#MeinKlassiker | Hildegard E. Keller sagt: Endlich! Etty Hillesum – Chronistin ihrer Zeit

Erstmals liegen sämtliche Schriften Etty Hillesums in deutscher Sprache vor. Endlich, sagt Literaturexpertin Hildegard E. Keller. Denn die Tagebücher der jungen Niederländerin werden als philosophische Lebenskunst, Mystik des Alltags und Ethik des Mitleidens gefeiert. Für Keller ist Hillesum #MeinKlassiker.

2016 bat ich einige Literaturblogger*innen, Autor*innen und andere Menschen aus dem Literaturbetrieb, doch einmal ganz frei über ihre Klassiker zu schreiben: Schriftstellerinnen und Schriftsteller und Bücher, die einen das ganze Leben über begleiten. Der Zuspruch und das Interesse war enorm: Es gab 35 Beiträge unter dieser Rubrik auf dem Blog, der seinerzeit noch unter Sätze&Schätze firmierte. Sie werden nach wie vor gelesen: Klassiker machen neugierig. Allen, die bisher zu der Reihe beigetragen haben, an dieser Stelle nochmals mein herzlichster Dank!
Inzwischen ist mein Literaturblog wiederbelebt. Und als ich neulich einen Beitrag über meinen Klassiker schrieb, “Die Insel des zweiten Gesichts” von Albert Vigoleis Thelen, wurde einmal mehr deutlich, wie groß, auch im Trubel der Neuerscheinungen, das Interesse an Autor*innen ist, deren Werke die Jahre überdauern.
Die Idee, #MeinKlassiker mit dem Blog wieder mit neuem Leben zu erfüllen, war da – und ich war ganz positiv überrascht, dass schon einige literaturaffine Menschen meiner Einladung gefolgt sind und hier über ihre Klassiker schreiben werden. Ich freue mich sehr über den Auftakt zu #MeinKlassiker 2.0 durch Hildegard E. Keller, die mit Etty Hillesum eine ganz besondere Frau vorstellt.
Ein Werk, das die Jahre überdauert hat und eine Neuerscheinung ist.


Ein Gastbeitrag von Hildegard E. Keller

Im Mittelalter stellte man sich die Liebe als noble Dame vor: Vrouwe Minne, Frau Minne, Lady Love. Die ersten Dichterinnen im deutschen und niederländischen Sprachraum, deren Namen wir kennen und deren Werke erhalten geblieben sind, dienten ihr als Sprachrohr. Es sind grosse Namen. Es sind Klassikerinnen. Es sind auch die einzigen schreibenden Frauen zwischen 1100 und 1300. Dichten ist für sie Dienst an ihrer Chefin, denn die Liebe ist die heimliche Göttin an Gottes Seite.

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Im Hörspiel Der Ozean im Fingerhut (2011) brachte ich drei dieser Klassikerinnen zusammen: die alte Hildegard von Bingen (1098-1179), die in ihrem langen Leben über fast alles geschrieben hat; Mechthild aus Magdeburg (um 1207-1282), die uns ihr Buch Das fliessende Licht der Gottheit hinterliess und die geheimnisvolle Hadewijch (sie schrieb um 1250), die in mittelalterlichem Niederländisch Lieder, Visionen und Briefe dichtete. Die inoffizielle Hauptperson des Hörspiels ist aber Etty Hillesum (1914-1943). Sie gehört zu den Klassikerinnen, die genug bekannt sind, dass sich jemand für ihr Werk interessiert, genug unbekannt, dass man sie neu entdecken kann. Das Hörspiel inszeniert eine fiktive Begegnung. Da die vier nur jenseits von Ort und Zeit zusammenfinden konnten, erschuf ich mit literarischen Mitteln einen Begegnungsraum. Für mich war es Forschung mit künstlerischer Freiheit, ein Abenteuer, auf Mittelhochdeutsch âventiure.

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Etty Hillesum spricht mit ihren christlichen Kolleginnen über die gemeinsamen Themen: das Schreiben, die Liebe, Gott und die Welt. Etty sah sich selbst als Chronistin ihrer Zeit, ist aber weit mehr als eine jüdische Zeitzeugin. In ihrem nur neunundzwanzig Jahre langen Leben, das in Auschwitz gewaltsam beendet wurde, hat sie lieben gelernt wie keine. Zwei Jahre lang beschreibt sie in Tagebüchern ihren inneren Weg. Sie schildert auch, wie sich im nationalsozialistisch besetzten Amsterdam ihr Lebensraum verengt, wie es sie immer stärker nach innen drängt. Ihre Tagebücher und Briefe wirken auch achtzig Jahre nach ihrem jähen Abriss atemberaubend und erfrischend. Als ich 2010 mein Hörspiel schrieb, musste ich mich auf internationale Ausgaben ihres Werks stützen, die niederländische Originalausgabe, die englische, italienische, französische und spanische, denn die gab es alle, meist gut kommentiert. Was fehlte, war die deutschsprachige Gesamtausgabe. Dies fand ich so unerhört, dass ich einen deutschen Verlag zu gewinnen suchte, doch das Projekt versandete. Das ist gut so. Denn vor wenigen Tagen ist sie endlich bei C.H. Beck erschienen: die erstmals vollständige und neu übersetzte Gesamtausgabe: «ICH WILL DIE CHRONISTIN DIESER ZEIT WERDEN. Sämtliche Tagebücher und Briefe 1941–1943.» Hg. von Pierre Bühler. Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth ausgezeichnet übersetzt. Die rund tausend Seiten lesen sich hervorragend, man ist dankbar für den grosszügigen Kommentar- und Bilderteil, diese Ausgabe erfüllt einen meiner Herzenswünsche. Eine Pflichtlektüre für alle.

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Wie schon die meisten internationalen Ausgaben hilft das neue Gesamtwerk beim Lesen. Damit meine ich den wichtigen Zwei- und Mehrsprachenraum, in dem Etty Hillesum gelebt, gedacht, geschrieben hat. Literatur, Weltliteratur, aber besonders auch russische und deutsche Literatur bedeuteten ihr viel. Einer ihrer Hausdichter, Rainer Maria Rilke, vor allem aber die Begegnung mit Julius Spier, nach der Reichskristallnacht aus Berlin nach Amsterdam geflohen, trugen dazu bei, dass Etty Hillesum zahlreiche Passagen auf Deutsch in ihr niederländisches Original einfügte. Diese Koexistenz von Niederländisch und Deutsch, die in der neuen Ausgabe mit Serifen bzw. serifenloser Schrift sichtbar gemacht wird, ist wesentlich. Etty Hillesum pflegte das Neben- und Miteinander der zwei Sprachen ganz bewusst, in Amsterdam wie auch später im Durchgangslager Westerbork. Es war eine Geste des inneren Widerstands gegen den Hass, den die Situation aufoktroyierte. Sprachlich und überhaupt in nur jeder denkbaren Weise nutzte Etty Hillesum jeden Moment, um in ihrer Liebesfähigkeit zu wachsen.  

Mittwochmorgen, 29. April [1942].

Dass ich so stark lieben kann! Mein Inneres blüht in alle Richtungen auf und die Liebe wird immer stärker und größer und ich lerne auch immer besser, sie zu ertragen und nicht darunter zermalmt zu werden. Und durch dieses Ertragen fühlt man, dass man immer stärker wird. Dass ich so sehr lieben kann!
Er ist ganz großartig. (S. 450)

5 Uhr nachmittags.

An ihm bin ich eigentlich erst schöpferisch geworden – verrückt, manche Dinge kann ich überhaupt nicht mehr auf Niederländisch sagen. An ihm sind meine schöpferischen Kräfte zum ersten Mal erwacht und an ihm werden sie auch zum ersten Mal eine Form annehmen. Er muss mich später wieder von sich wegstoßen, in den Raum hinein. In einem einzigen klaren Augenblick sehe ich dies plötzlich sehr deutlich: dass ich mich nicht danach sehnen sollte, ein Leben lang bei ihm zu bleiben oder ihn heiraten zu wollen. An ihm bin ich zu einer Form gelangt, aber er muss sich von mir wegstoßen, sodass ich später in einem kosmischen Raum zu einer neuen Form gelangen werde, unabhängig von ihm. (S. 451)

Der Ozean im Fingerhut. Filmstill (2012). © Bloomlight Productions.

Endlich kann diese Klassikerin des literarischen Humanismus neu gelesen werden. Alle, die diese bahnbrechende Gesamtausgabe in die Welt gebracht haben, verdienen Hochachtung. Das gilt ganz besonders für die Übersetzerinnen. Am 5. April findet die Buchpräsentation in Zürich statt, mit dem Herausgeber Pierre Bühler, der Übersetzerin Christina Siever, Marja Clement und mir; Moderation Verena Mühlethaler. Am 12. April werde ich den Experimentalfilm Der Ozean im Fingerhut, den ich 2012 auf der Grundlage des gleichnamigen Hörspiels produziert habe, zeigen.

Ein Beitrag von Hildegard E. Keller


Bibliografie:

Etty Hillesum
Ich will die Chronistin dieser Zeit werden
Sämtliche Tagebücher und Briefe (1941 – 1943)
C.H.Beck Verlag, München, März 2023
Hardcover, 989 S., mit 46 Abbildungen
ISBN 978-3-406-79731-6

Von Etty Hillesum. Herausgegeben von Klaas A.D. Smelik, Deutsche Ausgabe herausgegeben von Pierre Bühler. Mit einem Vorwort von Hetty Berg. Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth.

Buchvernissage in Zürich:
https://citykirche.ch/buchvernissage-und-mystikreihe-zu-etty-hillesum/


Zur Autorin dieses Beitrags:

Von 2009 bis 2019 war Hildegard Keller Literaturkritikerin im Fernsehen (Jurymitglied beim Bachmannpreis, ORF/3sat; Kritikerteam des Literaturclubs SRF/3sat). Seit 2019 konzentriert sie sich auf ihre künstlerischen Projekte (Literatur, Film, Storytelling) und gibt die Edition Maulhelden heraus. Seit den frühen 1990er Jahren lehrte sie deutsche Literatur an Universitäten im In- und Ausland (USA, GB, NL, D, ARG, TUR), zehn Jahre lang als Professorin an der Indiana University in Bloomington (USA), wo sie ihren ersten Dokumentarfilm (Whatever Comes Next, 2014) geschaffen hat; heute lehrt sie Multimedia-Storytelling an der Universität Zürich. Ihr Werk umfasst Romane, Hörspiele, Radiofeatures, Podcast, Filme und Performances. Ihr Hörspiel DIE STUNDE DES HUNDES war für den Deutschen Hörbuchpreis 2009 nominiert und wurde mit dem Theophrastus-Preis ausgezeichnet. Sie ist zudem Herausgeberin, Übersetzerin und Biografin von Alfonsina Storni; die fünfbändige Werkauswahl wurde in der Edition Maulhelden veröffentlicht. 2021 erschien mit WAS WIR SCHEINEN ihr erster, vielbeachteter Roman: Eine Lebensreise mit Hannah Arendt. Am 28. März erscheint er auf Italienisch (Quel che sembriamo. Übersetzt von Silvia Albesano. Guanda; Buchpremiere am 30. März in Venedig).

Homepage von Hildegard Keller:
https://www.hildegardkeller.ch/

Edition Maulhelden:
https://www.editionmaulhelden.com/

Den Film und das Hörspiel “Der Ozean im Fingerhut” gibt es zu kaufen, weitere Information und Bestellmöglichkeiten unter info@hildegardkeller.ch.

Christoph Heubner: Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen

Mit drei eindrücklichen Erzählungen gibt Christoph Heubner den Opfern des Holocaust eine Stimme.

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Das Gemälde “Triumph des Todes”(Die Gerippe spielen zumTanz) von Felix Nussbaum entstand 1944. Reproduktion von Wikimedia, das Original ist im Felix Nussbaum Haus in Osnabrück zu sehen.

„Als Kind habe ich geträumt, dass ich erwachsen bin und fliegen kann. Ich habe geträumt, dass mich Räuber in einen dunklen Wald schleppen, und ich habe geschrien. Der Junge hat zuviel Phantasie, du musst ihn schärfer herannehmen, hat mein Vater zu meiner Mutter gesagt. Also habe ich beschlossen, keinen Unsinn mehr zu machen und nicht mehr zu träumen.“

Christoph Heubner, „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“


Aus dem Jungen wird ein Mann, der Mann wird zum Großvater. Er führt ein angepasstes, arbeitsames Leben in seinem ungarischen Heimatort Kaposvár. Erst durch seine Enkelin, die er über alles liebt, wird der alte Mann wieder zum Jungen, der träumen kann. Doch sie, die kleine Giliki, ist eine der ersten, die aus dem Waggon mit 87 Menschen gezerrt wird, die der Mordmaschine vorgeworfen wird. Während für den Alten sein schlimmster Alptraum wahr wird: In einen Wald verschleppt, ein Waldstück nahe des Vernichtungslagers, wartet er gemeinsam mit einer letzten Übriggebliebenen aus seinem Dorf darauf, was ihm geschehen wird. Die Zeichen, er hat sie schon in früheren Jahren gesehen, geahnt, dass da etwas ist:

„Den Hass und die Verachtung uns gegenüber haben sie sich für zu Hause und die Straße aufgespart. Ich wusste immer, dass sie ein Tier in sich eingesperrt hielten, das endlich raus wollte. (…) Blanker Hass. Und wenn die Meinen auf den Holzplatz kamen, habe ich den Hass hinter ihren Augen gesehen, wenn sie mich angeschaut haben. Sie haben gewartet, dass sie von der Kette kommen.“

Jetzt, 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, verstummen die letzten Zeitzeugen mehr und mehr. Und dennoch erscheint es in diesen Tagen umso wichtiger, die Stimmen, die vom eigentlich Unsagbaren erzählen und von den unmenschlichen Taten Zeugnis ablegen, weiterhin hörbar zu machen.

Heubner gibt den Opfern eine Stimme

Einen besonderen literarischen Weg hat dazu der Schriftsteller Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, eingeschlagen. In seinem Band „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ gibt er den Opfern eine Stimme: Einfühlsam, nah an der Realität trotz der fiktionalen Bearbeitung, nachhallend.

Für die drei in diesem Band versammelten Geschichten wählte Heubner drei Stimmen, drei Formen. „Nach Auschwitz – drei Geschichten“, wie der Untertitel sagt, und jeder der drei Geschichten hallt lange nach. „Das leere Haus“, die Erzählung einer Überlebenden, reicht bis in unsere Gegenwart. Sie erzählt vom Überlebenskampf der allein gebliebenen und auf sich gestellten Kinder nach dem Krieg und nach dem Lager, von der Heimatlosigkeit, der Entwurzelung, dem Schuldgefühl der Überlebenden. Wie man sich wieder ein Leben zurechtzimmern kann, wie man weitermachen kann:

„Wir waren für uns. Das war jetzt unser Maulwurfhügel. Weit weg von den alten Gespenstern, die Angst lag in unserer Wohnung wie ein alter Hund, der nur noch leise vor sich hin schnarcht.“

Doch der Kettenhund – ein Symbol in allen drei Geschichten – er schläft nicht, er ist noch lebendig: Die Erzählung endet mit dem Anschlag auf die Synagoge in Pittsburgh 2018, bei dem elf Menschen getötet und andere schwer verletzt wurden.

„Vier Minuten. Es waren vier Minuten. Und mir war, als hätte ich am anderen Ende des Parkplatzes meine Mutter gesehen. Sie war so jung wie damals, als sie uns abgeholt haben und schrie: Vier Minuten, ist es nie zu Ende?“

Stellvertretend für die Toten von Birkenau

In „Ein Stück Wiese, ein Wald“ stehen sich zwei Menschen gegenüber, ein Mann und eine Frau, stellvertretend für die über 440 000 ungarischen Juden, die 1944 in wenigen Monaten in Birkenau ermordet wurden. Menschen, so Christoph Heubner, die sich in den Jahren davor niemals hätten vorstellen können, dass sie in Lager abtransportiert, verschleppt und getötet werden könnten, weil sie Juden waren.

Fiktives Tagebuch von Felka Platek und Felix Nussbaum

In der dritten, titelgebenden Erzählung „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“, setzt Heubner eine Idee fort, die 2007 nach einem Gespräch mit Stéphane Hessel entstand, ein fiktives Tagebuch der beiden Künstler Felka Platek und Felix Nussbaum, die 1944 in ihrem Versteck bei Brüssel aufgegriffen und verhaftet wurden und in Auschwitz starben. Heubner veröffentlichte das fiktive Tagebuch zunächst auf dem Internetportal des Auschwitz Komitees und trug es bei mehreren Lesungen vor – im Nachwort weist er ebenfalls auf den Roman von Hans Joachim Schädlich, „Felix und Felka“, hin.

Bemerkenswert ist es, wie Christoph Heubner es auch in diesem kurzen Text gelingt, innerhalb weniger Seiten die ganze Dramatik des Geschehens deutlich zu machen: Zwei junge Menschen, die jeder für sich aufbrechen, um sich selbst zu verwirklichen, ihren eigenen künstlerischen Weg einzuschlagen, voller kreativer Kraft und Hoffnung. Und wie schnell aus den wenigen Zeilen dann die Verzweiflung spricht, weil ihnen alles geraubt wird – Arbeits- und Lebensmöglichkeiten, wie sich die Klaustrophobie und Unsicherheit in den engen Verstecken auf den Leser überträgt, wie mehr und mehr die Hoffnungslosigkeit zunimmt. Christoph Heubner sagt dazu in seinem Nachwort:

„Die Bilder von Felka Platek und Felix Nussbaum jedoch, gegen die materielle Not, die alltägliche Angst und das Grauen entstanden: auch sie halten stand und erinnern an die Empörung und die Menschlichkeit, die die Résistance gegen die deutschen Nationalsozialisten in Europa getragen hat und zu der auch Felka Platek und Felix Nussbaum für alle Zeiten gehören. Das wollte ich unbedingt erzählen.“

Und dieses Weiter-Erzählen ist so wichtig in unserer Zeit. „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ ist ein schmaler Band, aber von großem Gewicht.


Informationen zum Buch:
Christoph Heubner
Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen
Steidl Verlag 2019
Leineneinband, gebundes Buch, 104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN 978-3-95829-717-3

Weitere Informationen:
Christoph Heubner im Interview im Deutschlandfunk
Auf der Seite des Auschwitz Komitees

Ite Liebenthal: Gedichte

Die Philosophin und Lyrikerin Ite Liebenthal veröffentlichte schon früh eigene Gedichte. Unter den Nationalsozialisten verstummte sie, 1941 wurde sie ermordet.

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Bild: (c) Michael Flötotto

Mein Vaterland, du bist vor mir gestorben,
doch wirst du auferstehn und ich mit dir.
Die dich vernichteten und mich verdorben,
sie sind verflucht, und leben werden wir!

Ite Liebenthal (1886 – 1941)

Dass diese ausdrucksstarke Lyrikerin, die von Rilke gefördert wurde, nicht ganz ins Vergessen geriet, ist einigen wenigen zu verdanken: So vor allem dem Literaturprojekt „Poesie schmeckt gut“. Die beiden Herausgeber widmeten ihr einen Band ihrer Lyrikreihe „Versensporn“. Enthalten sind darin nicht nur die frühen Gedichte, die Ite Liebenthal zu Lebzeiten veröffentlichen konnte, sondern auch Texte aus dem Nachlass. Sie stammen von Abschriften, die sich bei den Nachkommen ihrer Ite Liebenthals erhalten hatten: Während ihre Schwester und ihr Bruder nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten emigrierten, entschied sich Ite Liebenthal, in ihrem Geburtsort Berlin zu bleiben, allein, vereinsamt und in ständiger Furcht vor der Verfolgung. Eine fatale Entscheidung: 1941 wurde sie von Berlin nach Riga deportiert, schon wenige Tage später wurde sie – wie alle 1052 Insassen dieses Massentransportes – im Wald von Rumbula ermordet.

Das Vaterland, es dankte ihr die Treue schlecht. Mit ihr starb eine weitere kluge, starke Stimme, eine Vertreterin der weiblichen jüdischen Intelligenz. Die junge Ite Liebenthal ist eine begabte Schülerin, ein kreativer Geist: Bereits als 20-jährige veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband „Aus der Dämmerung“, der 1906 erscheint.

Ihre frühen Gedichte sprechen vor allem von der Sehnsucht nach einem Gegenüber, nach einer geistigen und seelischen Verwandtschaft oder gar Verbrüderung:

Nachts gehen alle Uhren lauter,
und jede Stunde schlägt mit Doppelklang.
Doch auch dein Herzschlag ist mir dann vertrauter.
Laß gehn die Zeit. Mir ist nicht bang.

In deiner Seele Brudernähe
beruhigt sich die Angst der Mitternacht.
Und wenn mir morgen bitter Leid geschähe, –
du bist bei mir! du hast mit mir gewacht.

Manches Mal auch etwas pathetisch, elegisch im Ton:

Wüßt ich, daß ich nur zu sterben brauchte
und mein Herz, in Silber dann gefaßt,
einen Talisman für dich bedeute:
Ach, ich tötete mich heute! (…)

Sie schreibt von Hingabe, von der Suche, aber auch von Trennungsschmerz und dem Wissen darum, dass alles endlich ist:

Nur zu Gruß und Lebewohl berührten
wir einander scheu mit kalten Händen.
Und es war, als ob in Feuerbränden
wir mit ölgetränkten Zweigen schürten.

Und wir sehen, wie die Flammen stiegen,
doch verrieten nicht, daß wir es sahen.
Und so fühlten wir das Ende nahen,
lächelten, verließen uns und schwiegen.

Von 1909 bis 1916 studierte sie Philosophie an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Sie hört unter anderem Vorlesungen zu Literatur und Philosophie bei Emile Haguenin, Adolf Lasson, Heinrich Rickert und Karl Jaspers. Die Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen schlägt sich auch in ihrer Lyrik nieder, der Ton wird mit der Zeit reifer, das Suchen weniger drängend, in die Gedichte tritt mehr und mehr Ruhe und ein wenig Gelassenheit ein – doch Schwermut bleibt der Grundton.

Still kehr ich heim von langen Wanderfahrten.
Noch decken Nebel meine liebe Küste,
als ob ein Freund mir langsam erst mit zarten
Trosthänden diese Welt enthüllen müsste.

Nimm fort das Tuch! Ich weiß: in weiter Fläche
dehnt sich das Land zur Ferne. Seine Wunder
sind dunkle Wälder, stille, breite Bäche
und Gärten unter Birken und Holunder.

Rilke ist von ihren Werken beeindruckt. Am 18. Januar 1922 schreibt er in einem Brief an Ite Liebenthal:

„Noch diesen Morgen, als ich die ›Gedichte‹ wieder vornahm, fiel mir eine köstliche alte Apotheke ein, die ich vor Jahren einmal in der einstigen Bischofstadt Carpentras, um ihres künstlerischen Werthes willen, zum Kauf angeboten bekam. Ihre Verse, heute, brachtens mit sich, daß ich auf einmal im Dunkel des schönen, offenen, die Wände auffüllenden Geschränkes, die geschlossenen Vasen vor mir sich hinreihen sehe: jede anders im blaublumigen, ausdrucksvollen Ornament, und doch wieder alle gleich; jede ein Gift, eine Gluth oder eine Kühlung einschließend, mit dem vollen großen, ja geschwungenen Namen dieses Inhalts, ihn so offen ansagend ― und doch wieder ihn völlig verhaltend, jede einzelne, in ihrer, die Verschließung so unübertrefflich aussprechenden Gestaltung…“

Sein Bemühen, ihre Gedichte beim Insel Verlag unterzubringen, bleibt jedoch vergeblich. Zwar erscheint 1921 noch ein weiterer Lyrikband zu ihren Lebzeiten, „Gedichte“ im Verlag Erich Lichtenstein in Jena, doch danach wird es leiser um sie, die trotz ihres Studiums ihren Lebensunterhalt als Sekretärin fristen muss. In der Folge erscheinen nur noch einige Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Zeitschriften, was ihr Leben darüber hinaus ausmachte, was ihren Alltag prägte, was ihre Wünsche und Träume waren, davon ist wenig mehr bekannt.

Erhalten blieben ihre Gedichte, die von einer tiefen Sehnsucht sprechen:

Ich hab meine Füße wund gegangen,
weißt du, um wen?
Und konnte doch nicht bis zu dir gelangen.
Ich hab dich nicht einmal von fern gesehn.

Ich hab meine Hände müd gerungen,
weißt du, warum?
Nicht Rufes Hauch ist bis zu dir gedrungen.
Die Welt ist allzuweit, und du bliebst stumm.

Ich hab meine Augen blind geweint,
frage nicht, wann.
Ich weiß schon lang nicht mehr, ob Sonne scheint,
der Tag sich wendete und Nacht begann.

Isaac B. Singer: “Max, der Schlawiner” und “Meschugge”

Hadern mit Gott, ringen mit Wörtern, leiden an der Liebe – das sind die Leitmotive des Isaac Bashevis Singer. So in “Meschugge” und “Max, der Schlawiner”.

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Bild von Bohdan Chreptak auf Pixabay

„Die Bibel und der Talmud sind voll von Sex-Stories. Wenn diese Heiligen sich nicht dessen schämen, warum soll ich es tun, ich bin doch kein Heiliger? Wenn es einen Gott gibt, so stelle ich ihn mir als einen Liebhaber vor. Gemäß der Kabbala lieben alle Seelen im Himmel.“

Isaac B. Singer

Hadern mit Gott, ringen mit Wörtern, schwelgen in und leiden an der Liebe, und unterworfen dem Sex – das sind die Leitmotive des Isaac Bashevis Singer (1904 – 1991). Und das Festhalten an einer Sprache, der der Untergang prophezeit wurde und wird. Singer erhielt 1978 den Literaturnobelpreis, als erster und bisher noch immer einziger Schriftsteller, der Jiddisch schreibt. „Sie enthält Vitamine, die es in anderen Sprachen gar nicht gibt“, sagte er. Sie sei die wortreichste Sprache, die es gibt. Bis auf wenige Ausnahmen: So hätten die meisten anderen Sprachen beispielsweise zahllose Wörter für „verrückt“ – wahnsinnig, umnachtet, irre, geistesgestört, durchgeknallt, tollwütig – aber im Jiddischen käme man mit einem einzigen Wort aus: „Meschugge“.

„Meschugge“ ist nicht nur der Titel eines Alterswerkes, sondern ein wenig auch eine Grundcharakterisierung seiner Helden. Vor allem wenn es um die Leidenschaften der Leidenschaften geht. Der Sex, die Hormone machen sie alle verrückt – sei es nun der wankelmütige Hermann Broder, der in „Feinde, die Geschichte einer Liebe“ (1973) zwischen mehreren Frauen hin- und hergerissen wird, sei es „Max, der Schlawiner“, der sich – zurückgekehrt in das Warschau seiner Kindheit – dort in eine ganze Reihe von Affären stürzt, um den Tod seines Sohnes zu vergessen und seine Impotenz zu überwinden, oder sei es der Schriftsteller Aaron Greidinger, der religiös und politisch zwischen allen Stühlen sitzt und dann auch noch der Geliebten eines älteren Mentors verfällt – einfach „Meschugge“. Die letzteren beiden Romane stammen aus dem Nachlass des Autors und erschienen erst Mitte der 90erJahre. Literarisch reichen sie an „Feinde, die Geschichte einer Liebe“ nicht heran – aber als Alterswerk greifen sie nochmals die Themen auf, die Isaac B. Singer zeitlebens umtrieben.

„Der Pessimismus einer schöpferischen Gestalt ist nicht Dekadenz, sondern das mächtige Verlangen nach Erlösung des Menschen. Indem der Dichter unterhält, fährt er fort, nach ewigen Wahrheiten zu suchen, nach dem Wesen des Seins. Er versucht auf seine ureigene Weise, das Rätsel von Zeit und Wandel zu lösen, eine Antwort auf das Leiden zu finden, in den Abgründen von Grausamkeit und Ungerechtigkeit die Liebe wiederzuentdecken.“

(Link zur Rede von Isaac B. Singer am 8. Dezember 1978 in Stockholm: http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/1978/singer-lecture.html)

Dieses literarische Programm formulierte er bei seiner Nobelpreisrede in Stockholm. Letztendlich sind die Singer-Helden immer Gefangene zweier Höllen: Der ihres Verlangens, der ihrer Identität – als Jude, als Holocaust-Überlebende, als Entflohene, oftmals als Exilanten und als Suchende. Suchend sowohl in der Liebe als auch im Glauben: Sowohl die bedingungslose Treue zu einer Frau als auch die bedingungslose „Unterwerfung“ unter einen Gott sind ihre Sache nicht. Sie sind die ewigen Zweifler – meist auch geographisch zwischen mehreren Orten verhaftet, geflohen aus der Welt des ostjüdischen „Schtetls“ in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Weder beheimatet im orthodoxen Judentum noch in der zionistischen Bewegung, pendeln diese Helden – eigentlich Antihelden – spirituell, mental, psychisch hin und her. Und auch die Liebe bietet keine Erlösung, sondern mündet meist, so wie in den genannten Romanen, in eine mittlere bis große Katastrophe. Nur „Meschugge“ bildet hier eine Ausnahme – ausgerechnet. Dazu aber später mehr.

Dass er die Geschichten seiner Romane aus der eigenen Erfahrungswelt schöpft, daraus machte Isaac Bashevis Singer nie ein Geheimnis:

„Wenn auch nicht alles, was in meinen Büchern steht, wirklich genau so geschehen ist – es hätte halt so geschehen können.“

Als Icek Hersz Zynger in Leoncin als Sohn eines Rabbiners geboren, wuchs Singer ab 1908 in der damals größten jüdischen Ansiedlung der Welt, in Warschau auf. Aus wirtschaftlicher Not zog die Mutter Batsheva mit ihm und einem Bruder 1917 nach Bilgorai zu ihren Brüdern, ebenfalls Rabbiner. Hier lernte Singer die traditionellen Lebensformen der polnischen Juden kennen. Das „Schtetl“ und seine Geschichten – auch sie prägen sein späteres Schreiben. Singer, der selbst eine Ausbildung zum Rabbiner abgebrochen hat, kann 1935 seinem älteren Bruder nach New York folgen, muss sich jedoch von seiner ersten Frau trennen. Nach Anfangsschwierigkeiten beginnt er, wie sein Bruder, für jiddische Zeitungen zu schreiben, eigene Erzählungen und Romane (oft als Fortsetzungsgeschichten) zu veröffentlichen, immer mit dabei: Die Schreibmaschine mit jiddischen Buchstaben.

1940 heiratet er die aus Deutschland geflohene Alma Wassermann (1907-1996): Eine lebenslange Liebe und Ehe, aber treu blieb er ihr nie. Auch das eines seiner literarischen Motive.

Drei Beispiele für spätere Singer`sche Dreiecks- (bzw. Mehrecks-) Geschichten:

„Feinde, die Geschichte einer Liebe“ (1973) wurde bereits auf dem Blog vorgestellt:

„Herman neckte sie oft, nannte sie albern, aber das Opfer, das sie ihm gebracht hatte, konnte er nie vergessen. So wie sie offen und ehrlich war, war er unaufrichtig und in Lügen verstrickt. Trotzdem, Tag und Nacht hielt er es nicht aus bei ihr.“

„Max, der Schlawiner“ (1994/1995, aus dem Nachlass).

„Zirele neigte den Kopf zur Seite und musterte Max argwöhnisch und zugleich neugierig. Plötzlich sagte sie: „Dann haben Sie diese Reise gemacht, um Ihre Verzweiflung zu vergessen.“ Es war schon lange her, seit Max das deutsch-jüdische Wort Verzweiflung gehört hatte, aber er verstand, was es bedeutete, und es gab ihm einen Stich.“

Tatsächlich ist Max ein Verzweifelter und ein Zweifelnder. Ausgewandert von Warschau nach Argentinien schlägt er sich, obwohl aus einer orthodoxen, strenggläubigen Familie stammend, als Kleingauner im halbseidenen Milieu durch, fängt sich zunächst, wird „seriös“, gründet eine Familie. Der Tod seines Sohnes Arturo, die Entfremdung von seiner Frau, eine eintretende Impotenz – all dies bringt die brüchige Fassade ins Wanken. Max reist zurück in den Ort seiner Kindheit – auf Spurensuche, auf der Suche nach den Wurzeln, nach Heilung. Die Reise endet in einem Desaster: Fast begeht er Bigamie, ausgerechnet mit der Tochter eines Rabbiners, verfängt sich in den Schlingen einer femme fatale, wird verhaftet. Offen bleibt, was mit ihm geschieht, ein gutes Ende wird er nicht nehmen.

„Wozu habe ich das nötig? In was für ein teuflisches Spiel bin ich hineingeraten? Ihm fielen die Worte seiner Mutter ein: Der schlimmste Feind des Menschen ist er selbst…Zehn Feinde können ihm nicht so viel antun, wie er sich selbst antut.“

 „Meschugge“ (1994, aus dem Nachlass).

“Das ganze Gerede von Monogamie ist eine einzige Lüge. Es ist von Weibsbildern und puritanischen Christen erfunden worden. Bei den Juden hat es so etwas nie gegeben.”

So großspurig redet in diesem schmalen Roman der Ostjude Max daher – am Ende wird ihn der Schlag treffen. Zuvor aber bringt er noch das Leben seines rund 20 Jahre jüngeren Freundes Aaron durcheinander. Aaron fristet ein Dasein als Schriftsteller, im Gegensatz zum lebenslustigen Lebemann Max eine traurige Figur:

„Gott der Gerechte – Ende Vierzig war ich noch genauso wie mit zwanzig Jahren: faul, konfus, zutiefst melancholisch. Kein Erfolg, den ich verbuchen konnte (auch wenn es nur geringe Erfolge waren) schien meine Depression vertreiben zu können. Ich lebte von einem Tag zum anderen, von einer Stunde, einer Minute zur anderen.“

Die beiden, die sich noch aus Polen kennen, treffen sich in New York wieder – und prompt erwacht Aaron aus seinem Dämmerzustand. Ursächlich dafür ist auch Maxens Geliebte Miriam:

„Als wir an diesem Abend die Cafeteria verließen und den Broadway entlang gingen, empfand ich zum ersten Mal die innere Ruhe, die uns wahre Liebe schenken kann.“

Lang währt die Ruhe jedoch nicht – für Turbulenzen sorgen weitere Frauen und amouröse Verwicklungen, fehlgeschlagene Finanzspekulationen, ein Schlaganfall, eine Reise nach „Erez Israel“, aber vor allem Miriams Vergangenheit. Sie, so stellt sich heraus, konnte dem Holocaust nur entgehen, indem sie Geliebte und Handlangerin eines Nazis wurde. Ein Tabu. Doch letzten Endes entscheidet sich Aaron (wie auch Max ein Alter Ego des Autoren) für Miriam – anders als in „Feinde, die Geschichte einer Liebe“ und „Max, der Schlawiner“ ein Ende für die Liebe. Wenn auch mit Fragezeichen. Und als Ergebnis eines Aktes sowohl der Leidenschaft als auch des Willens:

„Ich war nach wie vor Pantheist, nicht im Sinne Spinozas, eher im Sinne der Kabbala. Ich setzte Liebe mit Freiheit gleich. Wenn ein Mann eine Frau liebt, so lautete meine Theorie, dann ist das ein Akt der Freiheit. Die Liebe zu Gott kann nicht durch Gebote, sondern nur durch einen Akt der Willensfreiheit bewirkt werden. Die Tatsache, dass fast alle Lebewesen der Vereinigung eines männlichen und eines weiblichen Partners entspringen, war für mich ein Beweis, dass das Leben ein Experiment in Gottes Freiheitslaboratorium ist. Die Freiheit will nicht passiv bleiben, sie will schöpferisch sein. Sie will unzählige Varianten, Möglichkeiten, Kombinationen. Sie will Liebe.“

Vom Zweifler Herman Broder über Max den Schlawiner bis hin zu Aaron: Liest man die drei Romane in Abfolge, so lässt sich eine Entwicklung erkennen. Herman, der sich nicht entscheiden kann, entflieht der Situation. Max, der sucht und flieht, ohne zu wissen, was und vor wem, scheitert. Nur Aaron gelingt – durch einen bewussten Akt der Entscheidung – letztendlich (und zumindest vorübergehend) das Experiment „Leben/Lieben“.

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Isaac B. Singer: Feinde, die Geschichte einer Liebe

Ein Mann und drei Frauen – und ein Roman, der zeigt, dass der Feind der Liebe vor allem eine grausame Welt mit einem unerbittlichen Gott ist.

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Bild von alanbatt auf Pixabay

„Ich schäme mich nicht zu gestehen, daß ich zu jenen zähle, die sich einbilden, Literatur könne neue Horizonte und Perspektiven erschließen – philosophische, religiöse, ästhetische und auch soziale. Die Geschichte der alten jüdischen Literatur kannte keinen Unterschied zwischen Dichter und Propheten. Nicht selten wurde unsere alte Dichtung zum Gesetz, zum Leben selbst.“

Dies sagte Isaac Bashevis Singer (1904-1991) in seiner Rede in Stockholm, als er 1978 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Wie die Literatur ins Leben eingreifen kann – davon später mehr. Vorab nur dieses: Unter all den Büchern Singers, die ich gelesen habe – „Max, der Schlawiner“, „Die Familie Moschkat“, „Jakob, der Knecht“ – und seinen Erzählungen ist mir der Roman „Feinde, die Geschichte einer Liebe“ das liebste. Und dies nicht aus rein literarischen Gründen, aber auch.

„Feinde, die Geschichte einer Liebe“, das ist eigentlich die Geschichte dreier Lieben und im Mittelpunkt ein entscheidungsschwacher, wankelmütiger, aber dennoch liebenswerter Held, den man gerne an die Hand nehmen würde, um ihm bei seinen Irrungen und Wirrungen zu begleiten. New York, 1949: Herman Broder, ein polnischer Jude, hat den Holocaust überlebt, weil ihn Yadwiga, das christliche Dienstmädchen seiner Familie auf dem Dachboden eines Bauernhauses versteckte. Nach Ende des Krieges erfährt er, dass seine Ehefrau Tamara erschossen wurde, auch die beiden Kinder wurden ermordet, kein Mitglied seiner Familie überlebte. Mit Yadwiga emigriert er in die USA, er heiratet sie aus Dankbarkeit und Pflichtgefühl. Das Drama dieser Ehe: Sie liebt ihn, immer schon, er sie nicht. Zuviel trennt das analphabetische polnische Mädchen und den gebildeten Mann, der sich jetzt als Ghostwriter für einen Rabbi durchschlägt – um dem engen Heim zu entkommen, gibt er sich Yadwiga gegenüber als Büchervertreter aus.

„Jedesmal, wenn er fortging, verabschiedete sie sich von ihm, als regierten die Nazis in Amerika und sein Leben wäre in Gefahr. Sie legte ihre heiße Backe an die seine und bat ihn, sich vor den Autos in acht zu nehmen, seine Mahlzeiten nicht zu vergessen und daran zu denken, sie anzurufen. Sie hing an ihm mit der Ergebenheit eines Hundes. Herman neckte sie oft, nannte sie albern, aber das Opfer, das sie ihm gebracht hatte, konnte er nie vergessen. So wie sie offen und ehrlich war, war er unaufrichtig und in Lügen verstrickt. Trotzdem, Tag und Nacht hielt er es nicht aus bei ihr.“

Denn da ist Mascha, die komplizierte, nervöse Geliebte, eine Überlebende wie er, eine Sheherazade, der er von Kopf bis Fuß, vom Scheitel bis zur Sohle ergeben ist.

„In Schifrah Puahs Zimmer war es jetzt dunkel, und immer noch saß Mascha auf dem Stuhl in Hermans Zimmer und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Herman wußte, daß sie irgendeine ungewöhnliche Geschichte für ihr Liebesspiel vorbereitete. Mascha verglich sich mit Sheherazade. Das Küssen, das Liebkosen, das leidenschaftliche Liebemachen war immer begleitet von Geschichten aus den Ghettos, den Lagern, ihrem eigenen Wandern durch die Ruinen Polens.“

Mit Mascha und ihrer Mutter in der Bronx führt Herman ein Doppelleben, von dem Yadwiga langsam ahnt. Doch vollends verwirrend und unhaltbar wird die Situation, als die totgeglaubte Ehefrau Tamara in New York erscheint – fast einer Gespenstererscheinung gleich, ein Dybbuk. Sie möchte Herman nicht zurück – doch diesen stürzt Tamaras Auftauchen in weitere, noch tiefere Gewissensbisse. Zusätzlich katalysierend wirkt auf Herman, dass sowohl die momentane Ehefrau als auch die Geliebte schwanger werden – nichts fürchtet der Vater, der seine Kinder verlor, mehr, als ein neues Kind in diese chaotische Welt zu setzen, in dieses fragile Leben, das stets vom Zusammenbruch bedroht ist. Tamara, die sich selbst für geisteskrank hält, erweist sich am Ende als die Lebenstüchtigste. Sie baut sich eine neue Existenz auf, nimmt Yadwiga und deren Kind zu sich. Mascha nimmt sich das Leben. Und Herman verschwindet – irgendwo, spurlos.

„Mehrere Male hatte Tamara Hermans Namen in die Vermißtenspalten der jiddischen Presse setzen lassen, aber ohne Erfolg. Tamara glaubte, daß Herman sich entweder umgebracht hatte oder sich einer amerikanischen Version seines polnischen Heubodens versteckte. Eines Tages machte der Rabbi Tamara die Mitteilung, das Rabbinat habe wegen der Massenvernichtung die Beschränkungen gelockert, so daß verlassene Frauen ein zweites Mal getraut werden könnten.
Tamara hatte erwidert: „Vielleicht in der nächsten Welt – mit Herman.“

So endet das Buch.

Weit mehr als eine tragisch-komische Erzählung von einer Menage zu viert, weit mehr als eine Geschichte vom Vergehen, von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Liebe. Es ist ein Roman, der vor allem auch die Feinde der Liebe zwischen den Zeilen benennt – eine grausame, chaotische Welt, ein unerbittlicher Gott, die Begrenztheit der Menschen.
Dazu: Die Schuld der Überlebenden. Während Hermans Situation zwischen den Frauen immer unhaltbarer wird, wendet sich der Ton des Romans, vom Komischen zunehmend mehr in das Tragische, wird zu einer Betrachtung der Situation überlebender Holocaust-Opfer. Ein Buch der Verluste – die Familie, die geliebten Menschen verloren, die Heimat, die Zuversicht, den Glauben, nicht nur den Glauben an Gott, sondern auch den Glauben an das eigene Vermögen, an die eigene Kraft, ein Verlust, der Herman und auch Mascha zu wankelmütigen, neurotischen Menschen werden lässt. Immer auf der Flucht, auch vor sich selbst.

„Die Bibel, der Talmud und die Kommentare unterwiesen den Juden in einer Strategie: Fliehe das Böse, verbirg dich vor der Gefahr, vermeide Kraftproben, geh den zornigen Mächten des Universums so weit wie möglich aus dem Wege. Der Jude hat nie verächtlich auf den Fahnenflüchtigen herabgeblickt, der sich in einem Keller oder auf einem Dachboden verkroch, während draußen in den Straßen Armeen aufeinanderprallten.
Herman, der moderne Jude, hatte dieses Prinzip um einen Schritt erweitert: Er hatte sogar den Halt des Glaubens an die Thora aufgegeben. Er betrog nicht nur Abimelech, sondern auch Sarah und Hagar. Herman hatte kein Bündnis mit Gott geschlossen und hatte keine Verwendung für Ihn. Er wollte nicht, daß sein Same so zahlreich werde wie der Sand im Meer. Sein ganzes Leben war ein Spiel der Verstohlenheit (…).“

Isaac Bashevis Singer ist in meinen Leseraugen ein ganz Großer – nur wenige können das, diesen schmalen Grat zwischen Tragik und Komödie beschreiten, in ein Buch beides packen, ja, eigentlich die ganze Welt: Das Lachen, das Schmunzeln, die Freude, die Trauer, das Weinen, das Unglücklichsein. Vielleicht – mit solchen Kategorisierungen möchte ich jedoch eher zurückhaltend sein – ist dieses „verschmitzt-melancholische“ tatsächlich ein Charakteristikum der jüdischen Literatur. E. Michael Salzer schrieb über Singer: „Nie zuvor gab es bei den sonst eher langweiligen Nobelfeiern so viel zu lachen (…). Und allein die Begründung, die Isaac B. Singer für sein hartnäckiges Festhalten an seiner Sprache, in der er schrieb, lieferte: „Ich schreibe gerne Gespenstergeschichten und nichts gefällt Gespenstern mehr, als eine sterbende Sprache. Je sterbender die Sprache, desto lebendiger sind die Geister. Gespenster lieben Jiddisch und so viel ich weiß, sprechen sie es auch alle.“

„Feinde, die Geschichte einer Liebe“ erschien 1966 unter dem Titel „Sonim, die Geschichte fun a Liebe“.