahrheitsgetreu wie möglich erzählt.  Ich war nur nicht in der Lage, über mich selbst in der ersten Person zu schreiben. Käthe, das bin ich, so hieß ich in meiner Kindheit.“

„A lesser child“ erscheint 1992 im Rowohlt Verlag und erst ein Jahr nach ihrem Tod in einer englischsprachigen Ausgabe. Das lange vergriffene Buch wurde nun in der ursprünglichen Übersetzung von Sigrid Daub beim Lilienfeld Verlag wieder aufgelegt. Man muss dem Verlag dafür danken: Denn ähnlich wie Victor Klemperers Tagebücher lässt diese Autobiographie nachvollziehen, wie die Welt für die deutschen Jüdinnen und Juden ab 1933 täglich ein Stück enger und dunkler und die Luft zum Atmen stetig dünner wird. Und obwohl sich der Antisemitismus steigert und die jüdische Bevölkerung insbesondere nach dem Erlass der Rassengesetze offener Verfolgung ausgesetzt ist, glauben auch Käthe und viele ihrer Angehörigen noch nicht, dass eine Steigerung dieses Hasses möglich sei:

„Bis sie zwölf Jahre alt war, glaubte Käthe, das Unheil, das ihr widerfuhr, weil sie Jüdin war, würde innerhalb der Grenzen des Erträglichen bleiben.“

Als die älteste Schwester Anne mit dem Gedanken spielt, Zionistin zu werden, verwirft sie dieses wieder. Sie sei deutscher als der Österreicher Hitler, und lasse sich von den Nazis nicht nach Österreich vertreiben:

„Zu der Zeit glaubte niemand, dass die übrigen Deutschen den Nazis einfach erlauben würden, mit den Juden zu machen, was sie wollen.“

Es sind die Wechsel zwischen den Szenen einer „ganz normalen“ Kindheit und Jugend mit all ihren Freuden und Nöten – der Zusammenhalt und die Rivalität zwischen den drei Schwestern, den kindlichen Spielen, die Freude an Festen und Familientreffen, das Entdecken eigener Talente, das erste Verliebtsein – und den Eindrücken von einer immer bedrohlicher werdenden Außenwelt, die diese Erzählung so eindrucksvoll und bedrückend zugleich machen.

Ein wertvolles Zeitdokument

Der Erzählton ist spröde und verstärkt den Charakter eines Dokuments, das aus der Distanz einen nüchternen Blick auf die Vergangenheit wirft. Immer wieder ergänzt Karen Gershon kommentarlos Erzählungen von Verwandten und Freunden mit einem Satz zu deren späteren Schicksal, fügt nüchtern an, in welchem Konzentrationslager die jeweiligen Personen ermordet wurden oder wo sie verschwanden.

Aber auch ihre eigene Persönlichkeit und Entwicklung betrachtet sie aus der Position des Alters mit nüchterner Strenge:

„Ihre buschigen Augenbrauen waren eng zusammengezogen: ein Mädchen, das für seine Jahre zu alt war, dem das Talent zu leben fehlte und das sich selbst ernster nahm, als ihm guttat.“

Sie, die jüngste der drei Schwestern, fühlt sich schon vor ihrem zehnten Lebensjahr, als die Nazis an die Macht kamen, als „Unterkind“:

„(…) sie selbst hetzt sich ab, physisch, aber auch im übertragenen Sinn, um ihre Schwestern einzuholen. Die Tatsache, dass es ihr nie gelang, hat sie wohl zu der Überzeugung gebracht, ein Unterkind zu sein (…)“

Durch die Machtergreifung wird dieses Unterkind-Gefühl quasi verdoppelt, erlebt Käthe den Bruch von Freundschaften, weil Arier nicht mehr mit Juden verkehren dürfen oder auch wollen, die zunehmenden Verbote, den Ausschluss aus der evangelischen Schule. Auch im jüdischen Landschulheim Herrlingen – eine von drei Einrichtungen dieser Art, die von den Nationalsozialisten noch bis 1939 geduldet wurden – verliert Käthe, wo sie fernab der Familie noch einige Zeit Schulunterricht erhalten kann, dieses „Unterkind“-Gefühl nicht, misst sich mit anderen Schülern und fühlt sich unter Wert:

„(…) sondern auch weil Käthe das, was sie konnte, immer für weniger wichtig hielt als das, was sie nicht konnte.“

Die Reflektionen über diese Käthe mit ihren ganzen Eigenheiten aus der zeitlichen Distanz heraus machen dieses Buch auch zu einem besonderen Stück Literatur über das Heranwachsen eines Mädchens in bedrückenden Zeiten.

Zumindest erlebt Käthe durch den Aufenthalt in Herrlingen noch eine Gemeinschaft mit gleichaltrigen Jugendlichen, erhält sogar ein Zertifikat zur Einwanderung für Palästina, als die Reichspogromnacht auf einen Schlag hin die Situation für die deutschen Juden nochmals verschärft. Zu den bedrückendsten Szenen des Buches gehört es, wie Käthe diese Nacht und den darauffolgenden Tag in Bielefeld erlebt, wie die jüdische Gemeinschaft ängstlich zusammenrückt, wie man hinter verschlossenen Türen und Fenstern versucht, sich Halt zu geben.

Flucht nach der Reichspogromnacht

Nach dieser furchtbaren Nacht beschließen die Eltern, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Der Abschied von Kindheit und Jugend geht für Käthe und Lise rasend schnell. Das Buch schließt mit einem letzten Blick auf Bielefeld, ein Name, der für Karen Gershon ihr Leben lang für den großen Verlust, den sie erfahren musste, steht:

„Unmittelbar nachdem der Zug den Bahnhof verlassen hatte, kam rechts der jüdische Friedhof. Dann folgte links das Symbol Bielefelds, die Burg Sparrenberg, aber vorher noch auf der gleichen Seite die Puddingpulverfabrik von Oetker. Ihr Geruch, ein Geruch, der zu ihrer Kindheit gehörte, umgab sie, bis all die vertrauten Gegenden – Brackwede, der Wald, die Heide – hinter ihnen lagen.“


Bibliographische Angaben:

Karen Gershon
Das Unterkind
Übersetzt von Sigrid Daub
Lilienfeld Verlag, 2023
ISBN 978-3-940357-97-7

Karl Friedrich Borée: Dor und der September

Eine einfache Geschichte: Älterer Mann verliebt sich in jüngere Frau. Karl Friedrich Borée erzählte dies jedoch in einer Sprache, die einzigartig ist.

“Der Strand war schöpfungsmorgeneinsam.” Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

“Ich dachte an Dor, und ich dachte auch wieder nicht an sie. Sie ruhte so im Untergrunde. Es war schön, daß es sie gab, genau so, wie es schön ist, daß es noch tiefverschneite Wälder gibt und Leute, die einen mitnehmen. Es ist nicht unbedingt nötig, daß man darüber hinaus etwas begehrt.“

Karl Friedrich Borée, „Dor und der September”


Es gibt Bücher, die entwickeln eine ganz eigenartige Macht: Man liest sie, lebt mit den Figuren, die plötzlich, wie von einer Leinwand herunterzaubert, greifbar werden, fast schon dreidimensional. „Dor und der September“ wäre dann ein bittersüßer cineastischer Streifen in Sepiabrauch, durchsetzt mit keck aufblitzenden Farben, sobald Dor die Bühne betritt.

Als der Lilienfeld Verlag 2017 die Wiederentdeckung des Schriftstellers und Essayisten Karl Friedrich Borée (1886 – 1964)  mit dem Roman „Frühling 45 – Chronik einer Berliner Familie“ startete, zeigte sich das Feuilleton verblüfft und begeistert: So sehr war der schreibende Jurist, der mit 44 Jahren einen ersten Roman veröffentlichte, der sofort zum Bestseller wurde, vergessen worden.

Ein Solitär in der Literaturlandschaft

Dabei hatte Borée eine wichtige Rolle beim kulturellen Wiederaufbau nach 1945 inne. Er war unter anderem bis zu seinem Tode Generalsekretär der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Aber weit mehr als ein „Literaturfunktionär“, vielmehr ein Solitär in der literarischen Landschaft: Seine Sprache wirkt beinahe wie aus der Zeit gefallen, ist wunderbar altmodisch und funkelnd, mit ganz eigenen Wortschöpfungen, und doch sind einige seiner Bücher von überraschender Aktualität und überaus modern.

Vor allem aber ist es wirklich dieser einzigartige Ton, die Melodie, die sein Romandebüt „Dor und der September“, das 1930 erschien, zu etwas Besonderem macht.

„Der Strand war schöpfungsmorgeneinsam und dort, wohin wir uns verzogen hatten, übersichtlich wie Schnee. Das Meer eine lockende blaue Glasflut, klar bis an die Kimmung, die sich von einem blassen Messinggelb kräftig abhob.“

Erzählt wird eine im Grunde ganz einfache Liebesgeschichte, die ohne weltbewegende äußerliche Szenarien zurechtkommt, sondern ihre Spannung aus der Gegensätzlichkeit der beiden Liebenden bezieht. Er ist ein weltmüder, traumatisierter Kriegsteilnehmer, sie ist eine Medizinstudentin, 20 Jahre jünger, neugierig auf das Leben, auf die Welt.

Wunderschöne Liebesgeschichte

Wie die beiden sich annähern, für eine Weile finden, wohlwissend, dass diese Liebe ihre Grenzen haben wird, das ist in einer hochpoetischen und dabei doch so im Detail genauen Sprache geschildert. Borée, dessen Roman stark autobiographische Züge trägt, versenkt sich in die Psyche seines Ich-Erzählers, der all seine Gefühle wahrnimmt, ihnen nachhorcht, der all die Stufen einer sich entwickelnden Liebe – das sehnsuchtsvolle Warten auf ein Wiedersehen, die von einer Person besetzten Gedanken, die Erschütterung nach dem ersten Streit, die Überwältigung nach dem ersten Liebesakt – reflektiert.

Ein modernes Frauenbild

Zum Bestseller wurde der Roman jedoch vor allem wegen jener „Dor“: Eine junge Frau, schon noch an der Leine eines wahrscheinlich konservativen Elternhauses, die ihren Weg sucht, die sich während des Romangeschehens auch großes Stück von vorgegebenen Rollenbildern emanzipiert. Der ältere Mann ist ihr dabei, obwohl er auch sie oftmals als „Kindfrau“ und „Mädchen“ beschreibt, ein Wegbegleiter und ein Brückenbauer. Allein schon deshalb, weil sie sich auf diese aussichtslose Liebe im vollen Bewusstsein einlässt, kann sie sich in ihr weiterentwickeln: Dor setzt die Grenzen der Gemeinsamkeit, Dor setzt auch ganz selbstbewusst ihre Prioritäten.

Wegbegleiter ist ihr der Ich-Erzähler übrigens auch im wortwörtlichen Dinge: Das Paar teilt seine Leidenschaft für lange Wanderungen und Streifzüge durch die Natur, Szenen, in denen sich Borées wunderbare Sprache richtig entfalten kann:

„Jenseits der staubigen Straße dehnte sich weites frühlingsgeschmücktes Wiesenland bis an das blaue Laken des Sees. Am andern Ufer glänzte der Waldrand in einer verklärten Helligkeit. Es war ein vollkommener Feiertagsnachmittag. Die Fühlung des schönen Geschöpfes, die ungewohnte Vertraulichkeit, die aus solch freundlicher Besitzergreifung sprach, das wunderbare Wetter: ich konnte mich nicht entsinnen, jemals vergleichbar glücklich gewesen zu sein.“

Auch wenn es dem Erzähler gegenwärtig ist, dass diese Liebe nicht dauern kann, so schließt das Buch dennoch mit einer zart-melancholischen Abschiedsszene, die Hoffnung in sich birgt. Der Mann, der vom Krieg so traumatisiert und müde war, weiß das Leben wieder zu schätzen.


Informationen zum Buch:

Karl Friedrich Borée
„Dor und der September“
Lilienfeld Verlag 2019
22,00 Euro, gebunden mit Schutzumschlag, 280 Seiten
ISBN 978-3-328-940357-71-7

Franz Hessel: Heimliches Berlin

Eine kleine Geschichte, anmutig und charmant, leicht und schwebend erzählt, mit einer Mischung aus Berliner Schnauze und französischem Quivive.

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Bild von Lenalensen auf Pixabay

„Ich habe keine Zeit, das zu verstehen. Meine Erfahrung ist: Mangel im Alltäglichen, schäbige Kleider, unwürdige Trambahnfahrten, minderwertige Menüs, überhaupt die billigen Qualitäten schädigen meine unsterbliche Seele. Ich will möglichst mühelos von dem heiß servierten Reichtum von heute meinen Tribut haben. Und das will ich auch für Wendelin. In welcher Weise es geschieht, ist ganz gleichgültig, wie es heute gleichgültig ist, womit man handelt. Ein Junge wie Wendelin muss sein Reitpferd haben, ein hübsches pied-à-tierre, den besten Schneider. Und das alles so bequem wie möglich.“

Franz Hessel, „Heimliches Berlin“


Es ist ein ganz ungewöhnliches Stück Literatur für die Weimarer Republik, dieses „heimliche Berlin“: Inmitten all der expressionistischen Großstadt-Literatur, der Weltkriegs-Verarbeitungen und politisch-literarischen Auseinandersetzungen mit Inflation, Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, inmitten all der großartigen sozialrealistischen, pazifistischen oder auch experimentellen Romane wirkt dieses Buch wie ein Solitär, beinahe wie ein Gruß aus einer fernen Zeit, ein Herüberwinken vom Fin de Siècle.

Erstveröffentlichung war 1927

Franz Hessel veröffentlichte den kurzen Roman „Heimliches Berlin“ 1927. Natürlich spielt auch dieser kleine Liebesreigen vor dem ernsten Hintergrund der prekären wirtschaftlichen Situation in jener Zeit: Im Mittelpunkt ein Freundeskreis, die sich in Festivitäten und kleine Fluchten vor ihrer eigenen Halt- und Orientierungslosigkeit retten. Die Erzählung umfasst einen Zeitrahmen von 24 Stunden – zwei Nächte, ein Tag, die durch ärmlich kleine Pensionszimmer, verwohnte Wohnungen, verrauchte Bars und schummrige Salons führen. Wendelin, der verarmte Adelige, ein hübscher, wenn auch etwas oberflächlicher Jüngling, lässt sich kurz den Kopf von der Ehefrau eines älteren Freundes verdrehen – und am Ende stehen die beiden Männer da, nachts in Berlin, bei der Potsdamer Brücke und wissen:

„…wir beide, du und ich, spielen darin einigermaßen lächerliche Rollen.“

Eine kleine Geschichte, aber so anmutig und charmant, leicht und schwebend erzählt, mit einer Mischung aus Berliner Schnauze und französischem Quivive, dass sie sich allein schon aufgrund dieses besonderen Tons ins Lesegedächtnis gräbt. Kaum erschienen, lobte bereits 1927 Leo Greiner im Berliner Börsen-Courier diese kleine literarische Preziose:

„In Heimliches Berlin ragt ein Stück berlinischen neunzehnten Jahrhunderts in die mit ihrem Lärm und tausend gehäuften Primitivitäten erfüllte Gegenwart herein und verschmilzt mit ihr. Hessels schöne, wissende Menschendichtung ist in Romanform ein Stück heimlicher Geschichtsschreibung dieser Stadt. Ein nicht unwichtiger Teil ihres unbekannten Lebens ist bezaubernd darin aufbewahrt.“

Als eine „duftende Köstlichkeit aus appetitlichen Wörtern“ bezeichnet der Autor Manfred Flügge, ein Kenner des Werks von Vater und Sohn Hessel, diesen zauberhaften Roman. Ein wenig erinnerte mich dieses heimliche Berlin an den Wiener Reigen – wenn auch weniger aufgeladen, weniger dunkel denn Schnitzlers seinerzeit skandalträchtiges Drama.

Ein Flaneur und Wanderer zwischen den Welten

Flügge zieht – wie er selbst gesteht, aus Lust an diesem schwebenden Text – Rückschlüsse auf die Biographie des Autors: Eine faszinierende Persönlichkeit, ein Flaneur und Wanderer zwischen den Welten, Übersetzer von Proust und anderen französischen Schriftstellern, ein Flaneur und Bohemien, reales Vorbild für Jules, jenen Protagonisten der Dreiecksgeschichte aus dem gleichnamigen Roman und der Truffaut-Verfilmung und nicht zuletzt auch Vater von Stéphane Hessel. 1880 in Stettin geboren, in Berlin aufgewachsen, zog es ihn immer wieder nach Frankreich – endgültig dann 1938. Wie viele andere deutsche Exilanten auch, wurde er jedoch 1940 interniert und starb 1941 in Sanary-sur-Mer.

„Heimliches Berlin“: Eine wahre Trouvaille für mich, erschienen im Lilienfeld Verlag und wie alle Bücher aus der Reihe „Lilienfeldiana“ wunderschön aufgemacht.


Bibliographische Angaben:

Franz Hessel
Heimliches Berlin
Lilienfeld Verlag, 2017
ISBN 978-3-940357-23-6

Hella S. Haasse: Der schwarze See

Dieser kurze, aber intensive Roman von Hella S. Haasse erschien 1948: Er erzählt von einer Kinderfreundschaft in den niederländischen Kolonien, die an den kulturellen und sozialen Grenzen zerbricht.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Ich wollte nichts anderes, als einen Bericht über unsere gemeinsam verbrachte Jugend schreiben. Ich wollte das Bild dieser Jahre festhalten, die nun so spurlos vergangen sind, als wären sie nicht mehr gewesen als Rauch im Wind. Kebon Djati ist Erinnerung, auch das Internat und Lida; Abdullah und ich gehen schweigend aneinander vorüber, und Urug werde ich nie wiedersehen. Es ist überflüssig, einzugestehen, dass ich ihn nie verstanden habe. Ich kannte ihn, so wie ich den Telaga Hideung kannte – eine spiegelnde Oberfläche. Die Tiefe lotete ich nie aus. Ist es zu spät? Bin ich endgültig ein Fremder in dem Land, wo ich geboren bin, auf dem Boden, aus dem ich nicht umgepflanzt werden will? Die Zeit wird es lehren.“

Hella S. Haasse, „Der Schwarze See“


In der Reihe „Lilienfeldiana“ des Düsseldorfer Verlages gibt es immer wieder schöne, anspruchsvolle Entdeckungen zu machen. So der schmale Debütroman von Hella S. Haasse (1918 – 2011) der 1948 in den Niederlanden erschien. Die in den Niederlanden mit allen wichtigen Literaturpreisen ausgezeichnete Autorin schildert in ihrem Debüt eine Welt, die sie selbst aus eigener Erfahrung sehr gut kannte; wurde sie doch als Tochter eines Kolonialbeamten in Jakarta geboren und verbrachte ihre Kindheit und Jugend im stetigen Wechsel zwischen den Niederlanden und dessen Kolonien.

„Urug war mein Freund“: Mit diesen einfachen Worten beginnt der Roman, der die – deutlich einseitige – Freundschaft zweier Jungen irgendwo im heutigen Indonesien beschreibt. Der Sohn eines Niederländers schließt sich Urug, einem Jungen aus dem Dorf an: Er aus Einsamkeit (und Zuneigung), die Motive Urugs bleiben ungewiss. Die Erzählung setzt kurz vor dem Ersten Weltkrieg ein, Indonesien hat da bereits über drei Jahrhunderte Fremdherrschaft und Kolonialisierung hinter sich.

Die Geschichte der niederländischen Kolonien

Gregor Seferens, der unter anderem Harry Mulisch, Anna Enquist und Maarten `t Hart übersetzt, skizziert in seinem Nachwort die Geschichte der niederländischen Kolonien:

„Nach den Jahrhunderten der Ausbeutung empfanden sich die Niederlande nun mehr als Partner und Freunde, deren Aufgabe es war, den Eingeborenen dabei zu helfen, auf eine höhere zivilisatorische, westlich geprägte Ebene zu gelangen, und sie dazu zu befähigen, möglicherweise irgendwann sogar einmal unabhängig zu werden. Doch während sich die Weißen mit ihrem nun durch Humanität kaschierten Überlegenheitsgefühl auf der richtigen Seite wähnten, wuchs bei der indigenen Bevölkerung das Bewusstsein für das Unrecht, das sie auch in der Gegenwart noch erdulden musste. In der Aussage „Urug war mein Freund“ steckt die ganze Asymmetrie des Verhältnisses zwischen den Kolonisatoren und der eingeborenen Bevölkerung.“

Denn, wie der namenslose Erzähler am Ende erkennen muss: Es hieß nicht „Urug und ich waren Freunde“. Ganz ruhig, ganz zurückgenommen, bis auf die eindrücklichen Naturschilderungen, erzählt Hella S. Haasse wie die beiden Jungen zwar noch eine gemeinsame Schulausbildung genießen, sich dann jedoch Stück für Stück voneinander entfernen. Der Einbruch des Zweiten Weltkrieges vollendet, was schon am Zerbrechen war. Als der Ich-Erzähler in das von den Japanern zerstörte Land zurückkehrt, begegnen sich die beiden jungen Männer nur noch einmal in einer angespannten, feindlichen Situation: Urug, als Mitglied einer militanten Befreiungsbewegung, kann in dem Freund seiner Kindheit nur noch einen natürlichen Feind sehen.

Ein kleiner, schmaler Roman mit großen Nachwirkungen.


Informationen zum Buch:

Hella S. Haasse
Der schwarze See
Übersetzt von Gregor Seferens
Lilienfeld Verlag
ISBN 978-3-940357-57-1

Ich möchte auch noch auf die liebevolle Gestaltung der Reihe „Lilienfeldiana“ aufmerksam machen: Jedes Buch erscheint in Fadenheftung, mit Leineneinband und Lesebändchen, die Titel werden in Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Künstlern gestaltet. Für „Der schwarze See“ wurde das Bild „Flora“ von Anke Berßelis verwendet. Homepage der Künstlerin: www.bersselis.de