Jürgen Serke: Die verbrannten Dichter

Zum 90. Jahrestag der Bücherverbrennung kam in einer prächtigen Neuauflage „Die verbrannten Dichter“ von Jürgen Serke wieder heraus. Wie kein anderer hat der Autor dazu beigetragen, die Literatur der Weimarer Republik wieder ins Gedächtnis zu rufen.

„Der Blumenhändler, drei Häuser weiter, kennt sie ebenfalls. An ihm vorbei geht Irmgard Keun in den Tag hinaus und in die Kneipen hinein. Sie hat eine große Tochter, eine kleine Rente und keinen Halt mehr. Die Freunde von einst sind tot. Es ist schwer, etwas Totes mit sich herumzutragen.“

Jürgen Serke, „Die verbrannten Dichter“


Als der Journalist Jürgen Serke die Autorin Irmgard Keun, die in der Weimarer Republik als junge Frau mit nur zwei Romanen für Aufsehen sorgte, Jahrzehnte später in Bonn besucht, hat sie „panische Angst, in ihrem Elend erkannt zu werden.“ Serke lernt eine 66-jährige Frau kennen, deren einzige Rettung es scheint, „die Gefühle niederschlagen, um nicht von ihnen niedergeschlagen zu werden.“

„Nur kein Gejammere!“: Das ist die Devise einer Frau, die bei den Gesprächen mit Serke lebensüberdrüssig wirkt, im Alkohol das Vergessen sucht. Wohl auch das Vergessen der Tatsache, dass sie selbst als Autorin zu den Vergessenen gehört. Zumindest letzteres wird sich ändern. Bereits 1980 kann Jürgen Serke an sein Portrait, das im „stern“ veröffentlicht wurde, einen Nachtrag anfügen: Ein Verlag wurde gefunden, der ihr Gesamtwerk herausgibt. Die Reportage sorgte für eine Wiederentdeckung der Autorin, ein wenig Nachruhm, den sie noch bis ihrem Tod 1982 genießen konnte. Ihre Bücher – „Das kunstseidene Mädchen“, „Nach Mitternacht“, „Kind aller Länder“, um nur die wichtigsten zu nennen – erfahren seither regelmäßig Neuauflagen.

Vom Widerstand der Dichter

Es ist dieser unvergleichliche Verdienst, den Jürgen Serke und Fotograf Wilfried Bauer für die deutsche Literatur leisteten: Mit ihren Artikeln über Dichterinnen und Dichter, deren Bücher im Nationalsozialismus verbrannt wurden, holten sie nicht nur deren Werke, sondern auch deren Schöpfer in das Bewusstsein zurück. Jürgen Serke hatte für die Artikelserie, die unter dem Titel „Die verbrannten Dichter“ 1976 im „stern“ erschien – damals noch ein Magazin mit einer Auflage von fast zwei Millionen Exemplaren – zuvor jahrelang privat recherchiert. Eine Initialzündung war für ihn, so schreibt der heute 85-jährige im Nachwort zur Neuauflage im Wallstein Verlag, seine Zeit als Korrespondent in Prag, das Miterleben des „Aufstands der Dichter gegen den Machtmissbrauch des kommunistischen Regimes“:

„In Prag wurde ich, was ich heute bin: als Journalist ein Bewahrer des literarischen Widerstands gegen die beiden Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts in Mitteleuropa.“

Im Deutschen Reich war die nationalsozialistische Diktatur besonders gründlich, mit typisch deutscher bürokratischer Effektivität, gegen die Intellektuellen vorgegangen. „Im Mai 1933 strich Adolf Hitler eine ganze Generation von Schriftstellern aus dem Bewusstsein des deutschen Volkes“, heißt es im Vorspann zu „Die verbrannten Dichter“. Gemeint sind damit die Bücherverbrennungen, die im Mai 1933 begannen, ein symbolhafter Akt, um alles, was nicht der nationalsozialistischen Ideologie entsprach, zu vernichten. Berufsverbote, Inhaftierungen, Folter und Konzentrationslager trafen die Schöpfer dieser Werke. Manche überlebten den Terror nicht, andere, wie Ernst Toller, begingen Suizid oder starben einsam und verarmt im Exil wie Else Lasker-Schüler.

Bücherverbrennung und Menschenvernichtung

„Die Bücherverbrennung wirkte über den Zusammenbruch des «Dritten Reiches» hinaus. Was in den zwanziger Jahren gedichtet wurde, blieb weitgehend vergessen bis zum heutigen Tag.“

Wäre da nicht Jürgen Serke gewesen, der die Popularität des „stern“ nutzen konnte, um einige Namen dem Vergessen zu entreißen. Der darüber hinaus aber auch bei vielen Leserinnen und Lesern, insbesondere jedoch auch bei Verlagsmenschen das Bewusstsein schärfte für diesen literarischen Reichtum der Weimarer Republik, wie auch Verleger Thedel v. Wallmoden nun in der Neuausgabe, die zum 90. Jahrestag der Bücherverbrennung im Wallstein Verlag erschien, im Vorwort schreibt.  Für die Wiederentdeckung der verfemten Literatur habe wohl kaum eine andere Initiative „eine derart breite Wirkung wie Jürgen Serkes Artikelserie“ erzielt.

Die von Jürgen Serke portraitierten Autorinnen und Autoren, darunter Ernst Toller, Irmgard Keun, Claire Goll, Klabund, Erich Mühsam, Else Lasker-Schüler und andere waren nach dem Ende des Nationalsozialismus „präsent und zugleich vergessen“, so der Verleger in seinem Vorwort zum Buch.

„Es war ein Paradox: Jeder hätte diese Autorinnen und Autoren treffen können und vor allem hätte jeder ihre Bücher lesen können. Aber „die verbrannten Dichter“ spielten im literarischen Leben, in den Feuilletons und wohl auch im Deutschunterricht jener Jahre keine Rolle.“

Literarische Portraits

Bis Jürgen Serke kam. Es ist sicher diese Mischung aus journalistischem Bericht und literarischem Portrait, die Verbindung von Werk, Person und den sensiblen Kommentaren des Berichterstatters, die diese Reportagen bis heute zu einer faszinierenden Lektüre machen. Und zu einer profunden Quelle für jeden, der sich für die Literatur der Weimarer Republik interessiert. Nicht alle, die Serke in den 1970ern vorstellte, sind jedoch auch heute noch so präsent wie beispielsweise Irmgard Keun oder Alfred Döblin. Auch darin mag eine Chance der aufwendig gestalteten Neuauflage (die Artikelserie erschien in den 1970ern bald auch als Buch, später folgte eine Taschenbuch-Ausgabe) liegen: Noch einmal beispielsweise Jakob Haringer, das „Schandmaul“, das zu Gott betet oder Franz Jung, der Poet, der „Lenin die Leviten“ las, ins Gedächtnis zu holen.

Ergänzt werden die ausführlichen Portraits durch zwei weitere Kapitel mit kurzen Vorstellungen von Dichtern und ihren Büchern. In „Ein Blick zurück nach vorn“ werden unter anderem Oskar Maria Graf, Theodor Kramer, Franz Hessel und andere erwähnt, bei „Büchern, über die einst jeder sprach“ sind Werke von Gertrud Kolmar, Ernst Weiß, Johannes R. Becher und anderen zu finden. Dies sowie die zahlreichen Abbildungen – neben den eindrucksvollen, berührenden Portraits von Wilhelm Bauer auch Original-Cover, Archivfotos und Illustrationen – sowie ein ausführliches Literatur- und Quellenverzeichnis machen diesen Band zum Dokument einer literarischen Epoche, die beinahe aus unser aller Gedächtnis gelöscht worden wäre.

Und zu einem Buch, das zeigt, wie gefährdet das geschriebene Wort und seine Schöpfer immer wieder sind. Jürgen Serke im Nachwort:

„Die Nacht war lang im 20. Jahrhundert der Totalitarismen. Seit 1989 ist die europäische Welt wieder vereint. Mit dem Überfall der Ukraine durch Russland senkt sich wieder Dunkelheit auf Europa und zeigt, wie aktuell die Aufgaben des Zentrums für verfolgte Künste geblieben sind. Wieder spielt der Widerstand eine überragende Rolle.“

Die Literatursammlung von Jürgen Serke mit ihren über 2.500 Objekten (Büchern, Dokumenten, handschriftlichen Briefen, Typoskripten und Fotos) ist als Dauerausstellung mit dem Titel „Himmel und Hölle zwischen 1918 und 1989. Die verbrannten Dichter“ im Zentrum für verfolgte Künste im Kunstmuseum Solingen zu sehen.



Bibliographische Angaben:

Jürgen Serke
„Die verbrannten Dichter“
Lebensgeschichten und Dokumente
Wallstein Verlag, 2023
ISBN: 978-3-8353-5388-6

Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen

Mit dem „kunstseidenen Mädchen“ brachte Irmgard Keun einen weiblichen Ton in die Literatur, der so gar nicht zum Frauenbild der Nationalsozialisten passte.

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Bild von Sarah Lötscher auf Pixabay

„Tilli sagt: Männer sind nichts als sinnlich und wollen nur das. Aber ich sage: Tilli, Frauen sind auch manchmal sinnlich und wollen auch manchmal nur das. Und das kommt dann auf eins raus“.

Irmgard Keun, „Das kunstseidene Mädchen“


Sie vertrat die falschen Ansichten. Sie hatte eine Meinung. Und: Sie war selbstbewusst und frei. Alles, was eine Frau in Nazi-Deutschland nicht sein durfte. So musste auch Irmgard Keun (1905 – 1982) den Unrechtsstaat verlassen – kurz, nachdem sie mit dem „kunstseidenen Mädchen“, ihrem zweiten Buch, einen Sensationserfolg erzielt hatte. Aber die darin geschilderte Frauenfigur passte eben so gar nicht zum Frauenideal des Dritten Reiches: Zu kess, zu flatterhaft, zu eigenständig – das ist die 18jährige Doris, die Kunst- und Halbseidene, die in der Metropole Berlin unbedingt „ein Glanz“ werden möchte.

Glamour und Götterdämmerung

Das gelingt am Ende nicht – zum einem, weil Doris mit ihrem weichen Herzen und dem Hang zu falschen Männern halt doch nicht ganz zum Glanz taugt, zum anderen, weil die Umstände nicht so sind in der Weimarer Republik. Denn Doris schildert nicht nur das schillernde und glitzernde Berlin der 20er Jahre in ihrem unablässigen monologischen Gedankenfluss – Keun, als Vertreterin der „Neuen Sachlichkeit“ zeigt in diesem Roman, dass auch sie den „stream of consciousness“ perfekt beherrscht – sondern auch die Schattenseiten. Götterdämmerung ist angesagt: Armut, Arbeitslosigkeit, Nationalismus, Antisemitismus, Rassenhass…all das sind die Unter- und Hintergründe, die durch die (nur scheinbar) belanglose Plauderei der kleingroßen Naiven durchschimmern. Und nicht zuletzt ist „Das kunstseidene Mädchen“ auch einer der herausragenden Großstadtromane dieser Zeit. Die pulsierende Metropole, betrachtet aus den großen Augen einer staunenden Frau:

„Und ich kam an auf dem Bahnhof Friedrichstraße, wo sich ungeheures Leben tummelte. Und ich erfuhr, daß große politische Franzosen angekommen sind vor mir, und Berlin hatte seine Massen aufgeboten. Sie heißen Laval und Briand – und als Frau, die öfters wartend in Lokalen sitzt, kennt man ihr Bild aus Zeitschriften. Ich trieb in einem Strom auf der Friedrichstraße, die voll Leben war und bunt und was Kariertes hat. Es herrschte eine Aufregung! Also ich dachte gleich, daß sie eine Ausnahme ist, denn so furchtbare Aufregung halten auch die Nerven von einer so enormen Stadt wie Berlin nicht jeden Tag aus.“

Zeitgemäßes Frauenbild

Doris, die einerseits ein kunstseidenes Mädchen und andererseits doch eine ganz starke Frau ist, scheitert und bleibt allein – als hätte Irmgard Keun ihren eigenen Lebensweg vorgezeichnet. Man mag an dem Frauenbild und Frauentyp zweifeln – trotz ihres Ehrgeizes, aufzusteigen und aus den kleinen Verhältnissen ihrer Familie auszubrechen, verkörpert Doris eben nicht die neue, emanzipierte Frau, sondern das Mädchen, das sich verkauft. Aber auch das ist immer noch zeitgemäß:

„Aktuell sind gerade heute Stoff wie Schreibweise. Junge Mädchen, die als Germanys next Topmodel oder als Schlagersternchen „ein Glanz werden“ wollen, sehen, wie Keuns Doris, in einer Krisenzeit keine anderen Möglichkeiten für sozialen Aufstieg.“

Sonja Hilzinger in einem Portrait bei der Deutschen Welle:

„Und so war auch das Buch, so wie das Leben, so wie im Film, schnell und oberflächlich und genau, weltmitschreibend, sich selbst verschenkend an die Welt, spielend mit der Welt, Schritt für Schritt Berlin erobern, die Männer erobern, das Leben erobern. Nicht mit Arbeit. Mit einem Glanz, der von innen kommt, mit einem Magnetismus, der die Welt tanzen lässt, um das kunstseidene Mädchen herum.“

Volker Weidermann in „Das Buch der verbrannten Bücher“.

Doch der Tanz wird – die Zeitumstände sind schuld daran, zugleich aber auch eine charakterliche Disponierung zum Alles-Verschlingen, zur Sucht, zur Selbstzerstörung – der Tanz also wird zum traurigen Walzer. Denn Irmgard Keun war sicher nicht das, was man eine in sich ruhende Persönlichkeit nennen könnte – zu temperamentvoll, zu sprunghaft, zu lebenslustig und lebenshungrig.

Wenn man Glück mit den Männern haben will, muß man sich für dumm halten lassen.

Und manches Mal auch mutig bis hin zum Übermut: Ihr erster Roman „Gilgi – eine von uns“ (1931) machte sie über Nacht berühmt, 1932 folgt der Bestseller „Das kunstseidene Mädchen“, 1933 werden ihre Bücher von den Nazis beschlagnahmt und verboten. Bevor Keun jedoch ins Exil flüchtet (und dort Joseph Roth, ihrem Schicksalsmann, wie unter anderem auch in Weidermanns „Ostende“ beschrieben, begegnet), legt sie sich mit der Zensur an: Sie erhebt Schadensersatzklage wegen des Verdienstausfalls, den sie durch die Beschlagnahmung ihrer Bücher erlitten habe. Zugleich aber beantragt sie auch die Aufnahme in die Reichschrifttumskammer. Auch das ist ein wenig kunstseidene Doris – die Hin- und Hergerissenheit zwischen den Möglichkeiten und dem Notwendigen. Manches wird später zurechtgebogen von ihr selbst und überhöht – eine Gestapo-Haft erlebte sie nie, auch nicht Folter und Verhöre.

Die Keun-Biografin Hiltrud Häntzschel schreibt in ihrer Monographie (Rowohlt Taschenbuch) über Irmgard Keun:

„Irmgard Keun hatte zur Wahrheit ihrer Lebensumstände ein ganz spezielles Verhältnis: mal aufrichtig, mal leichtsinnig, mal erfinderisch aus Sehnsucht nach Erfolg, mal phantasievoll aus Lust, unehrlich aus Not, mal verschwiegen aus Schonung.“

Ganz so, wie auch das kunstseidene Mädchen war.

In ihrer Heimat kann sie nicht mehr arbeiten, verlassen will sie sie jedoch ebenfalls nicht. 1936 ist es jedoch unumgänglich, Irmgard Keun flieht in das Exil. Es folgen Wanderjahre, Existenzsorgen, zudem ein zunehmender Alkohol- und Tablettenmissbrauch, vor allem aber treibt Irmgard Keun die Sorge um die im Deutschen Reich zurückgebliebene Mutter und das Heimweh um. 1940 kehrt sie heimlich – aber von den Nazis wohl durchaus wahrgenommen – nach Deutschland zurück, überlebt in der Illegalität. Nach Kriegsende fällt es ihr, wie vielen anderen Autoren der Weimarer Republik auch, schwer, im Literaturbetrieb wieder Fuß zu fassen.

Kunstseidene wird Trümmerfrau

Eigentlich wäre „Das kunstseidene Mädchen“ auch eine Frau der zweiten Nachkriegszeit in Deutschland – eine, die sich durchschlagen muss, durchaus selbstbewusst und frech, die aus der Not heraus versucht, das Beste aus ihren Lebensumständen zu machen, eine Frau, die „ihren Mann“ steht. Aber es scheint, als habe die neue Zeit keinen Raum für diese schnodderige Sprache mehr, keinen Sinn mehr für diesen Stil, der doch eng auch mit den „Roaring Twenties“ verknüpft ist. Das Frauenbild der Weimarer Republik hat ausgedient, die Kunstseidene wird zur Trümmerfrau.

Bei Irmgard Keun im wahrsten Sinne des Wortes – sie verarmt immer mehr, lebt kurzfristig in einem zerbombten Haus, immer weiter geplagt von ihren Abhängigkeiten. Kurze Phasen von Produktivität wechseln sich mit Krankenhausaufenthalten ab, 1966 wird sie dann für Jahre in die Psychiatrie eingewiesen. Nach ihrer Entlassung 1972 erlebt sie wenigstens in ihren letzten Lebensjahren als Schriftstellerin neue Beachtung – sie wird als Stimme der Weimarer Republik von Jürgen Serke im Rahmen seiner Recherche für seine verdienstvolle Stern-Serie „Die verbrannten Dichter“ wiederentdeckt, ihre Bücher werden wieder aufgelegt und erfahren erneut größeres Interesse. 1982 stirbt Irmgard Keun in Köln.

Was von ihr bleibt?

Ihre Romane, nicht nur „Das kunstseidene Mädchen“, auch die „Gilgi“ oder das bedrückende Buch „Nach Mitternacht“. Eine Frauenstimme, die klingt zwischen Lebenshunger und Verzweiflung. Die Sehnsucht nach der dunkelblauen Glocke wie im kunstseidenen Mädchen:

„Ich wünsche mir sehr mal die Stimme von einem Mann, die wie eine dunkelblaue Glocke ist und in mir sagt: hör auf mich; was ich sage, ist richtig; und wünsche mir dann ein Blut in mein Herz, was ihm glaubt…“