ANETTE L. DRESSLER: Brockesstraße Beletage

Ein Debütroman in der Stroux edition: “Brockesstraße Beletage” erzählt die Geschichte zweier Frauen, die kurz nach Kriegsende eine Zweckgemeinschaft eingehen müssen.

Die altansässige Lübeckerin Alma Curtz muss im Jahr 1947 zwangsweise die aus Masuren geflüchtete Frieda Markuweit in ihre Wohnung in der Brockesstraße aufnehmen. Beide Frauen sind Kriegerwitwen, sonst gibt es aber keine Übereinstimmung. Alma träumt davon, ihren Kurzwarenladen wieder eröffnen zu können und endlich wieder einmal tanzen zu dürfen. Frieda sehnt sich zurück nach der verlorenen Idylle ihres Beamtenhaushaltes. Der Roman schildert die auseinanderklaffenden Lebenswelten dieser beiden Frauen vor dem Hintergrund von Gaunereien, Schwarzhandel, Tanzwut, Swing, vom Hunger nach Leben und Liebe.

Die Autorin:
Anette L. Dressler wuchs mit ihrer Schwester in Lübeck und am Ostseestrand auf. Sie studierte in Berlin Französisch und Englisch und unterrichtete die Fächer als Lehrerin und Dozentin. Sie lebt mit ihrem Mann in Berlin und Lübeck und schreibt Kurzrezensionen für ein Kulturportal.
Die Spurensuche nach der Herkunft und dem Ankommen ihrer Familie in Schleswig-Holstein nach Ende des Zweiten Weltkrieges inspirierte sie zu ihrem Debütroman „Brockesstraße Beletage“.

Informationen zum Buch:
ANETTE L. DRESSLER
Brockesstraße Beletage
in Lübeck St. Lorenz Nord
STROUX edition, München
328 Seiten, Hardcover
€ 24,00 [D]
ISBN 978-3-948065-28-7
https://stroux-edition.de/

Leser*innenstimmen zum Buch:

“Was der 300-Seiten-Roman auf jeden Fall leistet, ist ein sehr nahbarer Einblick in das Nachkriegsdeutschland in Bezug auf Alltäglichkeiten: Ein Mocca faux, hier des Öfteren Mukkefukk bezeichnet, hinterlässt ein Lächeln. Man erfreut sich über das Wissen um Nylonstrümpfe, Lebensmittelbeschaffung, Flohbeseitigung oder Ausgehmöglichkeiten der damaligen Zeit in Lübeck. Sehr sanft und verhalten wird die Annäherung zwischen den beiden Frauen erzählt und doch bietet sich ein Exempel für die Migration der Gegenwart – Fremdes wird irgendwann zu Vertrautem.” – katkaesk

“Anette L. Dressler ist in Lübeck aufgewachsen. Ihr erster Roman „Brockesstraße Beletage“ ist nicht nur eine Hommage an ihre hanseatische Heimatstadt, sondern vor allem auch ein zeitgeschichtlich hochinteressantes Porträt der Nachkriegszeit des Jahres 1947, das zwei starke Frauen mit bemerkenswertem Schicksal in den Mittelpunkt stellt.” – Kulturbowle

Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag

Gabriele Tergit: Der erste Zug nach Berlin

„Der erste Zug nach Berlin“ ist eine literarische Überraschungstüte und eindrucksvolles Zeitzeugnis zugleich: Knallbunt und doch auch düster, tragisch und komisch zugleich, wie von leichter Hand geschrieben und doch voll tiefem Ernst.

„Anfang Mai verabschiedete ich mich von der ganzen Bande und wir gingen noch mal ins Twenty-One. Ich ging in meinem großen Abendkleid von Chanel zum Aerodrom mit einem Pfauenfächer, das Neueste aus Paris.“

Gabriele Tergit, „Der erste Zug nach Berlin“, Schöffling & Co, 2023

Voilà, hier haben wir sie: Die 19-jährige Maud, eine nicht dumme, aber zunächst reichlich naiv daher plaudernde Angehörige des amerikanischen Geldadels. Mehr durch Zufall ­– und auch, weil sie vor der Heirat mit dem Sohn vom Governor Perry noch eine kleine Sause erleben will – wird sie Mitglied einer amerikanischen Mission ins Nachkriegsdeutschland. Der Verlobte sieht das kritisch:

„Er sagte, ich sei eine Närrin, nach dem wilden Europa zu gehen, wenn ich in dem schönen New York mit seinem sanften Klima und noch sanfteren Sitten bleiben könnte. Dass ein Mensch aus Vergnügen nach Europa ginge, habe er überhaupt noch nicht gehört.“

In der Tat betrachtet Maud die Reise, die die Gruppe nach London und dann in das zerbombte Deutschland und in den Osten führt, zunächst wie einen abenteuerlichen Jux. Sie ist Zeugin zahlreicher erregter politischer Diskussionen, die sie kaum nachvollziehen kann – ein handwerklicher Kunstgriff, der den Lesern auch heute noch die Augen öffnet für das Klima, in dem die Nachkriegspolitik der Besatzungsmächte stattfand. Die Erfahrung des Krieges als Nährboden für überbordenden Patriotismus und kapitalistische Gier: Im Preisausschreiben einer englischen Zeitung wird dazu aufgerufen, „alle Dinge aufzuschreiben, die wir aus dem Empire bekommen können oder auf die wir verzichten können und die noch immer woanders gekauft werden“. Der Brexit lässt grüßen.

„Der erste Zug nach Berlin“ ist ein schmaler Roman Gabriele Tergits, den die jüdische Schriftstellerin unter dem Eindruck ihrer eigenen ersten Berlin-Reisen 1948 und 1949 schrieb. Man kann davon ausgehen, dass die Autorin, die sich vor ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland auch als Journalistin beim Berliner Tageblatt und Gerichtsreporterin einen Namen gemacht hatte, die Verhältnisse in Deutschland weitaus scharfsinniger und klüger kommentierte als ihre Kunstfigur Maud. Doch gerade deren Blauäugigkeit ist ein genialer Kunstgriff Tergits, der es dadurch gelingt, die Grausamkeiten, Härten und Absurditäten dieser Zeit aus einer quasi neutralen Position zu schildern – nicht nur die Kriegsgewinnler und Kollaborateure erhalten so einen Auftritt, sondern auch die Interessensvertreter aus den Besatzungsmächten, die zum Teil durchaus auch Sympathien für den Antisemitismus des Hitlerstaates hegten. So bekommt in diesem schmalen Buch, das nun erstmals nach dem Original-Typoskript erschien (zu Lebzeiten von Gabriele Tergit blieb es unveröffentlicht), jeder sein Fett ab.

In ihrem Nachwort betont Herausgeberin Nicole Henneberg, die sich um die Wiederentdeckung Gabriele Tergits verdient gemacht hat, zur Erzählerin Maud:

„Aber Maud ist nicht nur naiv, sondern auch abenteuerlustig und fest entschlossen, ihre Augen weit aufzureißen und alles mitzumachen, auch wenn sie die Verhältnisse um sie herum nicht versteht und die Gespräche noch viel weniger.“

Sie werde so zu einer „Kamera mit weit geöffneter Blende“.  Ein idealer Ausgangspunkt, meint Henneberg, „um alles ohne Unterschied aufzunehmen und zu schildern (…), ohne zu werten oder zu zensieren. Was so entsteht, ist eine Szenenfolge, die auf dem schmalen Grat zwischen Satire und Tragik balanciert (…).“

Maud ist zwar Ohrenzeugin – „Ich hörte gespannt zu und dachte, wie schön es ist, etwas zu lernen“ – aber stürzt sich in ihrer Blauäugigkeit erst einmal von einer Verliebtheit in die andere, bis sie in den Armen eines Deutschen landet, dessen exzellente Manieren und selbstsicheres Auftreten Eindruck hinterlassen. Erst spät erkennt sie, dass dieser Herbert Stegen, der sich als Journalist bei den Engländern andient, einst ganz eng mit Goebbels war: Nur einer von mehreren Mittätern und Mitläufern in diesem Roman, die zeigen, wie nahtlos es für viele Hitler-Anhänger auch nach dem verlorenen Krieg weiterging. Überhaupt trifft Maud auf zahlreiche Deutsche, die der Nazi-Ideologie ungebrochen anhängen, so auf ein Zimmermädchen, „sie war sehr groß, hatte blonde Zöpfe um den Kopf“, das sich weigert, „den Feinden den Koffer auszupacken“. Die anschließende Diskussion mit den englischen Reisemitgliedern zeigt die Schizophrenie jener Zeit:

Miss Battle-Abbey sagte: „Jeder kann sich ein Beispiel daran nehmen. Hitler hat wirklich den Selbstrespekt des deutschen Volkes wieder hergestellt.“

Für das langsame Erwachen und den Erkenntnisgewinn Mauds sorgen letztlich nicht nur ihre eigenen Erlebnisse, sondern vor allem der Kontakt zum amerikanischen Journalisten Merton, der ihr „das andere Deutschland“ zeigt. Eine Schlüsselszene dieses trotz seines leichten Grundtons, der mitunter auch an die Romane Irmgard Keuns erinnert, düsteren Romans ist der Besuch der beiden bei dem deutschen Journalisten Reinhold, der von den Nazis gefoltert und im KZ gequält vor den Augen der Amerikaner an Auszehrung stirbt. Die Suche durch „Schutt und Asche“ nach einem Arzt wird für Maud wie zu einem Abstieg in die Hölle, insbesondere beim Blick ins ärztliche Wartezimmer:

„Es saßen da Tod und Teufel, Krankheit und Hunger, eine alte Frau, fett und gierig und neidisch, und ein junger Mann, er hielt eine Uhr in der Hand und grinste, ein Geschöpf war da voll von Bandagen mit Auswuchs und ein kleines Kind mit einem aufgeblähten Bauch. Ich stand im Zimmer und ich wusste, Krankheit, Tod und Teufel und Hunger würden mich holen, wenn ich nicht aufhörte zu denken und mitzuleiden und zu wollen, wenn ich nicht so rasch wie möglich aus Europa floh.“

Die ganze Erschütterung, die auch Gabriele Tergit bei ihren beiden Berlin-Reisen Ende der 1940er-Jahre erfahren haben muss, werden hier spürbar. Und wie Maud zog es Tergit, die an „ihrem“ Berlin hing, nie mehr zurück, sie blieb in London, das ihr zur neuen Heimat geworden war und wo sie 1982 starb. Maud, das Mädchen im Chanelkleid und mit dem Pfauenfächer, kehrt nach drei Monaten um einiges klüger und reifer geworden, in die Vereinigten Staaten zurück, heiratet ihren Clark Perry und lebt im „modernsten Flat in New York“. Merton, jene Romanfigur, die die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge am klarsten durchschaute und kommentierte, sieht sie nur noch einmal, als „lay preacher“, etwas verkommen aussehend, an einer Ecke stehen:

„Nur drei Leute hörten ihm zu: der eine war bucklig, der andre war blind, der dritte war lahm.“

„Der erste Zug nach Berlin“ ist eine literarische Überraschungstüte und eindrucksvolles Zeitzeugnis zugleich: Knallbunt und doch auch düster, tragisch und komisch zugleich, wie von leichter Hand geschrieben und doch voll tiefem Ernst.

Eine ausführliche und kenntnisreiche Besprechung von Fabian Wolff erschien in der Süddeutschen Zeitung.

Der Roman erschien im Schöffling Verlag, der mir für diese Besprechung ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte.

Das letzte Wort soll Merton gehören:

„Dieses Spiel spielt die Menschheit seit einigen tausend Jahren“, sagte Merton. „Ich bin der Letzte, der findet, dass es auf ein paar Hundert Quadratmeilen ankommt. Aber solange das der Maßstab für Ehre ist, solange alle nationale Leidenschaft sich auf ein paar Quadratmeilen Land irgendwo erstrecken kann, soll man sehr vorsichtig mit territorialen Änderungen sein, die nächste Generation muss immer dafür sterben. Wir alle leben in einer Welt.“

Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts

„Die Insel des zweiten Gesichts“ von Albert Vigoleis Thelen: Wenn ich vor die Wahl gestellt würde, welches Buch ich auf einen Inselaufenthalt mitnehmen dürfte, dann wäre es ohne Zweifel dieses.

„Wenn ein Deutscher sich an einer historischen Stätte niederläßt, schöpft er tief Atem, krempelt die Hemdärmel hoch, falls er nicht schon hemdärmelig die Stätte betreten hat, zückt seine Bleifeder und schreibt eine Ansichtskarte. Das ist schon so, seit es auf der Welt Deutsche und Ansichtskarten gibt, zwei Schöpfungen, die sich ergänzen.“

Albert Vigoleis Thelen, „Die Insel des zweiten Gesichts“.

Mal abgesehen davon, dass es heute eher Selfies und Whatsapp-Fotos sind, die verschickt werden: Manche Dinge ändern sich nie. Und so pilgern wie in den 1930er-Jahren, als sich der in Süchteln am Niederrhein geborene Schriftsteller Albert Thelen (den Vigoleis eignet er sich als Pseudonym und Alter Ego im Laufe seines abenteuerlichen Lebens später an, in Anlehnung an das mittelalterliche Versepos Wigalois des Wirnt von Grafenberg) auf Mallorca zeitweise auch als Reiseführer durchschlug, auch heute noch Scharen von Touristen nach Valldemossa, um dort ihr Mallorca-Bildungsprogramm zu absolvieren. Die Besichtigung der Klause, wo George Sand mit Frédéric Chopin einen Winter lang fröstelte und das unverheiratete Paar unter der Ablehnung der erzkatholischen Mallorquiner litt, gehört zum literarischen Bildungsprogramm eines Aufenthalts auf der Balearen-Insel. Wenn auch die wenigsten von ihnen „Un Hiver à Majorque“ gelesen haben dürften. Und unter uns: Es lohnt das Lesen nicht. Sowieso nicht im Vergleich zur Insel des zweiten Gesichts, dem eigentlichen Mallorca-Buch, „das größte Buch dieses Jahrhunderts“, wie Maarten ‘t Hart, ein Thelen-Aficionado, bekannte. Wer des Holländischen mächtig ist, lausche und schaue hier.

In Gefahr, ob der Begeisterung über diesen barocken Brocken von Buch in den „Kaktusstil“ seines Verfassers zu verfallen (dazu später noch eine Anmerkung), zurück zum Vergleich George Sand und Albert „Don Vigo“ Thelen: Es ist jedenfalls eine schreiende Ungerechtigkeit der Literatur, dass die kalte Kartause in jedem Reiseführer zu finden ist, aber kaum einer an die Calle del General Barceló No. 23 erinnert. Oder gar an den „Turm der Uhr“, ein Horst für eine kriminelle Schmugglerbande und Bordell zugleich – gut, diesen zu verorten, dürfte auch schwierig sein, schrieb Thelen doch später selbst darüber: „der Witz ist nur der, daß ich selbst tarnend hatte schreiben müssen, und ich verschleierte die katasteramtliche Örtlichkeit, denn schließlich deckte ich Dinge auf, mit denen sich Behörden auch nach Jahren noch beschäftigen können…. So griff ich zum Schleier der Maja in einem Buch, das von der Wahrheit lebt und worin alles der Wirklichkeit nachgebildet ist…” (AV Thelen: Brief an die Redaktion, MERIAN Mallorca, Heft 3 März 1960).
Quelle: http://www.vigoleis.de/content/insel/0/67.htm

Doch hier kommen Don Vigo und seine Herzensdame Beatrice zeitweilig unter, als sie völlig abgebrannt und ohne einen Peso sind, freilich ohne sich an den Machenschaften im Turm zu beteiligen. Als sie sich mit Gelegenheitsarbeiten – sie als Sprachlehrerin, er als Reiseführer und Sekretär für andere prominente Mallorca-Exilanten, darunter Harry Graf Kessler und Hermann Graf Keyserling – etwas besser durchschlagen, wenn auch nach wie vor kaum für täglich Brot, geschweige denn einen zweiten Tisch oder Stuhl sorgen können, folgt der Umzug in die Straße des Generals. Doch zurück zum Anfang: Wie gelangen Albert Vigoleis und Beatrice (die über dies ungleich länger als George und Frédéric miteinander verbunden blieben, nämlich bis zum Rest ihres langen Lebens) überhaupt auf diese Insel?

Das Buch in nüchternen Worten beschrieben: 1931 erreicht Beatrice, die ihren Albert Vigoleis in Köln kennengelernt hatte, ein Telegramm ihres Bruders. „Liege im Sterben, Zwingli“, schreibt der Luftikus, der als Hotelmanager auf Mallorca tätig ist. Das damals noch unverheiratete Paar eilt stante pede zur Hilfe – um den Bruder zwar etwas mitgenommen, aber durchaus leibhaftig anzutreffen. Seine lebensbedrohliche Erkrankung ist die Liebe zur Hure Pilar, die ihn nicht nur nach Strich und Faden ausnimmt, sondern regelmäßig auch mit fliegendem Geschirr, Mobiliar und einem Messer bedroht. Zwar gelingt es Beatrice, den Bruder aus den Klauen Pilars zu befreien und alle Schulden zu begleichen, aber der Preis ist heiß und hoch: Danach sitzen Beatrice und ihr Don Vigo auf dem Trockenen, nicht einmal mehr Geld zur Rückreise bleibt. Aus dem geplanten Besuch wird ein Daueraufenthalt, der bis 1936 währt. Auch deshalb, weil die Machtergreifung der Nationalsozialisten alles in der ehemaligen Heimat verändert: Albert Vigoleis Thelen macht aus seiner Abscheu keinen Hehl, bricht mit seiner katholischen Familie am Niederrhein, die sich bereitwillig anschließen lässt und mit seinen Wurzeln. Als der Spanische Bürgerkrieg beginnt, muss sich das Paar unter abenteuerlichen Umständen dem Zugriff der Faschisten entziehen, ihre Flucht führt sie durch halb Europa bis nach Portugal, wo Thelen als Gutsverwalter und Übersetzer des von ihm hoch geschätzten Mystikers und Dichters Texeira de Pascoaes überlebt.

„Die Insel des zweiten Gesichts“ umspannt diesen Mallorca-Aufenthalt, endet, finis operis, 1936:
„Die Natur sorgte für einen letzten Effekt, der bei allem Gleisen doch nicht zu theatralisch genommen sein will. Wieder heulten die Sirenen auf, und im selben Augenblick schloß sich die Wolke. Wer hatte sie fallen sehen? Ein weißlicher Schein umhüllte uns, starr war die Planke, lautlos die Welt. Unsichtbar über uns blaute der glühende Meertag, und unten wallte die Nacht, die das Ziel verhüllt.
Das Ziel hieß: Freiheit.“

Die Kurzzusammenfassung erfasst nicht einmal annähernd, was dieses fast 1000-seitige Werk an Leben und Literatur in sich birgt. „Thelen brennt ein Sprachfeuerwerk ab, das in der Literaturgeschichte seinesgleichen sucht. Mit Hilfe eines Wortschatzes, der der umfangreichste in der gesamten deutschen Literatur sein dürfte“, schreibt der Thelen-Kenner und Germanist Jürgen Pütz. Inzwischen dürfte es mehr literatur- und sprachwissenschaftliche Arbeiten über die Verwendung neuer Wortschöpfungen, Wiederbelebung altdeutscher Worte und dem artistischen Umgang damit bei Thelen geben, als aktive Leser seines Werks. Was jammerschade wäre. Jürgen Pütz nennt in seinem Nachwort zur Ausgabe im Claasen Verlag einige Beispiele:

„Alleine für Zwinglis Freundin Pilar hält Thelen zahlreiche Synonyme bereit: Schlunte, Zaupe, Zauche, Lunze, Schindkracke, Bettunzel, Schöke, Hehre, Strunze.“

Wer so mit Wörtern umzugehen vermag, der braucht Raum. Doch nicht nur dieses führt dazu, dass „Die Insel des zweiten Gesichts“ zum ausufernden Leseerlebnis wird, von dem man sich wünscht, es möge nicht so schnell enden (was es in der Tat auch nicht tut – es ist eines dieser Bücher, die man immer wieder lesen kann und dabei immer wieder Neues entdecken wird). Es ist auch dieser mäandernde, digressive Erzählstil, den Thelen pflegt, der zum Volumen beiträgt. Immer wieder schießt er bei seinen Anekdoten vom Inselleben vor und zurück, führt uns in die Welt seiner niederrheinischen Familie oder auf das portugiesische Gut, integriert kunstvoll Abschweifungen und Ablenkungen von der eigentlichen Inselerzählung. Thelen selbst nennt das „Kaktusstil“:

„(…) es bilden sich Ableger, ins Wilde hinein, wie beim Kaktus, der gerade da Augen setzt, wo man sie nicht erwartet.“

Es braucht fast zwanzig Jahre, bis Albert Vigoleis Thelen, der bis dahin nur einen Gedichtband veröffentlichen konnte, die Mallorquiner Ereignisse in diese Mischung aus Autobiographie und romanhafter Erzählung goss. Ein Beispiel autofiktionaler Literatur, die heute wieder so en vogue ist – doch an Thelen reicht keiner heran, so funkensprühend, lebensprall, ausufernd, exorbitant ist dieses Buch. Ein Solitär, aber leider auch ein „One-Hit-Wonder“: Wiewohl die 1953 zugleich in den Niederlanden und Deutschland erschienene „Insel“ ein Jahr später mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet wurde, obgleich Thomas Mann, Paul Celan und Siegfried Lenz das Buch über die Maßen lobten, der große Erfolg blieb Thelen versagt. Mit ausschlaggebend dafür war, dass das Buch nicht in den Zeitgeist der Nachkriegs-Autoren passte, wie auch Agnes Steinbauer in einem Beitrag für den Deutschlandfunk hervorhob:

„Sein ausladend-verästelter Erzählstil, den er selbstironisch Kaktusstil nannte, passte nicht ins literarische Profil der frühen Nachkriegsjahre. Bei einer Lesung 1954 in Bebenhausen kam es zu einem Eklat, den Thelen nie verwand. Noch Jahrzehnte später erinnerte er sich: „Ich wurde von Hans Werner Richter sehr unfreundlich empfangen, ja ich darf es wohl sagen und ich muss es ja auch schließlich sagen, denn es entspricht der Tatsache und der Wahrheit: es war ungezogen.“ Richter – Vorsitzender der Gruppe 47 – hatte sich mit sarkastischen Bemerkungen über Thelens altertümelndes „Emigrantendeutsch“ mokiert.“

Oder, wie Jürgen Pütz es formuliert: „Regentropfen hätten sie toleriert, aber es kam ein Wolkenbruch.“

Diesem Wolkenbruch sind einige der schönsten, komischsten, tragischkomischen und gescheiterten Figuren zu verdanken, die man sich in der deutschsprachigen Literatur erlesen kann: Angefangen vom Autor selbst, der in mir das Bild eines melancholischen und zugleich witzigen Pierrots hervorruft, der vor Fantasie und Sehnsucht sprüht. Saludos a Don Vigo! Aber daneben auch die Beatrice mit ihren Inka-Wurzeln, der frustrierte ehemalige Kampfflieger Martenstein, der an einem Roman schreibt, in dem er eine Affenarmee aufmarschieren lässt, die anarchistischen Uruguayer, die regelmäßig mit ihren selbstgebastelten Bomben scheitern, die angebliche amerikanische Backpulver-Millionärin, von der sich Don Vigo adoptieren lassen will und der pornosüchtige jüdische Exilant Silberstein, um nur einige zu nennen: Was für ein köstliches Welttheater sich da entfaltet!

„Die Insel des zweiten Gesichts“: Wenn ich vor die Wahl gestellt würde, welches Buch ich auf einen Inselaufenthalt mitnehmen dürfte, dann wäre es ohne Zweifel dieses.

William Faulkner: Als ich im Sterben lag

William Faulkners Roman „Als ich im Sterben lag“ erschien 1930 und war, nach „Schall und Wahn“ das Buch, das seinen Weltruhm als außergewöhnlicher Stilist begründete. Eine Tour de Force, nicht nur für die Protagonisten, sondern auch ein Parforceritt für den Schriftsteller selbst.

Bild von Tünde auf Pixabay

„Aber ich mach ihr keinen Vorwurf.“

Dieser eine Satz, den der alte Farmer immer wieder wie ein Mantra wiederholt, enthüllt die ganze Absurdität der Situation: Denn Addie, die ursächlich ist für diese tragisch-komische Odyssee, auf die sich ihre Familie begibt, liegt da längst schon tot im Sarg und ist völlig unempfänglich für Vorwürfe. Sie, die Mutter von fünf Kindern, hatte ihrem Mann Anse das Versprechen abgenommen, nicht in Yoknapatawpha County unter die Erde zu kommen, sondern in der weit entfernt liegenden Kleinstadt Jefferson, aus der sie ursprünglich stammte. Ein deutliches Statement: Im Tod wollte sie sich nicht mehr gemein machen mit dem spindeldürren, buckligen, zahnlosen Farmer, den sie da gefühlt weit unter ihrem Stand geheiratet hatte.

Leichenzug mit Hindernissen

Noch unter den Augen der Sterbenden zimmert ihr Sohn Cash also einen Sarg und werden die Reisevorbereitungen getroffen. Doch vorher müssen, trotz aller Warnungen vor einem aufkommenden Unwetter, noch einige Handvoll Dollar verdient werden – also schickt Anse zwei seiner Söhne noch auf eine letzte Fuhr vor der Abfahrt. Weil sich dadurch alles verzögert, stößt der Leichenzug auf die zu erwartenden Hindernisse: Der Fluss läuft über, die Brücken brechen und beim Versuch, das reißende Wasser zu überqueren, gehen Fuhrwerk und Sarg beinahe verloren.

Als die Familien dann letzten Endes trotz aller Widernisse in Jefferson anlangt, während bereits die Bussarde über der Truppe streifen, angezogen vom Verwesungsgeruch, haben beinahe alle etwas verloren: Der älteste Sohn Cash sein Bein, Darl seinen Verstand, Jewel sein mühsam erspartes Pferd, Dewey Dell das Geld für eine Abtreibung und der Jüngste die Unschuld seines kindlichen Denkens. Nur Anse erlebt ein Happy End oder, wie Eberhard Falcke es in seiner Rezension für den Deutschlandfunk formuliert, „die haarsträubend mickrige Parodie eines Happy Ends“. Mit dem Geld seiner Kinder leistet er sich endlich ein neues Gebiss und präsentiert en passant gleich eine neue Mrs. Bundren.

Das Buch begründete Faulkners Weltruhm

William Faulkners Roman „Als ich im Sterben lag“ erschien 1930 und war, nach „Schall und Wahn“ das Buch, das seinen Weltruhm als außergewöhnlicher Stilist begründete. Eine Tour de Force, nicht nur für die Protagonisten, die mit unvergleichlicher Zähigkeit an ihrem Vorhaben festhalten (ein ums andere Mal kommt beim Lesen der ketzerische Gedanke auf, warum man Addie nicht einfach an Ort und Stelle begräbt).

Sondern auch ein Parforceritt für den Schriftsteller selbst, wie Eberhard Falcke in seiner Rezension ausführt:
„Tatsächlich war es eine Tour de Force im doppelten Sinn, auf die sich Faulkner hier eingelassen hatte. Er schrieb das Buch, wie er behauptete, in nur sechs Wochen, des Nachts, während er das Heizwerk der Universität beaufsichtigte. Zugleich aber handelt der Roman buchstäblich von einer verrückten Gewalttour, von einem schicksalsprallen Abenteuer, von einer Odyssee, deren Personal allerdings nicht aus griechischen Helden, sondern aus ärmlichen amerikanischen Südstaatenfarmern besteht.“

Geschichten über die weiße Unterschicht

Faulkner hatte bereits mit „Schall und Wahn“ seinen literarischen Kosmos gefunden, sein Sujet, die armen, rückständigen Farmer und Leute aus dem amerikanischen Süden, meist gottesfürchtig, wenn nicht gar fundamental christlich, immer aber auch psychisch oder physisch gewalttätig, archaisch im eigentlichen Sinne. „White trash“ würde man sie heute nennen, die Bundrens, zu denen man, je weiter die Reise vorangeht, ein in sich widersprüchliches Verhältnis entwickelt, das sich aus Unglauben, Mitleid, Empathie und Abstoßung zusammensetzt. Eben wie im echten Leben.

Nebst der Wahl dieser ungewöhnlichen Protagonisten, wahrer Antihelden, war die eigentliche Sensation des Romans bei seinem Erscheinen seine formale Konzeption: Multiperspektivisch, es kommen Dutzende von Stimmen zu Wort, selbst die Addies, zusammengesetzt aus inneren Monologen, die insbesondere im Falle des jüngsten Sohns, des Kindes Vardaman, verdeutlichen, was „Bewusstseinsstrom“ bedeutet. Faulkner war einer der ersten Autoren, der diese Technik, ja, vielmehr Kunstgriff, anwandte. Und so ist „Als ich im Sterben lag“ auch ein faszinierendes Puzzle, das nach und nach die Geheimnisse seiner einzelnen Figuren enthüllt, ein Bild ergibt, das dennoch niemals alles enthüllt – die letzte Deutung bleibt den Lesern überlassen.


Informationen zum Buch:

William Faulkner
Als ich im Sterben lag
Neuübersetzung durch Maria Carlsson
Rowohlt Verlag, 2012
ISBN: 978-3-498-02133-7

Ein Gastbeitrag von Theo Breuer zu “Was wir scheinen” von Hildegard E. Keller und seiner Literatour 2022

Der Schriftsteller Theo Breuer ging 2022 auf eine umfassende Literatour, die zunächst in der Literaturzeitschrift Matrix veröffentlicht wurde. Wie er selbst zu den 88 Büchern sagt, die darin besprochen werden, galt das Hauptaugenmerk dabei der Sprache: »Ohne den Schall der Sprache geht gar nichts«.

Seit einiger Zeit freue ich mich über einen regelmäßigen Austausch mit dem Schriftsteller Theo Breuer, der im Zuge meiner Pressearbeit für Literaturverlage entstand. Schon früh in diesem Jahr informierte mich Theo Breuer über sein Vorhaben, sein erstaunliches jährliches Lesepensum als Essayzyklus 2022 in der Literaturzeitschrift Matrix zu veröffentlichen und gab mir, mit der Bitte um Einschätzung, die Texte zu lesen. Auch hier nochmals vielen Dank für dieses wunderbare Vertrauen und dass ich diese Literatour begleiten durfte. Ich war von der Idee, die Lektüren mit dem eigenen Alltag zu verknüpfen und dadurch ein Lesetagebuch zu erschaffen, begeistert, ebenso wie von der poetischen Sprache, die den Lyriker durchklingen lässt.
Im Dialog entstand die Idee, diesem Zyklus nach der Veröffentlichung in Matrix noch ein weiteres Forum zu geben. Neben einem Newsletter, den Theo Breuer nun in der Adventszeit verschickt, stellte er mir seinen Text zum Download auf meinem Blog zur Verfügung. Sein Wunsch war es, seine Gedanken zu “Was wir scheinen” von Hildegard E. Keller als Beispiel zu veröffentlichen, die gesamte Lesereise findet sich zum Download hier:


Ein Gastbeitrag von Theo Breuer

Ich betrachte das Buch Was wir scheinen, blicke der Frau in die Augen, lese Titel, Untertitel : Hannah Arendt ∙ Poetische Denkerin, mache mir Gedanken über die Wörter ›lyrisch‹ / ›poetisch‹, ›Lyrik‹ / ›Poesie‹, auch im Zusammenhang mit essayistischem Schreiben, das mich, zum Beispiel, das Mäandern gelehrt hat, das auch für Harald Gröhler längst schon selbstverständlich ist beim Verfassen literarischer Texte : Sie mäandern manchmal und steuern dann nicht schnurstracks auf ein Ende zu, sondern sie nehmen manches mit auf. Vorläufig versteh ich die Wörter gewiß keinesfalls als unmittelbare Synonyme. Sinnverwandt mögen sie sein, aber Vorsicht, lieber noch ein bißchen weitergrübeln. Warum denk ich da jetzt dran? Deshalb: Ich frage mich, ob lyrisch denken, poetisch sinnieren etwa eine Art Sinnestäuschung, Chimäre, Trugbild sei, gar eine Flucht aus Raum, aus Zeit, hinein in Traum – und weit, oder sind das Lyrische, das Poetische wirklicher als die Wirklichkeit, die das lyrische Luftbild, die poetische Phantasie gleichsam zurückholen ins ›reale‹, ›tatsächliche‹ Tagesgeschehen – und somit das Sehen verändern, die menschlichen Beziehungen, das Verhältnis zur Welt. Ob Gedicht oder Roman : Wo diese Fragen nicht mitschwingen im komplexen Geflecht der Wörter – handelt es sich da möglicherweise nicht um literarische Texte im engeren Sinne? Poems, including stories and songs, are more capable of forming, formulating, expressing and communicating care, carefulness, and caringness, and doing so more honestly, truthfully, intensely, fully and profoundly, than any other linguistic expression. (Richard Berengarten) Unmittelbar nach diesem Gedankenschub les ich in Harald Gröhlers Erzählung Eine Selbstmörderin : Dank Goethe ist die Ilm hier nicht begradigt. Das macht mir den Herrn von Goethe schon sehr real. Na also. Also was? Was wir scheinen. Auf dieses Buch hab ich, ohne es zu ahnen, seit Jahren gewartet. Vielleicht schon, seit ich Arendts Vita activa oder Vom tätigen Leben las *, spätestens jedoch, seit ich den Film Hannah Arendt mit Barbara Sukova sah. Was ich nicht wußte : Hannah Arendt, die mir die Banalität des Bösen begreifbar machte, schrieb auch Gedichte. Alles, wirklich alles dreht sich um Sprache, les ich auf Seite 17. Ein Satz, sieben Wörter, und die poetische Existenz dieser Frau scheint auf : zielklar, sichtbar, wahr. Hildegard E. Keller gelingt mit dem romanesken Sprachkunstwerk Was wir scheinen die kongeniale Nachempfindung von Wesen, Wirken und Wollen der worttollen Hannah Arendt. Eine poetische Liebesgabe. Lesen!


* Die drei Grundtätigkeiten Arbeit, Herstellen, Handeln sind nun nochmals in der allgemeinsten Bedingtheit menschlichen Lebens verankert, daß es nämlich durch Geburt zur Welt kommt und durch Tod aus ihm wieder verschwindet. Was die Mortalität anlangt, so sichert die Arbeit das Am-Leben-Bleiben des Individuums und das Weiterleben der Gattung; das Herstellen errichtet eine künstliche Welt, die von der Sterblichkeit der sie Bewohnenden in gewissem Maße unabhängig ist und so ihrem flüchtigen Dasein so etwas wie Bestand und Dauer entgegenhält; das Handeln schließlich, soweit es der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient, schafft die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte.

Hildegard E. Keller: Was wir scheinen. Hannah Arendt · Poetische Denkerin. Roman. 574 Seiten. Broschur. Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln 2022.


Theo Breuer, Jahrgang 1956, schreibt in erster Linie Gedichte und Essays. Seit 1988 veröffentlicht er Ge­dichtbücher (auch visueller Art) sowie essayistische Monographien zur zeitgenössischen Literatur. Breuers Bücher erscheinen seit 2012 im Pop Verlag: Das gewonnene Alphabet (2012); Zischender Zustand ∙ Mayröcker Time (2017); Scherben saufen (2019); Winterbienen im Urftland Empfundene/erfundene Welten in Norbert Scheuers Gedichten und Geschichten (2019), nicht weniger nicht mehr (2021) sowie Vorschlag zur Blüte (2023). Im siebenteiligen Essayzyklus L·i·t·e·r·a·t·o·u·r »22«, in dem rund 88 – fast ausschließlich 2022 erschienene – Bücher vorstellt werden, hat Theo Breuer es in erster Linie auf die Sprache abgesehen, die er in den jeweiligen Büchern vorfindet: »Ohne den Schall der Sprache geht gar nichts«, heißt es bereits im Vorwort.