MATTHIAS ZIMMER: Calixt

Was ist, wenn Vater und Sohn lange durch eine Mauer, vor allem aber auch durch unterschiedliche Weltanschauungen von einander getrennt sind? Einen Generationenkonflikt mit politischen Hintergründen schildert Matthias Zimmer in seinem Roman “Calixt”.

Von Roger Willemsen wurde der Politikwissenschaftler und ehemalige Bundestagsabgeordnete Prof. Dr. Matthias Zimmer als politischer Redner gewürdigt: Als “fast philosophische Rede im Bundestag, ein Glanzstück” bezeichnete Willemsen eine von Zimmers Reden. Doch nicht nur im politischen Umfeld zeigt sich Zimmer wortgewaltig: Mit “Calixt” legte der gebürtige Marburger nach seinem erfolgreichen Debüt “Morandus” nun einen neuen Roman in der Edition Faust vor.

Was ist es, was unser Leben prägt – was sich uns einprägt über Generationen hinweg? Kann man auf Erinnerungen bauen? Aus den unterschiedlichen Perspektiven von Vater und Sohn entsteht ein neuer Blick auf die Vergangenheit und auf die Frage, was es braucht, um dem Leben Sinn und Bedeutung zu geben.

Der berühmte Historiker Rudolf Herzberg blickt auf sein Leben: seine Laufbahn in der DDR, seine sozialistische Grundüberzeugung, sein Familienleben. Gleichzeitig sieht sich sein Sohn, der vor vielen Jahren aus der DDR geflohen war, vor die Aufgabe gestellt, eine Rede zum 30. Jahrestag des Mauerfalls vorzubereiten. Dazu muss er sich seiner Vergangenheit stellen, aber auch dem, was seinem Vater wichtig war.


Zum Autor:

Matthias Zimmer ist gebürtiger Marburger und an der Mittelmosel
aufgewachsen. Nach beruflichen Stationen in Bonn und dem kanadischen
Edmonton lebt und arbeitet er seit mehr als 20 Jahren in Frankfurt am
Main, unterrichtete an der Universität zu Köln und war einige Jahre
Mitglied im Deutschen Bundestag. Sein Romandebüt Morandus ist 2021 ebenfalls in der Edition Faust erschienen.


Bibliographische Angaben:

Matthias Zimmer
“Calixt”
Edition Faust, Frankfurt a. M., 2023
Roman, Klappenbroschur, 240 Seiten
ISBN 978-3-949774-16-4


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag.

Alice Grünfelder: Jahrhundertsommer

„Jahrhundertsommer“: Ein Dorfroman, ein Anti-Heimat-Roman, vor allem aber auch ein Gesellschaftsroman. Alice Grünfelder schreibt über eine Familie auf der Schwäbischen Alb, die sich gegen Armut, soziale Ächtung und das Schicksal an sich stemmt.

„Und so schön war es den ganzen Sommer über und auch im Herbst, als auf der Schwäbischen Alb die Wälder in gelbem und feuerrotem Licht schwammen.“

Alice Grünfelder, „Jahrhundertsommer“


Es währt nicht lang, das kleine Glück von Magda: Nur einen heißen Jahrhundertsommer lang, der abends die Alb glühen lässt, spürt sie diese Wärme „wie ein Strohfeuer“ in ihr, ist sie verliebt, beinahe wie ein Teenager. Doch dann verschwindet John, der amerikanische Soldat, wort- und spurlos Richtung Vietnam, lässt die 40jährige mit einem „Dergel“, einem „Balg“ zurück. In ihrem Dorf ist Magda damit doppelt gebrandmarkt: Als „Geschiedene“, die sich von einem „Ami“ ein Kind anhängen ließ.

Bild von Ingo Jakubke auf Pixabay

Die Enge der schwäbischen Dörfer

Scharlachrote Buchstaben gab es in dieser urschwäbischen Gegend zwar noch nie. Aber „gschwätzt“ wird noch immer, in dieser Enge der Dörfer, wo jeder jeden kennt, über jene, die nicht in die gängigen Vorstellungen passen. Es ist auch ein Stück meiner Kindheit und Jugend, in die die Schriftstellerin Alice Grünfelder mit ihrem neuen Roman „Jahrhundertsommer“ entführt. Nur wenige Sätze genügen, um mich in die 70er- und 80er zurückzuführen:

„Jetzt also hatten sie endlich ein eigenes Haus in der neuen Siedlung, gleich neben dem Libellenrain, wo die Reichen lebten. Ihre Neubausiedlung grenzte aber nicht direkt an den Wald, sondern ging über in weite Wiesen und Äcker. Manchmal versprühten Bauern ihren Dung, das roch dann in der ganzen Siedlung.“

Der Traum der Eltern von Leuten meiner Generation vom eigenen Häusle, die Not der Kriegs- und Nachkriegszeit immer noch im Nacken, als die Großmütter selbst noch Socken stopften, die mehr Löcher hatten als Wolle, dieses Credo vom „Schaffa, schaffa, Häusle baua ond net nach de Mädla schaua.“ Der Wunsch, am Wirtschaftswunder teilzuhaben. Und wem das nicht gelang, dem hing der Ruf nach, selbst schuld zu sein. Am Gymnasium meiner oberschwäbischen Kleinstadt-Heimat kursierte zudem ein besonderer Spruch: „Malaria, Cholera, von dr Alb ra“. Die Schwäbische Alb galt als besonders rückständig. Das Karstgebirge ist eine der wasserärmsten Regionen Deutschlands, das Leben für die Landwirte war hart. Eine raue Landschaft, die einen rauen Menschenschlag hervorbrachte. Lebensgewohnheiten, geprägt von harter Arbeit, den engen Grenzen der Kirche und zugleich von den Sagen und Mythen der Ahnen – all das schwingt in „Jahrhundertsommer“ mit.

Von Armut und Widerstandskraft

Alice Grünfelder erzählt die Geschichte einer kleinen Familie, die immer außen vor bleibt, die kämpfen muss, selbst um das Notwendigste, sie erzählt von gescheiterten Lebensplänen und misslungenen Fluchten, aber auch von einer zähen Widerstandskraft, die schwäbisch-stoisch die größten Schläge einstecken lässt. Die Geschichte setzt ein mit Magda in den 60er-Jahren, die von ihrem „Alten“, wie sie ihn dann nur noch abschätzig-zornig nennt, wegen einer jüngeren Frau sitzengelassen wird. Es ist jedoch nicht der untreue Mann, dem die Dorfgemeinschaft etwas anhängt, Magda selbst werde schon ihren Anteil daran haben, wird gemunkelt. Und wird als „Geschiedene“ fortan gemieden. Tochter Ursula flüchtet sich schnell selbst in den Ehehafen, wird schwanger, muss von Thomas geheiratet werden:

„Jetzt bringst du uns noch die Geschiedene ins Haus“, hatten seine Eltern gezetert.
„Nur eine Evangelische wäre noch schlimmer gewesen, dann hätten sie mich verstoßen, das haben sie uns von klein an eingetrichtert“, hatte Thomas Ursula erzählt.

Ursula, die lange mit der Mutter hadert, widerfährt schließlich das gleiche Geschick, auch bei ihr währt das Familienglück im eigenen Haus (in der nach Dung riechenden Siedlung) nicht lange, auch sie wird gegen ein jüngeres Modell eingetauscht. Ihre Halbschwester Ellen, Abkömmling der einzigen Liebe Magdas, scheint es klüger anzustellen: Sie spart eisern ihr Geld, das sie mit Babysitting verdient, um nach Paris zu gehen. Am Ende, als Magda bereits 80 Jahre alt ist, kommt Ellen nach dem Unfalltod ihres Partners mit einem kleinen Kind, aus Not nach zu ihrer Mutter zurück:

Sie schrieb Julia, wie die Leute in Beissweng die Straßenseite wechselten, hinter vorgehaltener Hand tuschelten, so wie immer, so wie früher. Denn ihr Kind hatte dunklere Haut, schwarze Kraushaare, schwarze Kugelaugen.
„Von wem hat sie das Balg?“
„Dass die sich überhaupt traut, zurückzukommen!“

Alice Grünfelder erzählt abwechselnd aus der Perspektive dieser drei Frauen aus drei Generationen über Frauenleben, unerfüllten Wünschen, Hoffnungslosigkeit, die im Falle Magdas bis zum Suizidversuch führt, aber auch vom Überleben in einer feindlichen Umgebung. Man zieht beim Lesen innerlich den Hut vor diesen Frauen, die sich durchbeißen, sei es mit dem Bemalen von Spielfiguren in Heimarbeit, als Marktfrau mit Gemüse aus dem eigenen Garten, als Avon-Beraterin und unterbezahlte Fußpflegerin im Altenheim oder als ausgebeutetes Au Pair-Mädchen in Frankreich.

Drei Frauen und ein Mann

Mit Viktor, Magdas Enkel, Ursulas Sohn, bringt Alice Grünfelder noch eine männliche Perspektive ins Spiel: Auch er ein „Looser“, der schon in jungen Jahren im Alkoholentzug landet, aber auch er einer, der sich immer wieder aufrappelt. Und einer, der am Ende, auf beinahe schon skurrile Weise, die Frauen seiner Familie kurz aus der schwäbischen Armut reißt: Als an Magdas Haus schon die Eternit-Platten abfallen, als in seinem „Elektrofachgeschäft“ die Kunden ausbleiben und Ellen ohne Geld in Frankreich sitzt, kommt Viktor die rettende Idee: „Grün ist die Hoffnung“ lautet das letzte Kapitel, grün ist der Hanf, den er mit Hilfe „seiner“ Frauen in einer Lagerhalle anbaut und gewinnbringend vertickt. Natürlich, und das scheint typisch für diese Familie, geht auch dieses Geschäft irgendwann daneben, fliegt alles auf.

Doch im letzten Kapitel steht Magda, wie zu Beginn des Romans, vor einem Spiegel – nur dass sie sich diesmal nicht überlegt, was sie beim Ausflug auf ein Dorffest mit ihrer Putzkolonne anziehen soll, sondern welche Kleidung für das Gefängnis taugt. Doch Magda ist eine andere geworden, in diesem harten Leben:

„Da muss sie also erst achtzig werden, um gefragt zu werden, ob sie Probleme habe. Die können sie alle mal, dachte sie (…). Es klingelte. Sie ging hinaus. Zwei Jahre Urlaub auf Staatskosten. In Gotteszell.“

Es ist eine Stärke dieses Romans, dass er Figuren nahebringt, die zu Menschen werden: Magda, Ursula, Ellen und Viktor. Man muss sie nicht mögen, sie haben ihre Schwächen, ihre dunklen Seiten, Viktor, der Typ, der sich einfach hängen lässt, Ursula, die sich in Glückserwartung an den jeweils greifbaren Mann hängt, Magda, die ihre Schroffheit an Ellen auslebt. Doch sie werden von Alice Grünfelder so nah- und greifbar geschildert, dass sie förmlich aus dem Buch heraustreten.

Die Sprache transportiert die Mentalität der Gegend

Das bewirkt auch Grünfelders Sprache: Nicht literarisch überhöht, direkt, mit leisem Humor, viel Mutterwitz und dezent eingestreuten Mundart-Sprengseln, die die Handlung, die auch in anderen Landstrichen stattfinden könnte (auch wegen der geschilderten Mutlangen-Proteste wurde ich ab und an beim Lesen an den „Dorfroman“ von Christoph Peters erinnert, ähnliches Milieu, andere Gegend), ins Schwäbische verortet. Die Sprache transportiert die Mentalität einer Gegend, die trotz – oder gerade wegen ihrer Rauheit – eine ganz eigene Anziehungskraft hat.

„Jahrhundertsommer“: Ein Dorfroman, ein Anti-Heimat-Roman, vor allem aber auch ein Gesellschaftsroman, der durch die Verknüpfung der verschiedenen Ebenen auch verschiedene gesellschaftliche Themen anspricht, ohne überfrachtet zu wirken: Alleine Magda führt uns vor Augen, was Armut, gerade auch Altersarmut bedeutet – und dass sie, sowohl in der Literatur als auch im „echten Leben“ nicht wegzuleugnen ist.


Bibliographische Angaben:

Alice Grünfelder
Jahrhundertsommer
dtv Verlag, 2023
ISBN: 978-3-423-28345-8

Homepage der Autorin: https://www.literaturfelder.com/

ULLA COULIN-RIEGGER: Es wird so unbemerkt zu spät

Ulla Coulin-Riegger vermag es, psychologische Themen in unterhaltsame Literatur zu verpacken. In ihrem neuen Roman wird ausgerechnet ein engagierter Psychiater von Burnout betroffen: “Es wird so unbemerkt zu spät” ist eine märchenhafte Satire auf unsere Leistungsgesellschaft.

Bereits mit ihrem vielbeachteten Debütroman „Mutters Puppenspiel“, der unter anderem in der FAZ besprochen wurde, hat die Psychologin und systemische Verhaltenstherapeutin Ulla Coulin-Riegger bewiesen, mit welchem Geschick sie psychologische Themen in gute Literatur verpacken kann.

Nun erscheint mit „Es wird so unbemerkt zu spät“ ihr zweiter Roman, der erneut auf ungewöhnliche Weise ein Thema aufgreift, das viele Menschen betrifft: Burnout entwickelt sich in unserer Leistungsgesellschaft zur neuen Volkskrankheit.

Wie diese Krankheit sich bei einem Menschen einnisten kann, zeigt die Schriftstellerin interessanterweise am Beispiel eines Psychotherapeuten, der seinen eigenen Patienten aus deren Lebens- und Schaffenskrise helfen soll: Rafael Lenz, der einen typischen Patriarchen-Vater und eine anspruchsvolle Ehefrau im Nacken hat, merkt selbst viel zu spät, dass er sich mit dem Virus des „Ausgebranntseins“ angesteckt hat – und sein Ehrgeiz, den Menschen in einer eigenen Klinik mit ungewöhnlichen Methoden helfen zu wollen, endet in einer burlesk anmutenden Katastrophe.

Schriftstellerin Angelika Overath, die den Roman vorab gelesen hat, ist begeistert: „Auch wo die Autorin sezierend kritisch ist, schreibt sie mit Empathie. Man spürt die Herzensgeste der Gnade. Und weil Ulla Coulin-Riegger durch ihr genaues, witziges, traurig- und lachenmachendes Erzählen uns zum Nachdenken bringt, könnte dieser kluge Text eine Chance bieten, etwas an unserem Leben zu ändern.“

Und Ulla Coulin-Riegger sagt über ihre Motivation zu ihrem zweiten Roman:
„Mit den Mitteln der Psychotherapie gegen die mächtigen Versprechungen und Drohungen einer Leistungsgesellschaft antreten zu müssen, mag gelegentlich zur Sisyphusarbeit ausarten und den engagiertesten Therapeuten Momente der Resignation und eigener Erschöpfung durchleben lassen. Es reizte mich, diese Erfahrung im Rahmen eines Romans zu verarbeiten, und an der Seite meines Protagonisten den Traum von einem selbstfürsorglicheren und Einspruch erhebenden Menschen zu träumen, der, vielleicht schon bald, durch die Generation Z ein bisschen wahr werden könnte.“


Zur Autorin:

Ulla Coulin-Riegger, 1950 in Stuttgart geboren, studierte Psychologie an der Eberhard-Karls-Uni-versität in Tübingen und absolvierte danach eine Ausbildung zur Psychotherapeutin. Seit 1996 ist sie als Verhaltenstherapeutin und systemische Verhaltenstherapeutin tätig und führte bis vor kurzem eine eigene Praxis in Leinfelden-Echterdingen. Bereits in jungen Jahren begann sie auch mit dem Schreiben. Ihren ersten Text über eine narzisstische Mutter bot sie aber erst spät zur Veröffentlichung an. Nach dem Erfolg von „Mutters Puppenspiel“ ist „Es wird so unbemerkt zu spät“ ihr zweites Buch.


Bibliographische Angaben:

Ulla Coulin-Riegger

Es wird so unbemerkt zu spät
Molino Verlag GmbH, 2023
Hardcover, 212 Seiten
ISBN: 978-3-948696-45-0

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Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für die Autorin.

Anita Brookner: Seht mich an

1983 veröffentlichte Anita Brookner den Roman “Seht mich an”, der nun in deutscher Erstübersetzung beim Eisele Verlag erschien. Ein berührend melancholisches Buch über ein gesellschaftliches Phänomen: Einsamkeit.

„Als Nancy die Tür hinter mir abgeschlossen hatte, wie sie es üblicherweise tat, wenn ich ihr nicht sagte, dass ich noch einmal ausgehen wollte, roch ich die dumpfe, eingeschlossene Luft dieser Wohnung und rüstete mich, das rituelle Mahl auf dem rituellen Tablett tapfer durchzustehen. Ich wusste, wie unerträglich dies alles war, und ich ertrug es nur, weil mir ein flüchtiger Blick in die Welt draußen vergönnt gewesen war. Ich wollte nur sehen, wie die anderen, die freien Menschen, ihr Leben führten, und dann konnte ich mein eigenes beginnen.“

Anita Brookner, „Seht mich an“


Wer bewusst, oder weil es das Leben so mit sich brachte, als Single lebt, der lernt im Laufe der Zeit vor allem eines: Das eigene Leben in die Hand zu nehmen, zu wissen, dass es bereits da ist, dieses Leben, und seine Grundzüge von anderen allenfalls minimal beeinflusst werden können. Die Hoffnung auf die eine lebensverändernde Begegnung, sie trügt und täuscht. Verändern kann man sein eigenes Leben nur selbst. Eine Lektion, die Frances Hinton, die Hauptfigur in Anita Brookners drittem Roman, auf eine sehr schmerzhafte Weise erfährt.

Geprägt von einer eleganten Melancholie

Der Inhalt dieses Romans, der von einer eleganten Melancholie durchzogen ist, ist in wenigen Sätzen umrissen. London, die 1980er-Jahre. Frances Hinton lebt nach dem Tod ihrer Mutter allein mit dem alten irischen Hausmädchen Nancy in einer etwas skurrilen Wohnung, arbeitet in der Bibliothek eines medizinischen Forschungsinstituts und ist im Privatleben vor allem von alten Menschen umgeben, den Bibliotheksbesuchern, Kolleginnen im Ruhestand, dem ehemaligen Arzt ihrer Mutter. Erst als sie sich mit dem jungen Wissenschaftler Nick und dessen Frau Alix anfreundet, mit ihnen „klassische Bohemeabende“ verbringt, scheint sich in diesem eintönigen Alltag etwas zu verändern:

„Ich sprach mit niemanden über diesen Wandel in mir, über das Gefühl, das ich hatte, das Leben habe sich mir geöffnet, und zwar nicht nur zur Besichtigung, sondern, was mehr bedeutete, damit ich aktiv daran teilnahm.“

Bild von Photo Mix auf Pixabay

Der Rausch der Leichtigkeit, er hält nicht lange an: Zwar geht Frances zu James, einem Wissenschaftler an ihrem Institut (und in ihrem reduzierten Leben der einzig verfügbare Single-Mann) eine Art kindlicher Freundschaft ein. Im Grunde ein Flirt, der vor allem aus ausgedehnten Spaziergängen durch das immer verregnete London besteht und recht zaghaft vor sich hindümpelt. Erst als Frances mehr und mehr gewahr wird, dass sie bei dieser kleinen Clique immer eine außenstehende Beobachterin bleiben wird, dass James vielleicht ihre letzte Chance ist auf ein klassisches Lebensmodell, das den Menschen als Paar definiert, startet sie einen fast schon verzweifelt anmutenden Verführungsversuch. Der demütigend für sie endet: „Nicht mit dir, Frances. Nicht mit dir.“

Regression zum kindlichen Ich

Nach einem letzten Zusammentreffen mit den sogenannten „Freunden“ im Restaurant, kehrt sie in ihre Wohnung und zu Nancy zurück, bricht innerlich zusammen und mutiert dabei beinahe zum Kind, das von der Haushälterin umsorgt und gepflegt werden muss.

„Aus tiefem ungetrübten Schlaf tauchte ich immer wieder auf – vielleicht war nur eine Viertelstunde vergangen -, in einen Zustand totaler Regression, als wäre ich, liebevoll umsorgt, in den Ferien, und vor mir läge ein Tag voller Überraschungen und Freude. Ich finde, dass dies einer der übelsten Streiche ist, die wir uns selbst spielen: diese Unfähigkeit, uns freizumachen von der frühen, kindlichen Erwartungshaltung.“

Gerade dieses Zitat zeigt die Tragik dieses Romans: Frances, die so klar und hellsichtig ihren eigenen Charakter analysiert, die einen durchaus kritischen Blick auf ihre Freunde, insbesondere die egozentrische, verwöhnte, „raubtierhafte“ Alix hat, jene Frances also, die weiß, dass ihre Lebens- und Moralvorstellungen anders geprägt sind, will sich dennoch dem gesellschaftlichen Diktum unterwerfen. Das da, bis in unsere heutigen Tage hinein, lautet: Es ist nicht gut, dass der Mensch (und insbesondere die Frau) allein bleibt. Es macht einem beim Lesen beinahe wütend, ja es schmerzt, zu lesen, wie sehr sie sich zwischenzeitlich verbiegen will, um den Erwartungen an eine Frau auf dem Heiratsmarkt zu entsprechen:

„…ich durfte dabei nicht störrisch oder schwierig sein. Weihnachten stand vor der Tür, und wir hatten es gemeinsam zu feiern. Ich musste also ganz unbeschwert sein.“

Daniel Schreiber über das Lebensmodell “Single”

Wer könnte geeigneter sein, ein Nachwort zu diesem Roman zu schreiben, als der Autor von „Allein“, Daniel Schreiber? Brookner habe in diesem und ihren anderen Romanen immer wieder deutlich gemacht, „was auf dem Spiel stand, wenn man allein lebte, und wie begrenzt die Möglichkeiten für alleinstehende Frauen in einer Gesellschaft waren, die dieses Lebensmodell nicht für beschützenswert, respektabel oder auch nur akzeptabel hielt, sondern bestenfalls für bemitleidenswert.“

„Seht mich an“ (eine Formel, die im Roman immer wieder, einmal fordernd, einmal flehend, wiederholt wird) macht noch einmal bewusst: „Alleinsein“ und „Einsamkeit“ sind unterschiedliche Dinge. Doch wo die Entscheidung zum „Alleinsein“ gesellschaftlich nicht anerkannt ist, wird der Mensch, der sich bewusst oder unbewusst dafür entscheidet – und dies tut Frances, die bei all ihren Anpassungsbemühungen doch immer auch ahnt, dass sie sich bei der Annäherung an Alix & Co. auf einem für sie „falschen“ Weg befindet – auch ein Stück weit in die Einsamkeit getrieben. Das Thema des Romans ist hochaktuell: Immer mehr Menschen leben als Singles und Einsamkeit ist beinahe ein gesellschaftliches Phänomen.

Betrachtet man Anita Brookners Leben, so liegt es nahe, dem Roman autofiktionale Züge zuzuschreiben: Wie ihre Hauptfigur lebte Brookner alleine, arbeitete als Kunsthistorikerin, kannte dieses Singleleben mit seinen Schattenseiten – den scheinbar anteilnehmenden Fragen, warum es denn nie geklappt habe, den Katzentisch im Restaurant, den langen Stunden an den Feiertagen – aus eigenem Erleben. Daniel Schreiber führt in seinem Nachwort aus, Brookner habe später bedauert, „Seht mich an“, das 1983 in England erschien, geschrieben zu haben – der Roman sei verantwortlich für ihren Ruf einer alten Jungfer, die über alte Jungfern schreibt. Dementsprechend wenig wurde ihr literarisches Werk wahrgenommen: „Alte Jungfern“ – wieviel Missachtung schon in diesem Ausdruck liegt! – interessierten in den Feuilletons wenig, galten als langweilig.

Übersehen wurde dabei, mit welcher Eleganz und Präzision Anita Brookner schrieb, mit wieviel Feingefühl für innere Vorgänge und Schwingungen, ohne je ins Sentimentale abzugleiten. Es ist an der Zeit, Anita Brookner zu sehen.


Bibliographische Angaben:

Anita Brookner
Seht mich an
Übersetzt von Herbert Schlüter
Eisele Verlag, 2023
ISBN978-3-96161-153-9

LIOBA HAPPEL: POMMFRITZ aus der Hölle

Mit “POMMFRITZ aus der Hölle” stand Lioba Happel auf der Shortlist beim Schweizer Buchpreis 2022 und erhielt einen der Schweizer Literaturpreise 2023. Ungewöhnlich für einen Roman, der einem absoluten Antihelden eine Stimme verleiht.

Zahlreiche Besprechungen in den Schweizer Medien, Shortlist zum Schweizer Buchpreis 2022 und zuletzt einer der Schweizer Literaturpreise 2023 an Lioba Happel für diesen außergewöhnlichen Roman: Ein großer Erfolg für ein Buch, das einen “Anti-­Helden, wie es in der Literatur nicht viele gibt, ein unglückseliges Monster” (Jan Koneffke) in den Mittelpunkt stellt. Man weiß nicht, soll man sich vor Grauen von POMMFRITZ abwenden oder vor Mitleid geschüttelt sein bei der Geschichte dieses Mannes, der im Gefängnis sitzt, weil er Teile seiner Mutter verspeist hat …

“POMMFRITZ aus der Hölle” ist auf jeden Fall eines: Ein Roman, der einen beim Lesen im wahrsten Sinne des Wortes mitnimmt, packt und lange nicht loslässt. Pommfritz, der Ich-­Erzähler, schreibt an seinen „Vatter in den Emmentälern“, den er vor langer Zeit einmal zu Gesicht bekommen hat, aus der Hölle seines Lebens. Er berichtet von der Kindheit, die er, angebunden an ein Tischbein, fliegentötend, bei einer gewalttätigen, schweigsamen, Grillhühnchen und Pommes verschlingenden Mutter verbringt; von den Besuchen der Angelina vom Sozialamt, einem Wesen zwischen Rosenduft und Formularfrust, und wie die Mutter sie „in die Pfanne haut“; von härtesten Prüfungen unter den Jugendlichen in der Spezialschule; von seiner Liebe zur Prügellilly, deren schlagkräftige Zärtlichkeit die der Mutter noch übertrifft und von der Einzelhaft im Gefängnis, wo er auf der untersten Stufe der Verbrechen steht – denn er hat seine Mutter getötet und danach verspeist – „naja, Stückchen von ihr, ne Kuppe vom Finger“.

Lioba Happel, so die Begründung der Jury zum Schweizer Literaturpreis, gelang mit diesem Roman eine sprachmächtige und zutiefst menschliche Groteske. Den Zumutungen seiner Existenz begegnet Pommi mit Wucht und Witz und einem ungeheuren Willen zur Selbstbehauptung. Sein Hunger nach Literatur, nach Anerkennung, nach Leben entfaltet einen Sound, der lange nachhallt. Monster oder Gott – wer mag das entscheiden?

Die Autorin:

Lioba Happel, 1957 in Aschaffenburg geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Lausanne. Für ihr Werk hat sie etliche Würdigungen erhalten, zuletzt 2021 den Alice Salomon Poetik Preis. Ihr letzten Werke sind in der edition pudelundpinscher erschienen: LUCY oder Warum sind die Menschen so komische Leute, Erzählung (2007); land ohne land, Gedichte (2009); PULS. 100 Gedichte (2017) sowie POMMFRITZ aus der Hölle (Nov. 2021).

Bibliographische Angaben:

Lioba Happel
POMMFRITZ aus der Hölle
edition pudelundinscher 2022
Klappenbroschur, 168 Seiten
ISBN: 978-3-906061-25-2

Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag.