“Requiem” von Karl Alfred Loeser – eine große Neuentdeckung der Exilliteratur

„Erich Krakau war ein bedeutender Künstler. Für ihn müsste es leichter sein, ins Ausland zu gehen. Aber nichts da, man misstraute ihr, verlangte Kontakte und Zertifikate und machte ihr immer neue Schwierigkeiten, einfach nur, wie sie bald entdeckte, weil er Jude war. Auch die aufgeklärten Länder, die sich auf ihre Freiheit und Werte so viel einbildeten, wollten keine Juden mehr. Es war wie eine ansteckende Krankheit, die um sich griff und allerorten Anhänger und Nachbeter fand. Lisa begriff, dass der Mensch in der Welt von allen Dingen das wertloseste und überflüssigste war.“

Karl Alfred Loeser, „Requiem“, Klett-Cotta Verlag, 2023

Wie fragil, wie leicht zerbrechlich die Existenz eines Menschen ist, dies hat Karl Alfred Loeser am eigenen Leib erlebt: Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten flüchtet der junge Mann, 1909 in Westfalen geboren, zunächst nach Amsterdam, wo sein Bruder Norbert, ein bekannter Musiker, bereits lebt. Mit seiner Frau Helene, die er in Holland kennenlernt, geht die Flucht bis Brasilien weiter. In São Paulo findet Loeser eine Anstellung bei einer holländischen Bank, wird Vater, baut sich und seiner Familie eine neue Existenz auf, spielt in seiner Freizeit Geige in einem Laienorchester. Und: Schreibt. Erst nach seinem Tod 1999 findet die Familie ein Konvolut von unveröffentlichten Manuskripten, darunter Novellen, Romane, Theaterstücke.

Wie anders dieses Leben verlaufen wäre, vielleicht als freie Künstlerexistenz, vielleicht als anerkannter Schriftsteller, hätte es nicht die gnadenlose Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten gegeben, darüber lässt sich heute nur spekulieren. Aber zumindest kommt nun einer seiner Texte doch an die Öffentlichkeit – ein grandioser Fund, der einer anderen sensationellen Wiederentdeckung zu verdanken ist: Als „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz fast 80 Jahre nach der Wiederveröffentlichung erneut erschien und um die Welt ging, wurde auch der Urenkel von Karl Alfred Loeser auf diesem Roman, der mitten aus dem Reich der Finsternis berichtete, aufmerksam. Und wandte sich an dessen Herausgeber Peter Graf. Der erkannte den Wert von „Der Fall Krakau“, wie Loeser den Text selbst betitelt hatte, editierte und lektorierte das Manuskript behutsam, wie er in seinem Nachwort zu „Requiem“ schreibt:

„Schwer war das in diesem Fall nicht, denn ein so geschickt durchkomponierter Roman macht es einem leicht (…). Requiem ist ein erstaunlich zeitloses und auch berührendes Buch, es unternimmt auf sehr eigenständige Weise den Versuch, zu verstehen, was unbegreiflich ist, und jenseits aller schmerzhaften Erfahrungen ist es nicht ohne Hoffnung.“

Loeser erzählt „den Fall Krakau“, die Vertreibung des letzten jüdischen Musikers an einem renommierten Theater in Westfalen aus dem Orchester, seiner Stadt und seinem Land spannend, beinahe in der Art eines Politkrimis. Erich Krakau ist ein weithin anerkannter Cellist, der sich trotz der dunklen Vorzeichen noch wohlaufgehoben in seinen Künstlerkreisen glaubt. Als ein befreundeter Arzt bei Nacht und Nebel vor der Gestapo flüchtet, hilft er diesem, glaubt sich aber immer noch in Sicherheit. Doch da setzt eine ungeheure Intrige ein: Der 22-jährige Fritz Eberle, ein musikalisch untalentierter Bäckersohn, mit Minderwertigkeitskomplexen behaftet, will Krakaus Stelle als Cellist am städtischen Sinfonieorchester. Und setzt dafür alle Hebel in Gang: Er besticht einen schmierigen Journalisten, der eine Hetzkampagne auslöst, SA-Claqueure stören ein Konzert, das Krakau gibt, schließlich wird der Musiker der Polizei und den Ränkespielen eines ehrgeizigen stellvertretenden Gauleiters ausgeliefert, der Krakau im „Judenkäfig“ unter der Erde des örtlichen Gefängnisses festsetzt. Dass dem Musiker mit seiner Frau Lisa in letzter Minute die Flucht aus dem deutschen Reich gelingt, ist dem couragierten Eintreten einiger Künstlerfreunde mit guten Beziehungen zu verdanken.

Dass die Erzählung mit zunehmendem Tempo auch atmosphärisch immer beklemmender wird und beim Lesen mitreißt, ist nicht die einzige Qualität des Romans. Vielmehr sind es die verschiedenen Perspektiven, aus denen Loeser erzählt, und die ein glaubhaftes Bild von der Stimmung im sogenannten Dritten Reich, aber auch vom Schicksal der Exilanten vermitteln. Loeser lässt Opportunisten, Gewalt- und Machtmenschen, aber auch die „alte Garde“ am Beispiel des Gauleiters von Oertzen (ein Militär, der, die Flucht Krakaus ermöglicht und sich danach das Leben nimmt) auftreten, zeigt auf, wie in einer Diktatur allmählich Entmenschlichung einsetzt und Gleichschaltung funktioniert. Ebenso kommen in „Requiem“ aber auch die Stimmen aus dem Untergrund und dem Widerstand zu Gehör, die der Geflüchteten und Geknechteten. Ein vielstimmiger Chor, der diese Tragödie begleitet.

Wenn Loeser über sein Alter Ego Erich Krakau aus diesem Roman zu uns spricht, dann erhebt sich auch eine Stimme aus der Vergangenheit, die etwas zeitlos Mahnendes sagt, in diesen Zeiten so aktuell wie je:

„Es ist die verderbliche Sucht der Kleinlichen, Menschen einzuteilen, zu klassifizieren und Schuldige zu suchen. Hier Gut, dort Böse, hier Licht, dort Schatten, hier Arier, dort Jude.“ Doch, so der Musiker im Gespräch mit einem Kollegen: „Ist es denn Lüge, dass ich den Himmel liebe, unter dem ich geboren, die Landschaft, in der ich groß geworden bin? Ist es denn Lüge, dass ich Beethoven und Brahms liebe? Wenn das alles Lüge ist, dann gibt es nichts Wahres mehr auf der Welt.“

Es ist auch der Glaube an den Teil im Menschen, der in der Kunst so unglaublich Schönes zu erschaffen mag, ebenso wie der Glaube an die Liebe seiner Frau Lisa, der Erich Krakau in „Requiem“ aufrechterhält, als er allmählich erwacht und die bedrohlich zunehmende Gefahr für Leib und Leben erkennt. Es ist auch dieser Glaube an die Schönheit der Musik, die ihn mit der zunehmenden Entmenschlichung seiner Umwelt fertig werden lässt. Und vielleicht war dies auch der Glaube, von dem sich Karl Alfred Loeser in seiner Exilexistenz tragen ließ.

„Karl Loeser behielt recht“, meint Peter Graf in seinem Nachwort: „Die Finsternis wich einem neuen Licht, und wie den dunklen Wolken womöglich zu begegnen ist, die unentwegt und immer wieder aufs Neue aufsteigen, ist eine der Lehren, die sein Roman für uns Lesende bereithält.“

Der Roman erschien im Klett-Cotta Verlag, der mir für diese Besprechung ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte.

Christoph Heubner: Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen

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Das Gemälde “Triumph des Todes”(Die Gerippe spielen zumTanz) von Felix Nussbaum entstand 1944. Reproduktion von Wikimedia, das Original ist im Felix Nussbaum Haus in Osnabrück zu sehen.

„Als Kind habe ich geträumt, dass ich erwachsen bin und fliegen kann. Ich habe geträumt, dass mich Räuber in einen dunklen Wald schleppen, und ich habe geschrien. Der Junge hat zuviel Phantasie, du musst ihn schärfer herannehmen, hat mein Vater zu meiner Mutter gesagt. Also habe ich beschlossen, keinen Unsinn mehr zu machen und nicht mehr zu träumen.“

Christoph Heubner, „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“.

Aus dem Jungen wird ein Mann, der Mann wird zum Großvater. Er führt ein angepasstes, arbeitsames Leben in seinem ungarischen Heimatort Kaposvár. Erst durch seine Enkelin, die er über alles liebt, wird der alte Mann wieder zum Jungen, der träumen kann. Doch sie, die kleine Giliki, ist eine der ersten, die aus dem Waggon mit 87 Menschen gezerrt wird, die der Mordmaschine vorgeworfen wird. Während für den Alten sein schlimmster Alptraum wahr wird: In einen Wald verschleppt, ein Waldstück nahe des Vernichtungslagers, wartet er gemeinsam mit einer letzten Übriggebliebenen aus seinem Dorf darauf, was ihm geschehen wird. Die Zeichen, er hat sie schon in früheren Jahren gesehen, geahnt, dass da etwas ist:

„Den Hass und die Verachtung uns gegenüber haben sie sich für zu Hause und die Straße aufgespart. Ich wusste immer, dass sie ein Tier in sich eingesperrt hielten, das endlich raus wollte. (…) Blanker Hass. Und wenn die Meinen auf den Holzplatz kamen, habe ich den Hass hinter ihren Augen gesehen, wenn sie mich angeschaut haben. Sie haben gewartet, dass sie von der Kette kommen.“

Jetzt, 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, verstummen die letzten Zeitzeugen mehr und mehr. Und dennoch erscheint es in diesen Tagen umso wichtiger, die Stimmen, die vom eigentlich Unsagbaren erzählen und von den unmenschlichen Taten Zeugnis ablegen, weiterhin hörbar zu machen.

Einen besonderen literarischen Weg hat dazu der Schriftsteller Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, eingeschlagen. In seinem Band „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ gibt er den Opfern eine Stimme: Einfühlsam, nah an der Realität trotz der fiktionalen Bearbeitung, nachhallend.

Für die drei in diesem Band versammelten Geschichten wählte Heubner drei Stimmen, drei Formen. „Nach Auschwitz – drei Geschichten“, wie der Untertitel sagt, und jeder der drei Geschichten hallt lange nach. „Das leere Haus“, die Erzählung einer Überlebenden, reicht bis in unsere Gegenwart. Sie erzählt vom Überlebenskampf der allein gebliebenen und auf sich gestellten Kinder nach dem Krieg und nach dem Lager, von der Heimatlosigkeit, der Entwurzelung, dem Schuldgefühl der Überlebenden. Wie man sich wieder ein Leben zurechtzimmern kann, wie man weitermachen kann:

„Wir waren für uns. Das war jetzt unser Maulwurfhügel. Weit weg von den alten Gespenstern, die Angst lag in unserer Wohnung wie ein alter Hund, der nur noch leise vor sich hin schnarcht.“

Doch der Kettenhund – ein Symbol in allen drei Geschichten – er schläft nicht, er ist noch lebendig: Die Erzählung endet mit dem Anschlag auf die Synagoge in Pittsburgh 2018, bei dem elf Menschen getötet und andere schwer verletzt wurden.

„Vier Minuten. Es waren vier Minuten. Und mir war, als hätte ich am anderen Ende des Parkplatzes meine Mutter gesehen. Sie war so jung wie damals, als sie uns abgeholt haben und schrie: Vier Minuten, ist es nie zu Ende?“

In „Ein Stück Wiese, ein Wald“ stehen sich zwei Menschen gegenüber, ein Mann und eine Frau, stellvertretend für die über 440 000 ungarischen Juden, die 1944 in wenigen Monaten in Birkenau ermordet wurden. Menschen, so Christoph Heubner, die sich in den Jahren davor niemals hätten vorstellen können, dass sie in Lager abtransportiert, verschleppt und getötet werden könnten, weil sie Juden waren.

In der dritten, titelgebenden Erzählung „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“, setzt Heubner eine Idee fort, die 2007 nach einem Gespräch mit Stéphane Hessel entstand, ein fiktives Tagebuch der beiden Künstler Felka Platek und Felix Nussbaum, die 1944 in ihrem Versteck bei Brüssel aufgegriffen und verhaftet wurden und in Auschwitz starben. Heubner veröffentlichte das fiktive Tagebuch zunächst auf dem Internetportal des Auschwitz Komitees und trug es bei mehreren Lesungen vor – im Nachwort weist er ebenfalls auf den Roman von Hans Joachim Schädlich, „Felix und Felka“, hin.

Bemerkenswert ist es, wie Christoph Heubner es auch in diesem kurzen Text gelingt, innerhalb weniger Seiten die ganze Dramatik des Geschehens deutlich zu machen: Zwei junge Menschen, die jeder für sich aufbrechen, um sich selbst zu verwirklichen, ihren eigenen künstlerischen Weg einzuschlagen, voller kreativer Kraft und Hoffnung. Und wie schnell aus den wenigen Zeilen dann die Verzweiflung spricht, weil ihnen alles geraubt wird – Arbeits- und Lebensmöglichkeiten, wie sich die Klaustrophobie und Unsicherheit in den engen Verstecken auf den Leser überträgt, wie mehr und mehr die Hoffnungslosigkeit zunimmt. Christoph Heubner sagt dazu in seinem Nachwort:

„Die Bilder von Felka Platek und Felix Nussbaum jedoch, gegen die materielle Not, die alltägliche Angst und das Grauen entstanden: auch sie halten stand und erinnern an die Empörung und die Menschlichkeit, die die Résistance gegen die deutschen Nationalsozialisten in Europa getragen hat und zu der auch Felka Platek und Felix Nussbaum für alle Zeiten gehören. Das wollte ich unbedingt erzählen.“

Und dieses Weiter-Erzählen ist so wichtig in unserer Zeit. „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ ist ein schmaler Band, aber von großem Gewicht.

Informationen zum Buch:
Christoph Heubner
Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen
Steidl Verlag 2019
Leineneinband, gebundes Buch, 104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN 978-3-95829-717-3

Weitere Informationen:
Christoph Heubner im Interview im Deutschlandfunk
Auf der Seite des Auschwitz Komitees


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Tadeusz Pankiewicz: Die Apotheke im Krakauer Ghetto

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Bild von Tomasz Pro auf Pixabay

„In dieser kleinen Straße kamen viele Menschen um. Von der Mauer des dort gelegenen Wohnhauses, direkt meinen Fenstern gegenüber, müssen sich alte Menschen aufstellen und werden erschossen. Es sind überwiegend diejenigen, die man aus ihren Verstecken gezogen hat. An einer anderen Seite des Platzes schießen sie auf Kinder. Darin sind die Deutschen einzigartig: Auch wenn es um Verbrechen geht, ihre Planungen halten sie genauestens ein.“

Tadeusz Pankiewicz, „Die Apotheke im Krakauer Ghetto“, 1947, neu aufgelegt 2017 von Jupp Schluttenhofer, Friedberg.

Als die Deutschen 1939 im September 1939 in Krakau einmarschierten, dauerte es nicht lange, bis sie auch mit ihrer systematischen und gnadenlosen Verfolgung der jüdischen Bevölkerung begannen. 1941 wurde im Stadtteil Podgórze, in dem ursprünglich rund 3.000 Menschen lebten, das Krakauer Ghetto errichtet. In dem Bezirk am rechten Weichselufer wurden bis zu 20.000 Menschen zusammengepfercht und wie Arbeitssklaven gehalten. Die wenigsten dieser Menschen überlebten diesen Hass: Krakau, heute wieder zweitgrößte Stadt Polens, verlor unter den Nationalsozialisten seine komplette jüdische Gemeinde, insgesamt fielen dem Terror der Nazis fast die Hälfte der Bevölkerung zum Opfer.

Polen war der Zutritt zum Ghetto verboten. Nur ein nichtjüdischer Krakauer wird zum ständigen Ghettobewohner: Tadeusz Pankiewicz (1908 – 1993), dessen Apotheke „Pod Orlem“ (Unter dem Adler) in Podgórze liegt. Mit Schmiergeld und Bestechungen gelingt es dem Pharmazeuten, eine Verlegung der Apotheke zu verhindern – und so wird Pankiewicz Augenzeuge der grausamen Vorgänge im Ghetto von dessen Errichtung bis zu seiner vollständigen Auflösung Ende 1943.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hält er seine Erinnerungen schriftlich fest: „Die Apotheke im Krakauer Ghetto“ ist ein ergreifendes, erschütterndes Zeitdokument, das zeigt, was geschieht, wenn Menschen von anderen Menschen entmenschlicht werden. Ein Buch, das in diesen Tagen von besonderer Bedeutung ist, da Menschlichkeit gegenüber einer ganzen Gruppe von Menschen auf der Strecke zu bleiben droht.

Ignatz Bubis schrieb in seinem Vorwort zu diesem Buch:

„Es ist sein Verdienst (Tadeusz Pankiewicz), das Geschehen im Krakauer Ghetto vor dem Vergessen bewahrt zu haben. Die Erinnerung daran schulden wir den Opfern, aber auch uns und künftigen Generationen, denen es erspart bleiben soll, ähnliche Schrecken zu durchleben.“

Das Buch ist als Zeitdokument eine Mahnung und ein Mutmacher zugleich: Denn Pankiewicz, der später mit dem Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet wird, setzt täglich uneigennützig sein Leben aufs Spiel, um den Menschen im Ghetto zu helfen. So wird die Apotheke zum Umschlagsplatz für Nachrichten an Freunde und Bekannte außerhalb des Ghettos, zum Unterschlupf und Treffpunkt, zur Nachrichtenbörse. Wo es möglich ist, hilft der Apotheker mit kostenlosen Medikamenten, mit Essen, er verschafft notwendige Papiere, versteckt die Kostbarkeiten aus der Synagoge, kurzum: Er hilft, wo er kann.

Ihm brennen sich die Bilder des sadistischen, beinahe rauschhaften Tötens bei den Räumungen des Ghettos, das sich von Mal zu Mal steigert, unauslöschlich ein. Am Fenster seiner Apotheke wird er Zeuge, wie Gestapo und SS sowie ihre Schergen Menschen peinigen. Er schreibt über „Die Stadt der Toten“:

„Seit der Auflösung des Ghettos hat die Existenz der Apotheke ihren Sinn verloren. Es kam mir so vor, als wäre ich nach zweieinhalb Jahren im Ghetto umgesiedelt worden in ein Land der Toten, in ein von Menschen geräumtes Städtchen, wo der Widerhall der Schritte in den ausgestorbenen Straßen Angst weckt und wo der Anblick eines Menschen, der vorübergeht, einem einen Schauer über den Rücken jagt. In den so eng bewohnten Häusern und auf den Straßen, wo es noch vor einigen Stunden von Menschen wimmelte, herrschte Leere. Der Hauch des Todes wehte durch die Straßen und streifte jedes Haus und jede Wohnung.“

Pankiewicz, der sich selbst in seinem Buch sehr zurücknimmt, aus dessen Zeilen einfach eine Vornehmheit der Haltung sprechen, schreibt in einem späteren Vorwort:

„Die Apotheke im Krakauer Ghetto wirft meiner Meinung auch ein zusätzliches Licht auf die Mechanismen, die der Haltung und dem Verhalten zugrunde liegen, welches Menschen in Situationen der Bedrohung, des Schreckens und im Moment ihres Untergangs zeigen, aber auch auf das Verhalten derjenigen, die die Verursacher dieses Unheils waren. Das Buch kann einen Beitrag zur Erkenntnis über die Psychologie des Verbrechers und seines Opfers liefern.“

Die Verbrecher zeigen vor allem eines: Vollkommene Empathielosigkeit gegenüber ihren Opfern. Und es ist erschreckend festzustellen, dass diese Entmenschlichung anderer aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Rasse, ihrer Religion genau jetzt wieder geschieht, jetzt wieder um sich greift.

Umso mehr ist auch die Entstehungsgeschichte der Neuauflage dieses wichtigen Zeitdokuments hervorzuheben: Das Buch erschien erstmals 1995 in deutscher Übersetzung durch Manuela Freudenfeld. Inzwischen war es nur noch antiquarisch zu haben. Ein Privatmann hat es nun auf eigene Initiative hin wieder zugänglich gemacht – unterstützt von Sarah und Benno Käsmayr vom MaroVerlag wurde Jupp Schluttenhofer zum Verleger und brachte „Die Apotheke im Krakauer Ghetto“ in einer Auflage von zunächst 1.500 Stück heraus.

Die Homepage zum Buch:  http://www.die-apotheke-im-krakauer-ghetto.de/

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Carry Brachvogel: Im weiß-blauen Land

„Und nun, da das Dirndlgewand Allgemeingut geworden scheint, nun steht auch ihm, wenn nicht alle Zeichen trügen, eine ähnliche, wenn auch anders geartete Debauchierung bevor, wie sie einst das selige Tegernseer Chasseresse-Kleid erlebte. Nur sind es diesmal nicht die praktischen Provinzlerinnen, sondern die stillosen Mondänen, die ihre reichberingten Hände nach ihm ausstrecken, es nicht um der Anpassung oder der Bequemlichkeit willen wählen, sondern es aufputzen und aufplundern, daß es mehr an die Maskengarderobe, denn an ein heimisches Sommergewand erinnert. Nun ist schon der Rock so kurz, das Leibchen so tief ausgeschnitten worden, daß jedes bäuerliche Dirndl, dem man sie zumuten wollte, empört fragen würde:
„Ja moanst ebba, da tat` i mi net schama?!“

Carry Brachvogel, „Im Weiß-Blauen Land. Bayerische Bilder“, Allitera Verlag, 2013.

Schaut man auf die Maskengarderobe, in die sich B- und C-Sternchen in unserer Zeit alljährlich für das Oktoberfest zwängen, könnte man meinen, dieser Text sei brandneu. Doch die Betrachtungen zu Land und Leuten unter dem weißblauen Himmel zählen inzwischen fast ihre hundert Jahre. Sie sind immer noch frisch und aktuell – ihre Verfasserin jedoch ist beinahe vergessen.

„Der Schuhplattler beginnt. Norddeutsche Bundesbrüder, die ihr euch in „echt bayerischen“ Singspielhallen rotseidene Röcke, spinatgrüne Hosenträger, geschminktes Lächeln, widerliches Hopsen und komödiantisches Juhuen als „echten Schuhbladla“ aufreden laßt, kommt hierher und seht euch den Tanz an, wie er in Wirklichkeit ist!“

Da erzählt eine voller Liebe und Zuneigung von ihrer Heimat – so sehr, dass man sich mit diesem Buch gerne auf Ausflüge auf die Fraueninsel, in das Voralpenland oder auch nach München, wo Carry Brachvogel lebte, begibt. Doch die Liebe zur Heimat, sie wurde ihr schlecht gedankt: Die Schriftstellerin, zu ihrer Zeit weit über Bayern hinaus in ganz Deutschland als Feuilletonistin, Autorin und Frauenrechtlerin bekannt, starb 1942 in Theresienstadt.

„Neuauflagen der Werke Carry Brachvogels, die damals sehr verbreitet waren, sind nach dem Ende des nationalsozialistischen Terrors nicht bekannt. Sie wurde aus der kollektiven Erinnerung verdrängt – und zu Unrecht vergessen.“

Auftakt zur Neuauflage

Dies schreibt Ingvild Richardsen in einem Vorwort der 2013 wieder erschienenen bayerischen Bilder. Der Band „Im Weiß-Blauen Land“ bildete den Auftakt zu einer Neuauflage einiger ausgewählter Werke von Carry Brachvogel in der „edition monacensia“ im Allitera Verlag. Dort wurden auch ihr erster Roman „Alltagsmenschen“ der 1895 im S. Fischer Verlag erschien, die Posse „Der Kampf um den Mann“ (1910) und „Schwertzauber“ (1917), eine Auseinandersetzung mit den Leiden des Ersten Weltkrieges, wieder aufgelegt.

Das sind nur einige der über 40 Werke, die die Schriftstellerin zu Lebzeiten veröffentlicht hatte, darunter Romane, Frauenbiografien und Theaterstücke. Neben der schriftstellerischen Tätigkeit wurde sie vor allem durch ihren Einsatz für die Frauenrechte und durch ihren literarischen Salon berühmt.

Ingvild Richardsen:

„1913 gründete sie zudem den ersten Schriftstellerinnen-Verein Münchens. Bedeutende Persönlichkeiten traten ihm bei: Ricarda Huch, Annette Kolb, Helene Böhlau, Isolde Kurz und viele andere. Noch 1924, zu ihrem 60. Geburtstag wurde die erfolgreiche Schriftstellerin deutschlandweit gefeiert. Wenige Jahre später zählte nur noch, dass sie jüdischer Herkunft war.“

Im Alter von 78 Jahren wurde sie mit ihrem jüngeren Bruder nach Theresienstadt verschleppt, wo beide kurz danach verstarben. Danach schien es, als existierte ihr Name nicht mehr. Bis 2012 dauerte es, bis in München, „ihrer“ Stadt, eine Straße nach ihr benannt wurde. Verdienstvoll ist es daher, dass ihre Bücher in der Reihe der Münchner Staatsbibliothek wiederaufgelegt wurden. Auch aus literarischer Sicht: Spritzig, witzig, schlagfertig und durchaus unterhaltsam ist der Stil dieser Frau, die ihrer Zeit in vielem voraus war. Ingvild Richardsen bereichert den ersten Band der Brachvogel-Reihe mit einem umfangreichen Nachwort zur Biografie der Münchner Schriftstellerin:

„Mit ihrem Lebensstil, ihren Ideen und ihrem politischen Engagement erscheint Carry Brachvogel heute als eine ungewöhnlich moderne und emanzipierte Frau ihrer Zeit. Ihre damaligen Ansichten sind hochaktuell: Wichtigkeit der Arbeit und des Berufes, der Selbstverwirklichung und Selbstbestimmtheit. So wirkt sie für uns auch als eine Visionärin der modernen Frau. Schon damals hat sie so gelebt, wie es heutzutage viele Frauen tun: alleinerziehend und berufstätig.“

Und ob sie nun in ihren Romanen über das Frauenbild ihrer Zeit schrieb oder in ihren Essays über ihre Heimat – bei alledem wirkt Carry Brachvogel modern, heimatverbunden ohne „tümelnd“ zu sein, neugierig, aufgeschlossen, offen, den Menschen zugeneigt:

“Denn dies vor allem wollte ich: Menschen schaffen, nicht Tragantfiguren oder Kostümpuppen. Das Goethewort: „Der Mensch ist dem Mensch am interessantesten“ ist für mich immer ein Glaubensbekenntnis gewesen und geblieben.”


Verlagsinformationen zu den Büchern:
https://www.allitera.de/books.php?action=suche&schnellsuche=Carry Brachvogel

Die Biographie bei fembio:
http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/carry-brachvogel/

Bild zum Download: Bayerische Hosenträger


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Oskar Maria Graf: Unruhe um einen Friedfertigen

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Bild von MaxxMcgee auf Pixabay

„Und dieses Etwas, schwer schleimig und blutbesudelt, das hatte er – so ist die in panische Angst und in Jammer gestoßene Kreatur! – mit letzter Kraft und Hast weggedrückt, vom Fleck geschoben, weil darunter die kleine Bodenlucke mit dem ängstlich versteckten Schmuck und dem wichtigen Schriftschaften lag. Besinnungslos hatte er den Schatz an sich gerissen, unter dem Mantel verborgen, und war davongelaufen, aus dem Haus, weg aus dem Viertel, aus der Stadt; nach Monaten kam er in Winniki bei der Tante Sarah an, blieb eine Zeitlang und ging wieder weiter, weiter, immer weiter, landete schließlich nach vielen Elends- und Irrfahrten in Wien, kam ins Bayerische und war inzwischen verloschen als Juljewitsch Krasnitzki, heiratete seine Kathi in Fürth, holte seinen Buben von der Tante Sarah, hieß schließlich Julius Kraus, und nichts verriet mehr, was er einst gewesen war…“

Oskar Maria Graf, „Unruhe um einen Friedfertigen“, 1947

Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben … nein, fromm im eigentlichen Sinne ist der Julius Kraus zwar nicht, aber einer, der sich zurückhält, ein Ruhiger, freundlich, aber doch unverbindlich zu den Nachbarn, einer der das „A-bopa“ scheut. Mit diesem wohl selbsterfundenen Wort bezeichnet der alte Schuster das Gift, das entsteht, wenn die Zeiten unruhig sind, wenn am Stammtisch im Wirtshaus politisiert und hernach geschlägert wird. Wenn die Leute im Dorf sich verfeinden, wenn polemisiert, gehasst und gespitzelt wird, wenn der Zwiespalt selbst Familien auseinanderbringt.

Was das „A-bopa“ mit Minderheiten anstellt, das hat der Kraus bereits als junger Mann miterleben müssen: Die Familie wird bei einem Pogrom in Odessa hingemetzelt, nur ihm gelingt – nachdem er den Familienschmuck unter dem toten Leib der Mutter hervorzieht – die Flucht. Im oberbayerischen Dorf Auffing scheint der Exodus endlich zu einem Ende zu kommen: Julius, seine Frau und der Sohn aus erster Ehe finden hier ein neues Zuhause, finden sich in die Dorfgemeinschaft ein.

Bis das „A-bopa“ wieder sein übles Gift verbreitet: Der von Oskar Maria Graf bereits in seinem amerikanischen Exil geschriebene Roman umfasst die Zeitspanne vom Ersten Weltkrieg bis zu Hitlers Machtergreifung. Auch der dörfliche Kosmos bleibt – obwohl die Bauern andere Sorgen drücken als die hungernde Arbeiterschaft in den Städten – von den politischen Unruhen nicht verschont. Wie unter einem Brennglas wird am überschaubaren dörflichen Kosmos deutlich, wohin existentielle Not, finanzielle Sorgen sowie die Perspektivlosigkeit und Traumatisierung der von den Schlachtfeldern zurückgekehrten jungen Männer führen. Und wozu falsche Versprechungen und Propaganda verführen, wenn die Saat – die Gier oder auch nur der schlichte Wunsch nach einem besseren Leben – gelegt ist.

„In der deutschen Literatur der letzten fünfzig Jahre gibt es viele Zeugnisse über die spezifisch deutsche Variante des heute weltweit anzutreffenden Phänomens eines blinden Nationalismus und tödlichen Faschismus. In der Regel berichten alle diese Zeugnisse aber über die Anfänge der braunen Marodeure in den Städten, wo ihre Marschkolonnen mit viel propagandistischem Getöse zuerst die Machtübernahme probten. Nur in wenigen Zeugnissen werden die Erscheinungsformen dieser verhängnisvollen Entwicklung draußen in der Provinz dargestellt. Oskar Maria Graf hat dies in seinen Büchern mehrmals aus dem Raum der Dörfer im Hinterland der späteren „Hauptstadt der Bewegung“ getan, in der der „Bluthund“ zuerst auftauchte“, so der Schriftsteller Hans Dollinger, der den 1967 verstorbenen Graf noch persönlich kannte, im Nachwort meiner Taschenbuch-Ausgabe.

Dieses Verorten im ländlichen Raum macht insbesondere die „Unruhe um einen Friedfertigen“ zu einem ganz besonderen Zeugnis dieser unsäglichen Zeit. In den Beschreibungen der Bauersfamilien, der Dorfgemeinschaft, in der der altersmilde Pfarrer und die benachbarten Jesuiten zu den moralischen Instanzen gehören, der Krämerladen zum Umschlagplatz für die Neuigkeiten aus „der Stadt“ wird und man trotz der „Schande“ das Kind einer Bauerntochter und des russischen Kriegsgefangenen integriert, wird ein Stück altes Bayern lebendig – Landleben, das Graf, selbst in New York stets in der Lederhose auftretend, im Exil im Herzen mit sich trug.

Sozialist, ohne in einer sozialistischen Partei zu sein, gläubig, ohne dem Katholizismus zu huldigen, heimatverbunden, aber ohne patriotisches Hurra-Geschrei, gepaart mit einem nüchternen Blick auf das Leben und die Menschen: Dies prägte das Schaffen und Schreiben dieses Ur-Bayern. In „Unruhe um einen Friedfertigen“ zeichnet er ein Bild dieser Landbevölkerung, die, als das Geheimnis von Julius Frank, seine Herkunft, sein Judentum, zu Tage tritt, ihn zwar weiterhin als einen der ihren betrachtet – den Unruhestiftern und dem Hass, den der Nationalsozialismus verstreut, jedoch nichts weiter entgegenzusetzen hat denn Gottergebenheit.

„Dunkel hob sich seitwärts die immergrüne Fichtenwand der Waldung ab. Träg und farblos hing der Himmel darüber. Fast wie dieses Land waren all die Leute. Nichts rührte sie als die Jahreszeiten. (…) Der Staat, die Regierung, kurz „das A-bopa“, lag gewissermaßen weit weg von ihnen. Sie trauten ihm nichts Gutes zu, sie liebten und sie haßten es nicht. Es ging sie nichts an, aber sie fügten sich ihm stumpf und murrend. Nicht einmal jetzt, da sie alle schon einige ganze lange Zeit das Treiben der Nazis aus nächster Nähe erlebt hatten und begreifen mußten, was die über sie und ihre Heimat  brachten, stellten sie sich dagegen. Offenbar war ihnen sogar daran nichts gelegen, wenigstens diese ihre Heimat frei zu halten. Jeder von ihnen dachte nur an sich und das, was unmittelbar damit zusammenhing. Darum blieben sie Millionen einzelne, mit denen jeder, der sie zielbewußt beherrschte, leichtes Spiel hatte.“

Man wünschte sich in Zeiten wiedererstarkenden Nationalismus, die Menschen erinnerten sich an die Geschichte, an vergangenes Übel und wären befähigt, gemeinsam gegen das „A-bopa“ einzustehen. Doch täglich sprechen die Nachrichten eine andere Sprache. Die Macht der Literatur ist begrenzt – und dennoch: Wenn ich Oskar Maria Graf lese, dann hoffe ich, dass auch andere ihn lesen und dass seine leib- und lebhaftigen Schilderungen dazu beitragen, die Unruhen um Friedfertige einzudämmen…

Dem Schriftsteller war eine Ausstellung im Literaturhaus München gewidmet: „Rebell, Weltbürger, Erzähler“. Sie beschäftigte sich vor allem mit den langen Jahren des Exils – er verließ Deutschland 1933 und kehrte nur noch zu Besuchen zurück – und gab eindrucksvoll Einblicke in Denken und Werk Oskar Maria Grafs. Heimat, so wurde dabei deutlich, hing für ihn nicht am Konstrukt einer Nation, sondern war „in der Erinnerung an die Landschaft, in der Sprache und unter Freunden zu finden.“

„Ich glaube immer, daß die wahre Heimat die Sprache ist.“

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Louis Begley: Lügen in Zeiten des Krieges / Jerzy Kosinski: Der bemalte Vogel

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Mahnmal Auschwitz. Bild von Peter Tóth auf Pixabay

“Die Universitätsbibliothek bekam einen Treffer und ging in Flammen auf; noch Tage danach fielen mit dem nicht endend wollenden Aschenregen, an den wir inzwischen gewöhnt waren, ganze, noch glühende Buchseiten vom Himmel; manche waren von der Hitze so zusammengebacken, dass sie nicht zerfielen, wenn sie auf dem Boden aufkamen, man konnte noch zusammenhängende Textstücke lesen.”

Louis Begley, Lügen in Zeiten des Krieges, 1991

„Anfangs leuchteten die Flammen wie ein Christbaum, dann loderten sie plötzlich auf und bildeten einen spitzen Feuerhut auf Martas Kopf. Marta war eine Fackel. Flammen hüllten sie von allen Seiten ein, und das Wasser in der Tonne zischte, wenn Fetzen ihrer zerschlossenen Kaninchenfelljacke herunterfielen. Stellenweise schimmerte ihre verrunzelte schlaffe Haut durch die Flammen, und ich bemerkte weißliche Blasen auf ihren knochigen Armen.“

Jerzy Kosinski, Der bemalte Vogel, 1965

Ähnlich und doch so verschieden: Das kennzeichnet die beiden oben zitierten Bücher. Zunächst die Gemeinsamkeiten: Beide Autoren er- und überlebten in ihrer Kindheit und Jugend den Holocaust, beide stammen aus Polen, beide emigrierten in die USA, beide wurden Schriftsteller, Begley allerdings erst im Alter, nach einer langen Karriere als Rechtsanwalt. Beide Bücher sind literarische Verarbeitungen des Überlebten. Beide Bücher erzählen die Geschichte eines Jungen, der durch Verstecken und Versteckt-Werden überlebt, begleitet von der  ständigen Angst vor der Enttarnung. Beide Bücher erreichten Millionenauflagen. Und eine weitere Verbindung: Als “Der bemalte Vogel” in den USA wieder erschien, schrieb Louis Begley dazu ein Vorwort.

In den ähnlichen Biographien der Autoren und in der Rahmenhandlung erschöpfen sich jedoch die Gemeinsamkeiten der beiden Romane, die mit drei Jahrzehnten Abstand erschienen. Während “Kosinkskis zwanghaft ausführliche Beschreibung von Gewalt und Perversion” (so Begley im Vorwort) stellenweise kaum zu ertragen ist, so erschüttert Begleys Erzählung durch die kühle, sachliche, fast nackte Beschreibung der von ihm erfahrenen Wirklichkeit im von den Nazis besetzten Polen. Der Roman rührt an, doch selbst in ihren grausamsten Momenten bleibt die Sprache leise, zurückgenommen, ist es  ein verhaltener Bericht über die Unmenschlichkeit: Fast, als wäre das Schreiben eine Gratwanderung zwischen Befreiung vom Erlebten und der Furcht, die Wunden wieder aufzureißen. Während Kosinski sich in diese Wunden wühlt, förmlich im Blut wälzt.

Ein Inferno der Gewalt

Jerzy Kosinski erspart dem Leser nichts – er führt in ein Inferno der Schändungen, Gewalt und Bösartigkeit, sei es gegen Menschen, sei es gegen Tiere. Streckenweise sind die Beschreibungen kaum erträglich Als Täter treten hier die deutschen Nazis nicht unmittelbar auf – sie sind jedoch diejenigen, die ganze Völkergruppen und Ethnien zum Freiwild erklären, die die Spirale des Bösen in Gang setzen. Nach Erscheinen des Romans brach sich eine Debatte Bahn, ob die Erlebnisse autobiographisch seien und inwieweit der Autor dies vorgespiegelt hätte. Begley nimmt Kosiniski in seinem Vorwort in Schutz, auch aus eigener Erfahrung:

“Die reale und unentbehrliche Quelle, aus der Kosinski für seinen Roman schöpfte, waren die Umstände, unter denen er den Krieg überlebte und die ihn brandmarkten: Die Jahre des Lügens und der unablässigen Angst vor einem Verrat, der ihn der Gestapo ausliefern würde. Seine Albträume und Zwangsvorstellungen waren allein die seinen, so wie die Metaphern, in die er sie schonungslos umwandelte.”

Beide Bücher hinterlassen die Frage, wie man nach diesen Erfahrungen nicht nur über-, sondern auch weiterleben kann, wie man sich vom Verstecken befreien, wie man die Angst und die Lügen, die zur zweiten Natur werden mussten, überwinden kann. Beiden Autoren scheint das Schreiben zumindest ein wenig geholfen zu haben – allein darin schon liegt die Bedeutung und der Wert dieser beiden Romane.

Sei es bei Primo Levi, bei Aharon Appelfeld oder in diesen beiden Romanen – immer wieder ringen die Autoren, die zugleich ja auch Zeitzeugen und Opfer der Geschehnisse sind, mit der Sprache. Es gibt keine Sprache, die das Geschehene adäquat abbilden oder gar ungeschehen machen könnte. Kosinski und Begley haben ganz unterschiedliche Mittel und Metaphern gesucht, um das Unsagbare auszudrücken. Aber beide haben das Wagnis unternommen. Denn Sprache kann, auch in ihren Beschränkungen, zumindest dazu beitragen, dass nicht Vergessen wird. Und im besten Falle, immer noch, trotz der Realitäten in unserer Welt, ein Lernen daraus entsteht – wie die sprachgläubige Idealistin in mir immer noch meint und hofft.

Jerzy Kosinskis Ich-Erzähler verstummt zunächst – doch dann, ganz im letzten Absatz, beginnt er zu sprechen und damit beginnt die Hoffnung: „…mein war sie wieder, die Sprache, und dachte nicht daran, zu der Tür hinauszuhuschen, die auf den Balkon führte.“

Und Louis Begley? „Ist noch etwas von Maciek in dem Mann? Nein, nichts: Maciek war ein Kind, und unser Mann hat eine Kindheit, die zu erinnern er nicht ertragen kann; er hatte sich eine Kindheit erfinden müssen.“

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“Lügen in Zeiten des Krieges”: Verlagsangaben

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#MeinKlassiker (15): Sabine Delorme und die größere Hoffnung

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Bild von Peggy Choucair auf Pixabay

Was diese Frau so alles treibt – dieser Filmtitel würde auch auf Sabine Delorme passen. Auf ihrem Blog „Binge Reading & More“ berichtet sie regelmäßig in der Rubrik „Meine Woche“ über ihre Aktivitäten und ich habe jedes Mal beim Lesen das Gefühl, ihr Tag muss 24 Stunden haben. Und neben den ganzen anderen Kleinigkeiten liest die Frau noch eine ganze Menge – zum Beispiel extra jetzt für die Reihe #MeinKlassiker ein ganz besonderes Buch:

Eigentlich wäre es wohl logischer gewesen, bei Birgits #MeinKlassiker einen zu nehmen, den man sehr liebt und vielleicht mehrfach gelesen hat. Kam ich aber irgendwie nicht drauf. Ich habe von Anfang an die Idee gehabt, einen Klassiker zu nehmen, den ich schon lange lesen wollte und der schon viel zu lange bei mir im Regal stand und mich vorwurfsvoll anschaute.

Mit Ilse Aichingers „Die größere Hoffnung“ wollte ich endlich eine Lücke schließen, der ich mir auch seit der Lektüre von „Ingeborg Bachmanns Wien“ noch einmal bewusster geworden bin. Ich kannte bislang fragmenthaft Aichingers Lebensgeschichte und hatte ein paar ihrer wunderbaren Gedichte gelesen. Bevor ich auf „Die größere Hoffnung“ eingehe, noch ein paar Worte zu ihrem persönlichen Hintergrund, der locker Filmmaterial für 1-2 Streifen bieten würde: die Geschichte von den Zwillingsschwestern, die als junge Frauen unter der Nazi-Herrschaft in Österreich getrennt und Jahre später erst wieder vereint werden. Eine auf dem besten Weg, eine berühmte Schauspielerin zu werden, die andere eine der berühmtesten österreichischen Schriftstellerinnen.

Ilses Schwester Helga lebte in London, seit sie 1939 mit dem letzten Kindertransport dorthin gebracht wurde. Sie lebte dort mit ihrer Tante Klara, einer Linguistin, die Wien ein Jahr zuvor verlassen hatte. Ilse und der Rest der Familie sollten eigentlich kurz darauf nach London ausreisen, doch es war zu spät. Die Grenzen waren geschlossen, die Familie eingeschlossen und insbesondere die jüdische Großmutter der beiden Mädchen in Gefahr. Ihre Mutter Berta war eine der ersten weiblichen Ärzte in Österreich und gleichzeitig auch Komponistin. Besonders gruselig fand ich die Tatsache, dass Ilse und Helga als Kinder Josef Mengele trafen, einen Kollege ihrer Mutter. Mengele erlangte später insbesondere durch seine schrecklichen Versuche an Zwillingen grausame Berühmtheit.

Nachdem Ilse die Schule beendet hatte, arbeite sie in den ersten Kriegsjahren in einer Knopffabrik in Wien. 1942 wurde sie von einem befreundeten Deutschen darüber informiert, dass der Bezirk, in dem ihre Großmutter lebt, von der Gestapo durchsucht werden würde. Ilse versuchte, ihre Großmutter zu warnen, doch sie kommt zu spät. Ihre Großmutter, zu dem Zeitpunkt mit einer Lungenentzündung im Bett liegend, ihr Onkel Felix und ihre Tante Erna waren mitgenommen worden. Nur ihre Mutter Berta konnte sich verstecken, die zu dem Zeitpunkt einen Nachbarn besucht hatte.

Sie schafft es noch, einen Blick auf ihre Familie zu erhaschen bevor sie weggebracht wird und die Bilder, wie die drei eingepfercht in einen Viehtransporter wegfahren, werden sie ein Leben lang verfolgen. Sie wird nie erfahren, was aus ihrer geliebten Großmutter sowie Onkel und Tante wird. Im Roman wird die Großmutter nicht abtransportiert, sondern nimmt sich aus Angst vor Deportation das Leben.

Nach den Deportationen versuchte Ilse Aichinger den Kopf einzuziehen und bloß nicht aufzufallen im besetzten Wien. Sie sehnte sich nach ihrer Großmutter, nach ihrer Zwillingsschwester, mit der sie durch das Rote Kreuz in Kontakt bleiben konnte. Wie ihre Protagonistin Ellen hofft auch Ilse, mit einem Kindertransport in die Freiheit zu gelangen.

Ilse Achingers Stil wurde häufig mit Franz Kafka verglichen mit Blick auf den Symbolismus und Bildsprache und auch ich habe mich beim Lesen von „Die größere Hoffnung“ des Öfteren an Kafka erinnert gefühlt. Der Roman ist ein surrealistischer Bericht, aus der Sicht des Mädchens Ellen erzählt. Sie ist ein Mischling und lebt in Wien, das von den Nazis besetzt ist. Ihren Freunden ist alles verboten, sie haben Angst vor der Gestapo und müssen einen Davidstern tragen. Da sie „nur“ Halbjüdin ist, unterliegt sie nicht den Rassegesetzen und hat daher das Gefühl, nicht komplett zu ihren Freunden zu gehören. Als ihre Freunde verhaftet und die geliebte Großmutter tot ist, läuft sie durch die heftig umkämpfte Stadt auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg …

“Ihre Schuld war geboren zu sein, ihre Angst war, getötet,  und ihre Hoffnung, geliebt zu werden: die Hoffnung, Könige zu sein. Um dieser Hoffnung willen vielleicht wird man verfolgt.“

Der Roman hatte nach Erscheinen nur recht wenige Leser, die Kritiken waren durchwachsen und es ist nie ein riesiger Bestseller geworden. Mich hat das Buch tief berührt. Ich habe unendlich viele Sätze markiert, brauchte immer wieder Pausen zwischen den einzelnen Kapiteln, ein Buch das unbedingt häufiger gelesen werden sollte.

Ilse wird Weihnachten 1947 endlich mit ihrer Zwillingsschwester vereint. Die Reisebeschränkungen der Nachkriegszeit und Geldknappheit hatten eine frühere Wiedervereinigung unmöglich gemacht. Ilse und ihre Mutter reisten 1947 nach Dover, ein Ort, den Ilse ein Leben lang mit Freiheit und Güte gleichsetzte und dem sie in ihrer Kurzgeschichte „Dover“ ein Denkmal setzt. Ilse trat anfangs in die Fußstapfen ihrer Mutter und studierte Medizin, ein Studium, das sie allerdings nach 5 Semestern abbrach, um sich voll und ganz auf die Literatur zu konzentrieren.

Zum ersten Mal in meinem Leben ist im Übrigen eine Autorin gestorben, während ich gerade ihr Buch las, das war ein ausgesprochen seltsames Gefühl und passte seltsam zu der bedrückenden Atmosphäre des Buches. R.I.P. Ilse.

Sabine Delorme
https://bingereader.org/


 

Kathrine Kressmann Taylor: Adressat unbekannt

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Bild von Free-Photos auf Pixabay

Lieber Max,

wie Du sehen kannst, schreibe ich auf dem Geschäftspapier meiner Bank. Dies ist notwendig, denn ich habe eine Bitte an Dich und möchte dabei die neue Zensur umgehen, die äußerst streng ist. Wir müssen für den Augenblick aufhören, uns zu schreiben. Selbst wenn ich kein offizielles Amt bekleidete, wäre es für mich unmöglich, mit einem Juden zu korrespondieren. (…) Was die strikten Maßnahmen betrifft, die Dich so mit Sorge erfüllen: Ich mochte sie zu Beginn auch nicht, doch mir ist inzwischen ihre schmerzliche Notwendigkeit klargeworden. Die jüdische Rasse ist ein Schandfleck für jede Nation, die ihr Unterschlupf gewährt. Ich habe niemals einen einzelnen Juden gehaßt – ich habe Dich immer als einen Freund geschätzt, aber Du weißt, daß ich mit aller Aufrichtigkeit spreche, wenn ich sage, daß ich Dir nicht wegen, sondern trotz Deiner Rasse gewogen war. (…).

Wie immer,
Dein Martin Schulse

1938 veröffentlichte die New Yorker Zeitschrift „Story“ die Erzählung einer bis dahin völlig unbekannten Autorin: Die ehemalige Werbetexterin Kressmann Taylor war auf einige Briefe gestoßen, die sie zu ihrer Geschichte anregten, einem fiktiven Briefwechsel zweier Männer, zunächst Freunde und Geschäftspartner, die ein dramatisches Ende nimmt. “Adressat unbekannt” erregte großes Aufsehen, die erste Buchveröffentlichung hatte einen rasenden Absatz: Mit ihrer sprachlich ganz einfachen, aber lebendigen Shortshortstory traf Kressmann Taylor offenbar bei vielen Lesern einen „moralischen“ Nerv. Das Erstaunliche daran: Nicht nur das frühe Erscheinungsdatum 1938 (zwar war auch in den USA schon die schwierige Situation der Juden in Deutschland bekannt, wie dramatisch es stand, wurde jedoch auch dort erst nach den Pogromnächten im November 1938 öffentlich klar), sondern auch die Zeichnung der Figuren. „Der Nazi“, das ist in dieser Briefnovelle nicht das blutrünstige Monster oder der eiskalte, Monokel-tragende Todesengel, wie ihn Hollywood gerne zeichnete, sondern ein ganz „normaler“ Biedermann. Ein banaler Böser.

In nur 18 Briefen und einem Telegramm entwickelte die Autorin eine Erzählung über die Brüchigkeit von Freundschaft in finsteren Zeiten, über fehlende Loyalität, über Opportunismus und Mitläufertum, über mangelndes Mitgefühl – das ist anrührend, empörend, spannend und dramatisch.

Max Eisenstein und Martin Schulse betreiben 1932 gemeinsam eine Galerie in San Francisco. Während der Jude Max Eisenstein in den USA bleibt, kehrt Schulse mit seiner Familie nach Deutschland zurück. Nur wenige Monate später hat sich der Opportunist zum Vollblut-Nazi entwickelt, kündigt die Freundschaft auf, geht auf Distanz. Da erreicht ihn eine letzte dringende Bitte seines ehemaligen Freundes aus den USA: Er möge seiner Schwester Griselle, die noch in Deutschland ist, zur Flucht helfen – Schulse verweigert dies nicht nur, sondern liefert die Frau, mit der er einst ein Verhältnis hatte, sogar den Nazi-Schergen aus. Doch dies ist noch nicht der Höhepunkt der kleinen Briefnovelle – Kressmann Taylor gab der Geschichte nochmals eine überraschende Wende, die hier jedoch nicht verraten sein soll.

Trotz der zahllosen Leser geriet die Erzählung später in Vergessenheit – bis sie 1992 erneut in „Story“ abgedruckt und schließlich auch in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Denn, so Story-Herausgeberin Lois Rosenthal, die Briefnovelle ist von hoher Aktualität:
„Die neonazistischen Strömungen im wiedervereinten Deutschland, das erneute Aufkeimen von antisemitischen Haltungen in Osteuropa und die zunehmende Popularität der weißen Supermatisten in den Vereinigten Staaten klangen wie ein unheimliches Echo der Vergangenheit.“

Erschienen bei Atlantik – mehr Information zum Buch hier.

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