THEMA: Mein Klassiker

Fritz J. Raddatz klagte wenige Wochen vor seinem Tod in einem Interview mit Arno Wiedmann in der Frankfurter Rundschau:

“Was man wissen könnte, wird weggebürstet durch Schnelligkeit. Schnelligkeit taugt nicht für Kultur. Die braucht Zeit. Zeit, um die „Buddenbrooks“ zu lesen, zu verstehen, nachzulesen: Wie war das mit Tony und mit Herrn Grünlich? Das ist alles weg. Es ist ein ganz großer Radiergummi über das kulturelle Gedächtnis hinweggegangen. Jeden Tag wird mehr ausradiert.”

Man könnte das als Kulturpessimismus eines alten Mannes abtun. Doch wenn ich mein eigenes Leseverhalten selbstkritisch überdenke, schaue ich mit Bedauern auf die Stapel ungelesener Bücher, die von den Neuerscheinungen auf dem berühmten “SuB” verdrängt werden: Das Neue lockt, das Alte bleibt liegen. Proust, die ganzen großen Russen, auch die klassische Antike – ihre Lektüre verschiebe ich immer wieder auf den unbestimmten Tag, an dem ich einmal “Zeit und Muse” für sie haben werde.

Was löst ein gutes Buch aus?

Im Rad der Neuerscheinungen, das sich immer schneller dreht – jedes Jahr werden noch mehr Bücher “produziert” – geht mir jedoch manchmal der Blick für das Wesentliche verloren: Der Blick auf das, was ein “gutes Buch” bewirken kann. Der Blogger Wolfgang Schnier stellte dazu diese Überlegungen an:

“Ein gutes Buch lässt uns nicht so zurück wie es uns vorgefunden hat, es bewegt etwas in uns und verändert uns. Es richtet uns auf, würden die Aufklärer sagen, wenn es solche denn noch geben würde. Nach einem guten Buch sind wir nicht mehr die selben wie zuvor — und das wirft die Frage auf, ob es eine permante Bewegung geben muss, ein ständiges ‚Vorwärts‘?”

Welche Bücher, welche Romane, welche Dramen können uns diese Erfahrung vermitteln, die so oft mit dem Axt-Zitat von Herrn Kafka umschrieben wird? Das kann natürlich auch ein Debütroman sein, eine Neuerscheinung – doch “Klassiker”, um diesen Begriff einmal so pauschal zusammenzufassend in den Raum zu stellen, haben diese in sich liegende Kraft bereits entwickelt, Menschen geprägt, sogar Generationen begleitet. Doch verschwinden sie tatsächlich aus unserem Gedächtnis, werden sie ausradiert, wie Raddatz annimmt? Und was können sie uns heute sagen – sind sie noch lesbar und zeitgemäß, diese Geschichten von Mord und Totschlag, Odysseen, Ehebruch und Revolution? Kann man den “grünen Heinrich” überhaupt noch aushalten in seiner Unentschlossenheit, den Männern ohne Eigenschaften und letzten Mohikanern folgen oder mit Mr. Bloom durch Dublin streifen? (Ich meine natürlich: Ja).

Warum wird ein Buch zum persönlichen Klassiker?

So wenig, wie es den einen Kanon der Literatur gibt, so wenig gibt es natürlich auch den einen Klassiker. Kurt Tucholsky formulierte das bereits einmal wunderbar: “Das Richtige ist: das intensive Buch. Das Buch, dessen Autor dem Leser sofort ein Lasso um den Hals wirft, ihn zerrt, zerrt und nicht mehr losläßt – bis zum Ende nicht, bis zur Seite 354. Lies oder stirb! Dann liest man lieber.”

Ich war und bin neugierig: Was lässt ein bestimmtes Buch, bestimmte Autor*innen für jemanden zu “dem” Klassiker werden? Ich habe diese Frage Schriftsteller*innen, Kritiker*innen, Blogger*innen und anderen lesenden Menschen gestellt, die mir Beiträge über ihre Klassiker schrieben.

Und wie es sich für einen guten Klassiker gehört: Auch diese Reihe hat kein Ende, wird immer wieder einmal mit neuen Beiträgen fortgesetzt.


Die Klassiker im Überblick:

MeinKlassiker (39): Kommunikatives Lesen mit Max Frisch

Alexander Carmele von “Kommunikatives Lesen” stellt in der Reihe “Mein Klassiker” einen Roman von Max Frisch vor. “Was macht ihr mit der Liebe” war zunächst der Arbeitstitel, als “Stiller” wurde das Buch zu einem Publikumserfolg und brachte Frisch den Durchbruch als Schriftsteller.

MeinKlassiker (38): Warum Transit für Sibylle Schleicher immer noch aktuell ist

Für die Schriftstellerin Sibylle Schleicher ist “Transit” ein Roman, den sie immer wieder liest. Denn „Transit“ beschreibt eindringlich wie kaum ein anderer Roman das Schicksal heimat- und ziellos herumirrender Menschen. Ein Buch, das zurecht als Meisterwerk der Exilliteratur gilt. Ein Beitrag in der Reihe #MeinKlassiker.

#MeinKlassiker (7): Der Untertan, zum Ersten

“Der Untertan” zeigt auch, wie und woran eine Gesellschaft scheitert. Meint Jörg Mielczarek, Verleger, Autor und Kenner der Literatur der Weimarer Republik.

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