Max Brod ist als Nachlassverwalter und Freund von Franz Kafka in Erinnerung. Aber auch seine eigenen Romane sind eine Entdeckung wert. Das goldene Prag der Zwischenkriegszeit lebt in “Arnold Beer” wieder auf. Ein kurzes Lesezeichen.
“Und nur eines hatte ihm der Vater verboten, in den Shakespearebänden den Othello. Arnold befolgte auch getreu diese Absperrung, ängstlich wich er dem Stück aus, obwohl seine Neugierde aufs höchste erregt war und niemand ihn überwachte (…). Und als Arnold, zu Jahren gekommen, später einmal diesen fürchterlichen “Othello” durchnahm, fand er zwar gleich in der ersten Szene eine obszöne Phrase, im Ganzen aber nichts, was dieses Stück vor den vielen, die er lesen gedurft hatte, ausgezeichnet hätte. Derartige Phrasen hatte er ja als Kind zu hunderten unverstanden eingeschluckt. Und so blieb ihm dieses Verbot seiner Kinderjahre weiterhin ein Geheimnis, über das er seinen Vater aus Respekt auch nachmals nicht weiter auszuforschen sich getraute.”
Aus: “Arnold Beer. Das Schicksal eines Juden”, Max Brod, 2013 wieder aufgelegt beim Wallstein Verlag.
Max Brod, der enge Freund und Nachlassverwalter Kafkas, der dessen Werke gegen dessen Anweisung nicht vernichtete, sondern sie für die Nachwelt erhielt und veröffentlichte, war zu seiner Zeit selbst ein äußerst erfolgreicher Schriftsteller. Seine eigenen Romane sind heute jedoch eher vergessen, sein eigenes Werk steht im Schatten Kafkas. Der Wallstein Verlag gab einige von Brods Büchern, ausgewählte Werke, vor wenigen Jahren wieder heraus – was für ein Schatz! Wunderbare Entdeckungen waren für mich “Die Frau, nach der man sich sehnt”, der historische Roman “Tycho Brahes Weg zu Gott”, aber vor allem “Arnold Beer. Das Schicksal eines Juden”. Die ersten sechzig Seiten, so Peter Demetz in seinem Vorwort, “zählen zu den besten, die Brod je geschrieben hat”. Beurteilen kann ich dies nicht: Dazu habe ich noch zu wenig von Max Brod gelesen. Aber nachvollziehen kann ich, was Demetz weiter über diesen kurzen Roman aus Brods Frühwerk schreibt: ” (…) kein anderer Schriftsteller hat die kleine Welt der Prager assimilierten Jeunesse dorée vor dem Ersten Weltkrieg danach mit größerer Detailtreue und ratloserer Skepsis gezeichnet.”
Schon die ersten Seiten, in denen das Kind Arnold dem Lesefieber verfällt, die Szenen, wie er unter der Aufsicht des Vaters nur ausgewählte Werke aus dem ansonsten verschlossenen Bücherschrank entnehmen darf, sind so lebhaft und plastisch geschildert, dass man sich das bürgerliche Wohnzimmer der Prager Familie deutlich vorstellen kann. Und zugleich hat dieser Ausschnitt bei mir Erinnerungen geweckt an die eigene Lesebiographie. Shakespeare gab es in unserem Haushalt nicht, aber Leseverbote schon: Auf keinen Fall sollte ich die Angélique-Reihe anrühren, zu verrucht! Mir ging es später wie dem erwachsen gewordenen Arnold: Die verruchten Stellen zauberten lediglich ein kleines Schmunzeln hervor…
„Jedes Gedicht wie ein Grabstein, auf dem nur das Geburtsdatum steht, unwiederholbar vorbei, was nicht aufhört, in deinem Kopf aufzuschwärmen, Aufruhr im Gedankenfleisch (…) Jede Zeile wie ein Schluck, ätzend, jeder Schluck ein Bollwerk gegen alles, was nicht inspiriert ist, gegen das Leiden der Kreatur, die Panik, eines Zombies Pilgerfahrt zu sein.“
Henning Ziebritzki, „Vogelwerk“
Die Wandertaube, sie ist in diesem Vogelwerk die einzige ihrer Art, die bereits ausgestorben ist – symbolhaft steht sie da, in diesem schmalen Band, für das, was in unserer Natur, in der Welt allgemein verloren geht. Damit meine ich nicht nur den tatsächlichen Raubbau an unseren Ressourcen, sondern auch das Talent des Menschen innezuhalten, still zu beobachten.
Der Anblick einer Amsel, die sich „aus ihrem Geräuschversteck“ schüttelte, gab dem Lyriker und evangelischen Theologen Henning Ziebritzki den Anstoß zu diesen 52 Gedichten, als er mitten in einer Schreibkrise steckte. Poetische Ornithologie in nüchternem Sprachgewand: Keine rauschhaften, mystisch aufgeladenen Naturbeobachtungen bietet dieser Band, sondern eher präzise-sachliche Beschreibungen, eingekleidet in Alltags- und Innenbetrachtungen, einer in „Unruhe geratenen Subjektivität“, wie es in einer Besprechung durch Kristian Kühn in „Signaturen“ heißt.
So beim „Grünspecht“:
„(…) Leuchtender wird sein Grün, sein Rot, weil die Sonne zu seinem Gefieder spricht, der Nebel mit seinem Flug, als er rufend fortfliegt, sein Gellen Stille wird, die mit sich spricht.“
Für „Vogelwerk“, an dem Ziebritzki sechs Jahre arbeitete, erhielt er heuer den wichtigsten deutschen Lyrikpreis, den Peter-Huchel-Preis. Eine nicht unumstrittene Entscheidung, wie Kritiker Tobias Lehmkuhl im Deutschlandfunkurteilte:
„Es ist ein schöner Band, es ist ein guter Band, es ist ein sehr lesbarer Band“, sagt er. Aber er sei wenig aufregend. „Also, die Sprache ist hier Mittel zum Zweck, die Sprache ist nicht so aufgeladen, nicht zum Zerreißen gespannt. Sie ist halt Werkzeug in dieser Naturbetrachtung, Naturbeschreibung, aber sie geht kein Wagnis ein.“
Unabhängig von der Debatte um die Preiswürdigkeit: Lesenswert ist das „Vogelwerk“ allemal. Es bietet in einer Zeit, in der wir umgeben sind von aufgeregtem digitalen Gezwitscher, Momente der Stille, der Ruhe, die in uns erst dazu befähigen können, den dunklen Schrei des Habichts zu hören oder die „flackernde Flamme“, die die Wassertaube hinterlässt, wahrzunehmen.
Denn dieses Innehalten, das Verharren, das Warten, das Beobachten und damit auch die Zurückgeworfenheit auf das eigene Ich, das ist es, was diese sachliche gehaltene Poesie beinhaltet und den Leser bieten kann. Beim Beobachten von Amsel, Rotdrossel, Teydefink und Kormoran werden die Fragen aufgeworfen, die das Menschsein ausmachen: Leben, Sterben, Einsamkeit, Zweisamkeit, Vergänglichkeit. Solchermaßen begründete auch die Jury für den Peter-Huchel-Preis ihre Entscheidung:
“Henning Ziebritzkis dritter Gedichtband ‚Vogelwerk‘ lässt sich keineswegs einfach als beschauliche Ornithologie oder poetische Mimesis der Schöpfung beschreiben. … Vielmehr hat Ziebritzki in 52 Gedichten, die jeweils mit einem Vogelnamen überschrieben sind, ein lyrisches Kalendarium sinnlicher Grenzerfahrungen und Überwältigungsmomente geschaffen. Den Porträts jeder einzelnen Vogelart ist immer auch ein Selbstporträt des lyrischen Subjekts eingeschrieben. Dabei spricht kein unbeteiligter, in sich ruhender Beobachter, sondern einer, der sich existenziellen Fragen aussetzt.”
Es ist der Weißstorch, der für eine gewollte Verlangsamung der Zeit steht:
„Mehr Schnabel als Kopf, mehr Warten als Bewegen, als Suchen und langsames Abmessen, ein Stocken, ein Schreiten, das Rückschritt bleibt (…)
Informationen zum Buch:
Helmut Ziebritzki Vogelwerk Wallstein Verlag, 2019 Gebunden, 64 Seiten, 18,00 Euro ISBN 978-3-8353-3554-7
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Wie ist es mit der Übertragung traumatischer Erfahrungen, wie prägen uns die Erlebnisse unserer Eltern? Susanne Fritz mit einer besonderen Spurensuche.
„Doch was ist ein authentischer Ort, was ist eine authentische Geschichte? Der Heimatort meiner Mutter war für mich schon immer ein erzählter, fiktiver Ort, wie seine Bewohner schon immer erzählte, fiktive Bewohner waren, von denen manche plötzlich auf Besuch in unserem Garten standen. Fiktion und Wirklichkeit bildeten ein und dasselbe Gewebe, dessen Farbe je nach Lichteinfall changierte. Schwerenz heißt die Stadt, die ich in mir trage – namensgleich, doch nicht identisch mit der historischen Stadt Swarsędz/Schwersenz bei Poznán/Posen. Was habe ich von der Stadt, die ich in mir trage – über Pflaumenkuchen und Wespen, vor denen ich mich in Acht nehme, hinaus – in der Hand?“
Susanne Fritz, „Wie kommt der Krieg ins Kind“
„Wenn Krankheiten auftauchen, fragen wir nach unserem genetischen Erbe“, stellt Susanne Fritz in diesem sehr persönlichen Buch an einer Stelle fest. Wie aber ist es mit der epigenetischen Übertragung traumatischer Erfahrungen, wie prägen die Erlebnisse unserer Eltern, unserer Großeltern unsere eigene Biographie? Wie viele Generationen wird es dauern, um die Wunden, die Krieg, Vertreibung und Flucht aufreißen, tatsächlich zu heilen? Wie lange setzt sich das Verlustgefühl fort, wenn eine Familie ihre Heimat verliert, wenn die Vorfahren entwurzelt werden, wenn sich das Erlebnis, fremd zu sein, dort wohin es einen verschlägt, von Generation zu Generation wiederholt?
Das Gefühl des Fremdseins
Die 1964 geborene Schriftstellerin, die im Schwarzwald aufwuchs, kennt dieses Fremdheitsgefühl, das ihr als Kind von Heimatvertriebenen begegnet. Doch mehr noch, so wird in ihrem Buch deutlich, treibt sie das lebenslange Schweigen ihrer Mutter zum Schreiben, ein Schreiben, das zum Ringen um Wirklichkeit und Wahrheit, zum biographischen Aufarbeiten einer Familiengeschichte bis hin zum Versuch, sich das eigene Leben zu erklären, wird.
Die Mutter der Autorin und Regisseurin wird als 14-jähriges Mädchen in das polnische Arbeitslager Potulice interniert, vier Jahre verbringt sie dort, bis sie zu ihrer Mutter und der älteren Schwester in den Westen kann. Vier Jahre, über die die Frau nichts erzählt:
„Meine Mutter konnte von entwaffnender Offenheit sein im plötzlichen Wechsel mit hartem, undurchdringlichem Schweigen. Plötzlich stieß man an eine unsichtbare, unverrückbare Wand. Wo liegt die Trennlinie zwischen dem Erzählbaren und dem Unsagbaren, der unterhaltsamen makaber-witzigen Anekdote und dem Erzähltabu, dessen Nichteinhaltung Panik zur Folge hatte?“
Das Schweigen legt sich jedoch nicht nur über die Erlebnisse in dem Lager, in dem unmenschliche Verhältnisse herrschten, sondern auch über die Vorgeschichte der Familie, die eng verbunden ist mit den politischen Wechselspielen des vergangenen Jahrhunderts: Erst gehörte Swarsędz/Schwersenz zum Deutschen Reich, wurde 1919 mit dem Versailler Vertrag der jungen polnischen Republik zugesprochen, dann von den Nationalsozialisten besetzt und schließlich 1945 von den Russen erobert.
Dokumentarische Recherche und fiktionales Schreiben
Susanne Fritz recherchiert die Familiengeschichte, verwebt – ähnlich wie Ursula Krechel beispielsweise in „Landgericht“ – dokumentarische Recherche und fiktionales Schreiben zu einem Gesamtbild. Ihre Suche nach Antworten bringt nicht in allen Fällen Licht in die Vergangenheit: Ob ihr Großvater, der eine deutsche Bäckerei betrieb, Mitläufer oder Täter war, ob in der Familie nationalsozialistisches Gedankengut bedenkenlos übernommen wurde oder ob man in einer Art stillschweigenden Übereinkunft mit den polnischen Nachbarn zu überleben versuchte, dies bleibt ungewiss.
Doch schrittweise dringt die Autorin mehr und mehr in die Kindheit ihrer Mutter vor, beginnt zu verstehen, wandelt das Ungesagte in Geschriebenes um. „Mutter.Sprache“, „Macht.Worte“, „Buch oder Leben“: Die Kapitelüberschriften deuten an, wie sehr in dieser Konstellation auch Susanne Fritz um ihre Sprache ringt, auslotet, wie weit ihr Schreiben gehen kann und gehen darf – auch in Rücksicht auf die Mutter, die dem Trauma keine Stimme geben wollte und geben konnte.
Die Perspektive der Vertriebenen
So ist dieses Buch nicht nur in politischer Hinsicht ein bedeutsames, besonderes Werk, das eines der Wenigen ist, das die Perspektive der Vertriebenen auf diese Weise auslotet, sondern auch ein Buch über die Macht und Ohnmacht des Wortes und über die Verantwortung Schreibender. Jede Autorin, jeder Autor hinterlässt in jedem seiner Werke ein Stück seines Lebens – eine vom Schreibenden losgelöste Fiktion existiert nicht. Dies ist meine Überzeugung. Und von Susanne Fritz wird dies indirekt bestätigt: Nach der Veröffentlichung ihres ersten Romans, den sie von jedem biographischen Hinweis frei glaubte, kommt es zum Zerwürfnis mit der Mutter, die in und zwischen den Zeilen von sich zu lesen glaubt.
„Langsam begriff ich. Der Krieg war nicht zu Ende. Der Irrsinn vergangener Tage wütete in unserem Haus.“
Jahrzehnte später nun dieses Buch, mit dem das Trauma sichtbar gemacht wird.
„Nun wurden Haus und ehemalige Bäckerei mir sozusagen in den Schwarzwald hinterhergetragen. Also, habe ich Pläne für unser Haus? Ja, habe ich. Das Haus soll ein Buch werden. Ein Text, der seiner steinernen Gestalt nicht mehr bedarf. Ein Papierhaus. Ein Buchstabenhaus.“
Ein Haus aus Buchstaben und darin Backsteinenzeilen voller Geschichte, mit einer spröden und doch so sinnlichen Sprache gebaut, ein Haus, das von vielen Leserinnen und Lesern besucht werden sollte.
Informationen zum Buch:
Hier der Link zu einer empfehlenswerten Besprechung im Deutschlandfunk.
Wie kommt der Krieg ins Kind Susanne Fritz Wallstein Verlag Göttingen, 2018 20,00 Euro 268 S., geb., Schutzumschlag ISBN: 978-3-8353-3244-7
Als „Jahrgang 1902“ erscheint, ist Glaeser erst 26 Jahre alt. Das Debüt wird aus dem Stand zum Erfolg. Es traf den Nerv einer traumatisierten Generation.
„Pfeiffer sammelte weder Granatsplitter, noch klebte er auf die Flaschen die Photos der Generäle. Pfeiffer hatte auch keine Landkarte, auf der er die Front absteckte, nicht einmal ein schwarz-weiß-rotes Abzeichen oder einen Stempel: „Gott strafe England!“ Statt dessen machte er Botengänge, kehrte manchen Bürgern Samstags die Straße und verdiente damit monatlich 3,50 Mark, die er seiner Mutter genau ablieferte. Der zwölfjährige Junge war Zivilist, wir spürten das, ohne es formulieren zu können – deshalb verprügelten wir ihn. Er überwand diese Prügel, indem er sie aushielt.“
Ernst Glaeser, „Jahrgang 1902“
Heranwachsende zwischen den Fronten, Kinder, die andere Kinder als Zivilisten bezeichnen, deren kindliche Spiele Krieg statt Frieden simulieren, die sich zunächst in den Ferien mit französischen Gleichaltrigen wortlos verstehen können und dann ebenso wortlos anfeinden müssen, deren erste Liebe von Bombensplittern zerfetzt wird: Mit diesem Psychogramm einer Jugend in Deutschland wurde Ernst Glaeser in der Weimarer Republik, der Zwischenkriegszeit, zum literarischen Star. Anders als bei den ebenfalls in diesen Jahren erschienenen Romanen von Erich Maria Remarque und Arnold Zweig steht nicht der Frontsoldat im Mittelpunkt, beschrieben wird, ähnlich wie in Georg Finks „Mich Hungert“ die Generation, die mit dem Krieg aufwuchs, zu jung für die Front, doch bereits auch zu alt, um wegzusehen – eine „lost generation“, der „Jahrgang 1902“.
Auch der Autor selbst gehört zu dieser verlorenen Generation, zu den Orientierungslosen, im Geiste Wurzellosen – dazu jedoch später mehr. Als „Jahrgang 1902“ erscheint, ist Glaeser (1902-1963) gerade mal 26 Jahre alt und trat zuvor nur mit einigen wenigen Dramen hervor. Der Debütroman wird jedoch aus dem Stand zum Sensationserfolg – bis Ende 1929 erreicht er eine Gesamtauflage von 200.000 Stück und wird in über 20 Sprachen übersetzt. Ein Bestseller, ähnlich wie „Im Westen nichts Neues“, der offenbar den Nerv ganzer Massen trifft.
Der fatale Glaube an Gott und Kaiser
Erzählt wird die Geschichte eines Jungen, der in behüteten Verhältnissen in der Wilhelminischen Zeit aufwächst. Christian Klein, Akademischer Rat im Fach Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal, der nun für den Wallstein Verlag die Neuherausgabe des Buches besorgt hat, vermutet in seinem kenntnisreichen Nachwort wohl nicht von ungefähr, dass „Glaeser in ähnlichen Verhältnissen wie der Protagonist in seinem Roman Jahrgang 1902 aufwächst: Bürgerlich-konservativer Wohlstand und der Glaube an die Autorität von Kaiser und Vaterland dürften den jungen Glaeser zuhause umgeben haben.“ Und Glaeser selbst schreibt über sein Buch:
„Meine Beobachtungen sind lückenhaft. Es wäre mir leicht gewesen, einen ‘Roman’ zu schreiben. Ich habe mit diesem Buch nicht die Absicht zu ‘dichten’. Ich will die Wahrheit, selbst wenn sie fragmentarisch ist wie dieser Bericht.”
Scheinbar also in der hessischen Provinz nichts Neues, die konservativ-autoritäre Vaterfigur, die Mutter, weltflüchtend in die Lektüre von Hugo von Hofmannsthal. Doch die bürgerliche Ordnung birgt ihr dunklen Seiten und zeigt Risse: Das Buch beginnt mit der Schikane eines jüdischen Schulkameraden durch einen schmissigen Lehrer, aufgezeigt werden ebenso die Nöte und die Armut der Arbeiterfamilien, der Weltekel eines weltoffenen Adeligen, der am Provinzialismus und Militarismus seiner Klasse erstickt, die Obrigkeitshörigkeit und Dumpfheit der Konservativen ebenso wie die Verfolgung von Menschen, die sich für die Rechte der Arbeiter einsetzen.
Der Krieg, das sind die Eltern
Glaeser streift die Grundzüge der Gesellschaftsordnung: Antisemitismus, Furcht vor dem Sozialismus und eine konservativ-kaisertreue Klasse, die, bereits am Ende, ihr Heil im Krieg sieht. Dazwischen die Jugendlichen, die in dieser Welt ihre Orientierung suchen. Der Protagonist ist das beste Beispiel für einen sensiblen Jungen auf der Suche nach einem Vorbild, einem Halt. Berührungspunkte gibt es zu den verschiedensten Welten – zu Leo, dem jüdischen Freund, der bald verstirbt, zu Ferd, dem Adelsspross, zu August, dem Arbeitersohn. Gaston, ein Franzose, den er bei einem Kuraufenthalt in der Schweiz kennenlernt, äußert schließlich den entscheidenden Satz, der dem Buch auch als Zitat vorangestellt ist: „La guerre, ce sont nos parents.“
„Jene schon zu Friedenszeiten innerlich längst in Auflösung begriffenen, nach außen aber umso lauter propagierten Werte und Ideale, auf die man gerade im Ernstfall hätte bauen können sollen, verloren angesichts der Herausforderungen des Krieges gänzlich ihre Tragfähigkeit. Die Welt der Eltern erschien als Welt der leeren Versprechungen und verlogenen Phrasen“, schreibt Christian Klein in seinem Nachwort.
Vielmehr jedoch wird die Welt der Eltern zur Welt der Verheerungen:
„Es war Abend, als ich nach Hause kam. Ich war sehr erregt und konnte nichts essen. Mutter war auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung für „unsere Feldgrauen im Osten“, ich saß allein und wußte nicht, wie ich meine Mathematikaufgaben für den nächsten Tag fertigbringen sollte. Die Begegnung mit dem toten Soldaten hatte mir jede Sicherheit geraubt. Ich sah sein Gesicht, den verkrampften Mund und mußte plötzlich an Pfeiffer denken. Ich beschloß, zu ihm zu gehen und ihm die Geschichte mit den Pferden und dem Sergeanten zu erzählen. Dauernd hörte ich die Stimme des Urlaubers: „Der sieht aus, als sei er in der vordersten Linie gefallen…“ Sahen die alle so aus, die dort fielen? Sah so der Heldentod aus? Ich hatte ich ihn mir bisher als etwas Schönes vorgestellt.“
Erich Maria Remarque über das Buch
Der Wallstein Verlag zitiert auf seiner Homepage Erich Maria Remarque zu „Jahrgang 1902“: „Die Schärfe des Blicks in diesem Buch ist außerordentlich, aber noch überraschender ist, daß eine so hart und klar gesehene Arbeit dennoch Wärme und Zartheit hat, daß sie wunderbar lebendig ist, und daß nie, trotz aller Unerbittlichkeit, das Knochengerüst der Gedanken sich durchscheuert. Die Fülle ist hier nicht eine Angelegenheit der Phantasie, sondern des Auges. Das Buch Glaesers ist nicht nur literarisch wertvoll, sondern bedeutend mehr: es ist zeitgeschichtlich wichtig.“
Das Dokument einer verlorenen Jugend
So ist dieses Buch auch heute noch zu lesen: Als Zeitdokument, als Dokument einer verlorenen Jugend. Und – wer die historischen Umstände zu abstrahieren vermag – kann in dieser Adoleszenz-Geschichte durchaus auch Fingerzeige für die Gegenwart entnehmen, herauslesen, wie aus jugendlicher Zerrissen- und Verlorenheit Mitläufertum oder gar Radikalismus entstehen können. Denn Ernst, obwohl voller Empathie für die Schwächeren, kann sich auch der Anziehung der braungefärbten Dumpfen nicht entziehen, der Protagonist bleibt ein Fähnchen im Wind. Unsentimental – so durchaus auch ein zeitgeschichtliches Prädikat, das dem Roman zugeordnet wurde – ist das Buch nicht. Dazu sind Autor und Protagonist zu sehr auch in der eigenen Welt gefangen, durchaus auch selbstbemitleidend im Ton, durchaus zu indifferent in der Haltung – kritiklos kann der Roman auch heute nicht gelesen werden.
Letztendlich ist dieses Schwanken auch ein Hinweis auf die spätere, wechselvolle Biographie des Autoren:
„Sich selbst und seine Generation, die im Jahr 1902 Geborenen, hatte er als orientierungslose, verlorene Zwischengeneration beschrieben, ohne Halt und Haltung, zu Kriegsbeginn zwölf Jahre alt, am Ende sechzehn“, so Volker Weidermann in „Das Buch der verbrannten Bücher“. „Das Meisterliche an Glaesers Buch ist diese radikale Position, das jämmerliche Leiden und Selbstbemitleiden eines Einzelnen glaubhaft als Generationenphänomen darzustellen. (…) Als Buch war das groß. Im Leben war es lächerlich und armselig, in der einmal konstatierten Falle der Standort- und Überzeugungslosigkeit zu verharren.“
Anbiederung an die Nationalsozialisten
Sowohl bei Weidermann als auch im Nachwort von Christian Klein zu „Jahrgang 1902“ wird dieses Verharren respektive Schwanken Glaesers gut umrissen – vom etablierten Literaten über den revolutionären kommunistischen Schriftsteller, dessen Bücher verbrannt werden, zum wurzellosen Emigranten bis hin zum Rückkehrer, der sich den Nationalsozialisten anbiedert und schließlich Schriftleiter einer Frontzeitung der Luftwaffe wird.
Vor allem Ernst Glaeser gelten die Worte von Erika und Klaus Mann in ihrem Buch über die deutsche Kultur im Exil, „Escape to life“: “Denn die Emigration ist kein Club, dessen Mitglied zu sein am Ende nicht viel bedeutet. Sie ist Verpflichtung und Schicksal; sie ist eine Aufgabe, und keine leichte. Diese Emigranten sind seltsame Leute. Sie wollen keinen in ihrer Mitte haben, der, kokett und verschlagen, sentimental und geschäftstüchtig, auch „nach der anderen Seite“ blinzelt. Einen solchen stoßen sie aus ihrer Mitte. Wohl ihm, wenn er nun noch einen Platz findet, wo er sein Haupt betten kann, das wir nicht einmal mehr mit den Spitzen unserer Finger berühren möchten.“
Glaeser bettete sich erneut ein im Nationalsozialismus. Doch ob er gut geruht hat, ist eine andere Frage.
Informationen zum Buch:
Ernst Glaeser Jahrgang 1902 Wallstein Verlag, 2013 ISBN 978-3-8353-1336-1
Erst spät im Leben entdeckt Goldstein „das positivste Wort der englischen Sprache“: „YES“. Ein kleiner, feiner, melancholischer Roman mit viel Herz & Humor.
„Als Maggie ging, wußte Norman nicht, was er fühlte. Er arbeitete weiter an seinem Roman über das Postamt, und obwohl es während der nächsten Jahre Frauen gab, fühlte er sich keiner so nahe wie seinen Figuren. Das Dunkel der Nacht kam sehr gut an, und Norman bewarb sich mit Erfolg an einem kleinen, aber renommierten College zwei Zugstunden von New York entfernt. Als er eines Tages eine Mitteilung des Fachbereichs las, merkte er beim Blick auf das Datum, dass er, wie auch immer, zweiundvierzig geworden war.“
Steven Bloom, „Das positivste Wort der englischen Sprache“
Vor allem Männer, die über die Mitte des Lebens hinaus sind, sollten dieses Buch lesen. Man steht auf, macht seinen Job, versucht, irgendwie durchzukommen, kleinere und größere Ereignisse und Katastrophen verschwimmen irgendwann im Fluss der Zeit – und ehe man sich versieht, ist man Vierzig plus, ein Sonderling und ziemlich einsam. Norman Goldstein ist so ein Typ, beinahe ein „Stoner“, etwas tapsig, unbeholfen, aber auch stoisch bis hin zum zeitweiligen Gefühlsautismus, dabei aber auch überaus sympathisch. Dieser Goldstein scheint durch sein Leben zu gehen und sich meistens zu wundern, was ihm geschieht (oder vielmehr: nicht geschieht):
„In der Mensa der Fakultät wurde er eines Tages Ohrenzeuge einer Diskussion über die „Neue Enthaltsamkeit“ und war überrascht, dass es noch andere gab, die wie er waren. Seine Enthaltsamkeit war jedoch schon über zehn Jahre alt. Sie war das Geschenk, das er sich zu seinem fünfzigsten Geburtstag gemacht hatte.“
Vor allem die Frauen, die ihm geschehen:
Ehrlich gesagt, sagte Maggie, hast du bei manchem keine Wahl. Ich war auch mal verheiratet, ich lebe auch schon zu lange allein. Ich leide auch an einer Unterversorgung mit Zärtlichkeit. Der einzige Unterschied zwischen uns ist, dass ich keine verkorkste Lebensphilosophie habe. (…) Du brauchst mir nicht zu sagen, dass ich dich herumkommandiere, sagte Maggie, als sie in einem Restaurant in Chinatown saßen, denn das ist nicht zu übersehen. Ich tue es aber aus dem besten aller möglichen Gründe: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Das stammt von Gott persönlich, Norman.
Dass das mit Maggie – wie mit den Frauen zuvor – nicht gut ausgeht, liegt auf der Hand…
Eine späte Liebe lockt den Eremiten aus der Höhle
Erst als ihn eine späte Liebe ereilt, entdeckt Goldstein „das positivste Wort der englischen Sprache“: „YES“. Die temperamentvolle, wesentlich jüngere Kollegin Vashti holt den Bildungs-Eremiten aus seiner Höhle, überrollt ihn mit ihrer Lebensfreude, nimmt ihm förmlich an der Hand, rüttelt und schüttelt ihn aus seiner Lethargie.
Vashti spießte ein Stück Kiwi mit der Gabel auf. Dein Gesicht, sagte sie, ist wie ein offenes Buch. Irgendetwas plagt dich. Ich fühle mich dir näher, sagte Norman, als ich mich je einem Menschen gefühlt habe, und trotzdem hält mich etwas zurück. Liebe, sagte Vashti, ist ziemlich beängstigend. Du liebst mich doch, oder? Ich wünschte, ich könnte einfach ja sagen. Dann sag es halt. Mit „yes“, sagte Norman, endet der Ulysses. Er wollte, sagte Joyce, sein Buch mit dem positivsten Wort der englischen Sprache enden lassen. Es ist ein gutes Wort, Norman, sagte Vashti.
Endlich angekommen beim positivsten Wort der englischen Sprache, erfährt Norman tragischerweise ein großes, finales „No“: Vashti stirbt.
Kein Happy End
Es ist dem Talent des Steven Bloom zu verdanken, dass man diesen schmalen Roman zuklappt, und neben der Melancholie über ein Unhappy End (das Bloom leise, wehmütig ausgleiten lässt), auch ein Gefühl der Heiterkeit mitnimmt. Wie Vashti ihren Norman, so kann auch dieses Buch schütteln und rütteln. Es fordert die Frage heraus: Was stellst Du mit deinem Leben an?
Dabei ist „Das positivste Wort der englischen Sprache“ kein melancholisches Buch an sich. Bloom hat ein außerordentliches Talent für witzige Dialoge, stellt seinem Stadtneurotiker Norman zynische und lakonische Gesprächspartner an die Seite, lässt in dem schmalen Werk eine ganze Reihe bunter, schillernder Typen auftreten: Die linksliberalen jüdischen Eltern, den gewitzten Hausmeister, rassistische Vermieter, abgetackelte Spieler, versoffene irische Dozenten. Seitenweise prallvolles Leben, kapitelweise amerikanische Geschichte im Vorbeigehen – von der latent und offen rassistischen New Yorker Gesellschaft der Nachkriegsjahre, über die Aufbruchsstimmung unter Kennedy, die Emanzipation unter Martin Luther King, bis zur revisionistischen Reagan-Ära spannt sich der Bogen. Ulrich Rüdenauer schrieb in der Zeit über das Buch:
Sein neuer Roman ist zugleich sein ambitioniertester, zumindest was die darin erzählte Zeitspanne angeht, und sein zurückgenommenster. Er beginnt in den sechziger Jahren und umfasst ein halbes Jahrhundert, in dem wir den jungen Norman Goldstein auf seinem Weg durchs Leben begleiten. Das positivste Wort der englischen Sprache ist ein schmaler Entwicklungsroman, der wie nebenbei die Geschichte Amerikas des letzten halben Jahrhunderts miterzählt. Episoden und Lebenssplitter werden aneinandergereiht, dazwischen immer wieder kleinere und größere Lücken gelassen, die dem Buch bei aller chronologischen Strenge eine reizvolle Offenheit geben.
Unterschlagen hat Rüdenauer dabei, dass der schmale Roman auch witzig und überaus unterhaltsam ist, vor allem dann, wenn Norman, der Schüchterne, von seinen Gesprächspartnern förmlich überrollt wird.
Das positivste Wort der englischen Sprache ist – trotz der ihm innewohnenden Melancholie – der positivste Roman der englischen Sprache, den ich in letzter Zeit gelesen habe. Volle Leseempfehlung daher.
Mein Dank an den Wallstein Verlag für das Rezensionsexemplar Und für die Entdeckung des Autoren: Steven Bloom, 1942 in Brooklyn geboren, lebt seit Jahren in Heidelberg, schreibt in amerikanischem Englisch (Übersetzerin Silvia Morawetz), seine Werke erschienen bislang jedoch bei deutschsprachigen Verlagen, nicht jedoch im angelsächsischen Raum.