DITHA BRICKWELL: Engeltreiber

Ditha Brickwell, die unter anderem bereits mit dem Bruno-Kreisky-Preis ausgezeichnete Schriftstellerin, holt mit ihrem neuen Roman “Engeltreiber” die Welt des gebeutelten 20. Jahrhunderts auf die literarische Bühne.

Mit ihrem neuen Roman „Engeltreiber“ holt Schriftstellerin Ditha Brickwell das Welttheater des 20. Jahrhunderts auf die Bühne. Anhand zweier Lebensgeschichten spannt Brickwell einen weiten Bogen über Jahrzehnte der Weltgeschichte, die von Krieg, Not und den Härten der Nachkriegszeit geprägt waren, ihre Figuren treibt es durch die Hauptstädte Europas, Wien, Paris, Berlin… von den Umständen bedrängt, nehmen sie doch ihr Leben in die Hand…

Mit ihrer bildreichen Sprache erzeugt Ditha Brickwell bei den Lesern Empathie für ihre Figuren, sie durchbricht den düsteren Hintergrund der geschilderten Zeit mit komischen Momenten und warmherzigem Humor. „Engeltreiber“ erzählt von der Perlenfädlerin Genoveva, Tochter zugewanderter mährischer Bauern, denen in Oberösterreich Missachtung und Ausgrenzung entgegenschlägt. Und von Leo, dem alleingelassenen Sohn reicher Eltern, der in Künstlerkreise, die Abhängigkeit von einer Frau und materielle Not gerät. Die Wege der beiden kreuzen sich, sie schildern einander Episoden vom tapferen Überleben und geben sich Halt. Entlang der Wirklichkeit erzählt hören wir Stimmen im Originalton – aus dem Milieu der Armut und aus den Wiener Künstlerkreisen der kreativen Sechziger Jahre, deren Mitglied Ditha Brickwell war. Als Leser dieser Lebensgeschichten erahnt man den Ursprung unserer heutigen Krisen – wie die apokalyptischen Reiter brechen sie hervor: Pandemie, Hunger, Krieg.

Engeltreiber ist der erste Band der Trilogie Dunkelreise – drei Bücher über drei Epochen  und deren Charaktere –starke Frauen und fantasievolle Jugendliche, jüdische Familien und ihre widerständigen Helfer, Künstler und Weltwanderer…sie alle sind unterwegs auf der Suche nach besserem Leben.


Zur Autorin:

1941 in Wien geboren, studierte Architektur, Städtebau und Bildungsökonomie in Wien, Berlin und New York. Sie arbeitete in Helsinki, Tel Aviv und Paris sowie für den Berliner Senat und die EU in Brüssel, um neue Perspektiven für verarmte Stadtregionen zu entwickeln. Seit 1987 schreibt sie Romane, Essays und Erzählungen. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Wien und Berlin.

Publikationen (Auswahl): 
Die Welt unter meinen Zehen, Zwölf Geschichten aus hundert Jahren. Drava 2019; 
Fedjas Flucht, Roman, Drava 2018; 
Die Akte Europa – eine Utopie geht verloren, Essay-Roman,
Wieser 2010 (ausgezeichnet mit dem Bruno-Kreisky-Preis); 
7 Leben – Frauen biographien, Freimut & Selbst 2005; 
Der Kinderdieb, Roman,Deuticke 2001; 
Angstsommer, Roman, Mandelbaum Wien 1999. 


Stimmen zum Buch:

Der ORF veröffentliche ein ausführliches Portrait und Interview mit Ditha Brickwell in der Sendung “da capo” (4. August 2023)

Ditha Brickwell im Interview mit Joachim Scholl im Deutschlandfunk Kultur.

“Konzeption, Umfang und Detailfülle des Romans sind gewaltig, aber auch Brickwells Sprachgewalt imponiert. Die Autorin stattet ihr Erzählen mit ständig neuen Wortschöpfungen aus, wechselt mühelos Tonarten und Perspektiven. Sie gewährt ihren Geschichten großzügig Raum, um sie mit sprachlicher Virtuosität auszustatten.” – Britta Röder bei den booknerds

“Eine Lektüre-Perle, die Geschichten und Stimmungen kunstvoll aneinanderreiht, wie die weibliche Hauptfigur im Buch.” – Barbara Pfeiffer bei Kulturbowle


Informationen zum Buch:

Ditha Brickwell

Engeltreiber
Roman
Drava Verlag, 2023
Hardcover, 474 Seiten
ISBN: 978-3-99138-021-4

Drava Verlag:
8.-Mai-Straße 12
A-9020 Klagenfurt / Celovec
https://www.drava.at/


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für die Autorin.

Michael Lichtwarck-Aschoff: Der Sohn des Sauschneiders

Können Rinder ohne Hörner gezüchtet werden? Und ist der Mensch verbesserlich? Ein doppelbödiger Roman über eine spannende Zeit in der biologischen Forschung.

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Bild von analogicus auf Pixabay

„Der Grottenolm kommt blind auf die Welt. Wozu bräuchte er in der Dunkelheit, in der er sein Leben verbringt, auch Augen. Aber die Anlagen zu Augen hat er. Und wenn er in zwei Heimaten leben kann, in einer finsteren und einer taghellen – könnte er dann nicht auch lernen, seine Augen zu öffnen, sie aus den flachen Gruben heraus, in denen sie schlummern, zum vollen Sehen entwickeln? Könnte er das Sehen lernen, wenn man ihn in eine andere Heimat verpflanzt?“

Michael Lichtwarck-Aschoff, „Der Sohn des Sauschneiders oder ob der Mensch verbesserlich ist“


Dem Grottenolm haftet etwas Sagenhaftes an. Der Schwanzlurch, der wohl bis zu 100 Jahre alt werden kann, wurde zu früheren Zeiten wegen seines Aussehens und seiner Lebensweise – er hält sich in überfluteten Höhlenteilen auf und kommt selten ans Tageslicht – auch als „Drachenjunges“ bezeichnet oder als „Menschenfischlein“. Was aber tun, wenn der einzige Besitz der Familie ein karger Acker ist, auf dem nur Steine zu finden sind und ab und an ein Grottenmolch auf den Boden geschwemmt wird?

Eigenwilliger Held, spröde wie das Land

Ein großes Geschäft mit den Drachenkindern zu machen, das ist die Sache des Franz Meguşar nicht. Dieser eigenartige, eigenwillige Held dieses ebenso eigenartigen und eigenwilligen Romans ist so spröde wie sein Familienacker. Er starrt und staunt, im Dorf hält man ihn gar für zurückgeblieben, doch plötzlich macht es einen „Riss“ und die Fähigkeit zu laufen, zu sprechen, zu fühlen ist da. Als seine kleine Schwester Jožefa gar von einem Stier – dessen Samen die zweite Erwerbsquelle der Familie ist – mit dem Horn verletzt wird, verursacht dieses Unglück den ganz entscheidenden Riss:

„Die Zeit dazwischen, also von da weg, wo der Vater im Wirtshaus auf ihn wartet, bis zu diesem Schlachtfeld in Wolhynien, verbrachte Franz mit dem Versuch, der Kuh die Hörner wegzuzüchten und dem blinden Drachenkind das Sehen beizubringen. Es wäre ihm dabei um die Frage gegangen, ob man das Rindvieh zur Hornlosigkeit erziehen kann und ob es, nach abgeschlossener Ausbildung, tatsächlich nur noch friedliche, hornlose Kälber in die Welt setzt.“

Das Vivarium von Hans Leo Prizbram

Dem Franz und seiner Idee von der Hornlosigkeit des Rindes, die er obsessiv verfolgt, kommt ein Zufall entgegen: Ausgerechnet auf dem Familienacker prallen zwei gegensätzliche Weltanschauungen aufeinander. Sowohl den Biologen Paul Kammerer als auch den Eugeniker Abel zieht es in die Steiermark auf der Suche nach dem Grottenolm. Franz, der sich von der Begeisterungsfähigkeit Kammerers anstecken lässt, geht zu diesem nach Wien: An das „Vivarium“, der ersten biologischen Versuchsanstalt in Europa, in der tatsächlich unter dem Zoologen Hans Leo Prizbram wegweisende biologische Experimente durchgeführt wurden.

Begegnung mit Alma Mahler-Werfel

Dort landet Franz, zwischen Grottenolmen, Geburtshelferkröten, Gottesanbeterinnen und Alma Mahler-Werfel. Die Femme fatale der Wiener Kulturwelt arbeitete an dem Institut tatsächlich einige Zeit als Praktikantin im „Vivarium“, der Autor gibt ihr, mit leiser Ironie, die Rolle der Tierpflegerin bei den Gottesanbeterinnen. Franz gerät mitten hinein in einen Wissenschaftsstreit: Abel bezichtigt im Kampf um eine Professur den Kammerer des Betrugs und lässt das Vivarium ausspionieren. Eine entscheidende Rolle kommt dabei dem Erzähler, einem gescheiterten Journalisten, zu. Als Ungereimtheiten bei den Experimenten öffentlich werden, ist der Ruf der Anstalt ruiniert. Abel steht vor seinem Ziel, die Universität Wien „judenfrei“ zu halten. Paul Kammerer wird sich später das Leben nehmen, noch sehr viel später stirbt Prizbram im Konzentrationslager Theresienstadt. Und weil man bei den Büchern von Michael Aschoff-Lichtwarck immer nebenbei noch etwas dazu lernt, so erfährt man ganz unerwartet, dass auch einen wie Arthur Koestler später das Schicksal des Vivariums beschäftigte.

Auf kunstvolle Weise verknüpft hier Lichtwarck-Aschoff Fiktion und historische Realität, um weitaus mehr zu erzählen als die Geschichte eines für seine Zeit innovativen Instituts: Es ist die Epoche, als Darwins Forschung ideologisch missbraucht wird, die Epoche, als Sigmund Freud mit seinen Erkenntnissen den Blick auf den Menschen revolutioniert, als in der Forschung Welten aufeinanderstoßen. Die eines humanitären Weltbildes, das den Menschen zwar als Raubtier erkennt, aber ebenso wissen will, was es braucht, damit „der Mensch verbesserlich ist“. Und die eines Weltbildes, das die Schwachen zurücklassen will, das Gebrechliche aussondert, das auf die „Reinheit“ des Erbgutes setzt.

Der Weg zur nationalsozialistischen Euthanasie

Bei einem entscheidenden Rededuell zwischen den beiden Polen lässt Lichwarck-Aschoff den Eugeniker Abel folgendes sagen:

„Das hat Darwin uns gelehrt: Die Stärksten mit den besten Erbanlagen setzen sich durch. (…) Natürlich bin auch ich für Freundlichkeit und für den Schutz der Schwachen, wer wäre das denn nicht? Wir sind Menschen und keine Untiere. Wir stürzen die Alten und Schwachen nicht vom Felsen herunter. Aber wir dürfen vor lauter Gefühlsduselei nicht übersehen, dass die Natur auch bei uns Menschen mit dem großen Knüppel zulangt, sie ist blind, und nur weil sie blind ist, auch gerecht. Wir dürfen die Schwachen nicht vernichten, wie kämen wir dazu. Aber sollen wir sie ermuntern, sich auch noch fortzupflanzen? (…) So vermehrt sich das Schwache auf Kosten des Starken, bis wir einen immer größeren Teil unserer Reichtümer damit verschwenden, Schwachsinnige zu päppeln.“

Was da, als der Erste Weltkrieg aufdämmert, als Gedankengut ausgesprochen wird, wird wenige Jahre später zur grausamen Realität mit dem Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten. Auf der fiktiven Ebene übrigens stirbt unser schweigsamer, spröder Held Franz den „Heldentod“. Sein Freund, der Berichterstatter, sorgt für eine spätere Rehabilitation Franzens, entlastet ihn vom Betrugsvorwurf. Dennoch ist dies im Grunde ein melancholisches, fatalistisches Ende: Abel und seine Anhänger „mit den ausrasierten Nacken“ obsiegen und beweisen damit im Grunde, dass der Mensch wenig verbesserlich ist.

Die Grottenolme kommen aus der Höhle

Insofern gibt dieser Roman, obgleich er in zurückliegender Zeit spielt, auch einen Fingerzeig auf die Zustände unserer Welt heute. So viel scheint wieder hervorzukriechen wie der Grottenolm aus seiner Höhle. Und obwohl finstere Zeiten hinter uns liegen, scheint der Mensch daraus wenig gelernt zu haben. Man fragt sich, wie oft wir Rindviecher uns noch die Hörner abstoßen müssen, bis die Vision friedlicher, hornloser Kälber eintritt?

Schon bei seinem Erzählband „Als die Giraffe noch Liebhaber hatte“ begeisterte mich die Fähigkeit von Michael Lichtwarck-Aschoff, Naturwissenschaft als feinsinnige Geschichte(n) zu erzählen. Mit seinem Roman setzt er dies fort und zeigt einmal mehr auf kluge Art und Weise, wie sehr Forschung und Weiterentwicklung immer auch im Kontext ihrer Zeit und der herrschenden Weltanschauungen stehen. Für seinen Roman wählte er eine spröde, fast altmodisch klingende Sprache, die dem Rhythmus des langsamen Franz angepasst ist. Er erzählt bedächtig, fast zögerlich geht die Geschichte voran. Aber das passt zu diesem doppelbödigen Buch: Denn wie man sieht, ist auch die Entwicklung des Menschen zum hornlosen Rind ein langer Weg.


Bibliographische Angaben:

Michael Lichtwarck-Aschoff
„Der Sohn des Sauschneiders oder ob der Mensch verbesserlich ist“
Klöpfer.Narr Verlag, 2019
ISBN 978-3-7496-1005-1

Hans Weinhengst: Turmstraße 4

Hans Weinhengst wurde als Autor beinahe vergessen: Der Österreicher schrieb seine Texte in Esperanto. So auch seinen Roman über das Elend der Nachkriegsjahre.

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Bild von Tina T. auf Pixabay

„Wenn er auch seinen Eltern und Geschwistern in Liebe verbunden war: Aber seit der Kündigung des Vaters herrschten innerhalb der Familie niederschmetternde Schwermut und abstoßende Gereiztheit. Zu seinem bisherigen Elend und zu den Widrigkeiten seines hoffnungsleeren Arbeitslosendaseins kam nun eine neue Sorge: Er fürchtete um seine Geliebte. Ihn bedrückten nicht einfach nur Eifersucht, sondern die lähmende Angst, ihm würde das bei weitem Beste genommen, das er je gehabt hatte, das einzige Licht in seinem dunklen Alltag, von dem er hoffte, es könnte seine herzerwärmende Sonne in einer kalten, egoistischen Welt sein.“

Hans Weinhengst, „Turmstraße 4“, 1934


Wien, 1930: Die Liebe in Zeiten von Armut und Massenarbeitslosigkeit. Eine tieftraurige, aussichtslose Angelegenheit. Dem jungen Pärchen Martha und Karl ist kein Glück vergönnt, die Zweisamkeit währt nicht lange. Dies allein schon aus praktischen Gründen: Die beiden leben mit ihren Familien in beengten Verhältnissen, in einem der abgewirtschafteten Wohnblöcke der Wiener Arbeiterviertel Wiens, Turmstraße 4. Der Mietblock, er spielt eine zentrale Rolle in diesem Roman aus der Zwischenkriegszeit. Das Buch beginnt mit einer eindringlichen Schilderung dieser Behausung:

„Ein grauer, heruntergekommener Wohnklotz. Das ist das Haus Nummer 4 in der Turmstraße. Wenn ich „grau“ sage, beschreibe ich die Farbe der Mauern nicht ganz treffend. Sie sind in Wahrheit undefinierbar widerwärtig (…). Das Hausinnere zeigt auf den ersten Blick unverhohlen, dass die gesamte Konstruktion einzig dem Streben nach Ausbeutung folgt: Das Stiegenhaus und die Gänge sind schmal, der erdrückend enge Hof – „Lichthof“ genannt – ist der den Bauvorschriften geschuldete einzige freie Raum, die Wohnungen sind winzig, dafür aber zahlreich.“

Schriftsteller und Antifaschist

Und der sprachliche Stil dieses österreichischen Autoren Hans Weinhengst zeigt ebenfalls unverhohlen, dass hier einer einem besonderen Streben folgt: Weinhengst (1904 – 1945) war Schriftsteller, Übersetzer, Sozialdemokrat und Antifaschist. Und so bleibt bei seinem einzigen Roman, „Turmstraße 4“, der 1934 erstmals erschien, manches Mal der literarische Stil zugunsten einer Botschaft, die vermittelt werden soll, auf der Strecke, nimmt das Buch eher die Form einer engagierten Reportage denn eines belletristischen Werkes an:

„Wenn es abends zu schneien begann, bildeten sich lange Schlangen Arbeitswilliger vor den Aufnahmestellen für Schneearbeiter. Viele dieser hungernden und unzureichend bekleideten Personen mussten nach mehrstündigem Stehen in eisigem Wind aufgeben und fortgehen – oder weggetragen werden. Später, im Verlauf des Morgens, wenn man mit den Einstellungsmodalitäten begann, kam es oft zu wilden Handgreiflichkeiten wegen der wenigen Stunden schlecht bezahlter Arbeit. Wer je Zeuge einer solchen Szene wurde, und wer einmal gesehen hat, wie die mehreren Hundert, die nicht das Glück hatten, eine Schaufel in die Hand zu bekommen, mit hängenden Köpfen – manche in Tränen ausbrechend – davonschlichen, nennt diese Menschen nie wieder „arbeitsscheue Schmarotzer“.“

Doch über diese stilistischen Ausreißer kann man gut und gerne hinwegsehen – lohnens- und lesenswert ist dieser Roman allemal. So unmittelbar, so eindrücklich erzählt Hans Weinhengst von den Mühen der Arbeiterebene, gibt einen eindrücklichen Blick frei auf das Leben der Menschen, die das Elend des Ersten Weltkrieges und dessen Folgen auszubaden hatten. Vom Krieg traumatisierte Väter, ausgezehrte, überarbeitete Frauen, eine Jugend ohne Perspektiven – Arbeitslosigkeit, drohende Wohnungslosigkeit, Armut und der Zwang in die Kleinkriminalität, um überhaupt zu überleben, das sind die Möglichkeiten, die sich Martha, Karl und ihresgleichen eröffnen.

Roman wurde in Esperanto verfasst

Die anrührende Liebesgeschichte mit ihrem tragischen Ende ist der kleine Kunstgriff, den sich Weinhengst erlaubt, um so einer wohl erhofften breiten Leserschaft ein reales Abbild seiner Zeit zu geben. Einem breitem Publikumserfolg stand jedoch vor allem ein besonderer Umstand im Wege: Hans Weinhengst war einer der bedeutendsten Verfechter des Esperanto in Österreich. Als führendes Mitglieder der sozialistischen Esperanto-Bewegung schrieb und veröffentlichte er seine Texte – Lyrik, Erzählungen sowie seinen einzigen Roman –  ausschließlich in dieser Kunstsprache. So wurde das Buch in einem ungarischen Esperanto-Verlag 1934 verlegt, erst fast 80 Jahre später erschien es nun erstmals in deutscher Übersetzung durch Christian Cimpa.

Es lag nicht nur allein am aufkommenden Faschismus in Österreich, dass Hans Weinhengst als überzeugter Anhänger der Esperanto-Bewegung oftmals isoliert war. Kurt Lhotzky zeichnet im Nachwort zu der deutschsprachigen, beim Wiener Verlag „edition atelier“ erschienenen Ausgabe die wechselvolle Geschichte der österreichischen Esperanto-Bewegung nach. Leute wie Weinhengst waren davon überzeugt, die Kunstsprache könne zur internationalen Verständigung beitragen, dazu, dass sich Proletarier aller Länder auch sprachlich vereinigen können – meist aber stießen die sogenannten „Arbeiteresperantisten“ jedoch sowohl bei den sozialistischen Parteien als auch bei den Esperanto-Gesellschaften auf Widerstand und Ablehnung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Hans Weinhengst auch von der österreichischen Literaturgeschichte fast vergessen. Auch wenn der Roman stilistisch nicht in der ersten Liga spielt – ein Verdienst des Verlages ist es dennoch, ihn nun nach so langer Zeit zugänglich zu machen. „Turmstraße 4“ ist ein beinahe dokumentarisches Buch, das unmittelbar, ehrlich und authentisch von der Armut, ihren Folgebedingungen und der Unmöglichkeit, dem ganzen Kreislauf aus eigener Kraft zu entkommen, erzählt.


Bibliographische Angaben:

Hans Weinhengst
Turmstraße 4
Aus dem Esperanto von Christian Cimpa
Edition Atelier, 2018
ISBN: 978-3-903005-35-8

Eine eigene Erwähnung wert ist mir die wunderbare Titelgestaltung durch Jorghi Poll, die mir schon bei „Marylin“ von Arthur Rundt so sehr ins Auge fiel.

Friedrich Torberg: Die Tante Jolesch

„Die Tante Jolesch“ ein Buch der Wehmut, aber auch ein Buch, das zum Schmunzeln bringt: Anekdoten aus einer versunkenen Zeit.

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„Vom Kaffeehaus war schon so oft und ausgiebig die Rede, daß es sich fast erübrigt, ihm ein eigenes Kapitel zu widmen. Im Grunde ist ja dieses ganze Buch ein Buch vom Kaffeehaus. Kaum eine der auftretenden Personen wäre ohne das Kaffeehaus denkbar. Kaum eine der von ihnen handelnden Geschichten, auch wenn sie anderswo spielen, wäre ohne das Kaffeehaus entstanden. Kaum einer der hier verzeichnenden Aussprüche wäre getan worden, wenn es das Kaffeehaus nicht gegeben hätte. Für die auftretenden Personen war es der Nährboden, aus dem sie ihre geheimen Lebenssäfte sogen.“ 

Friedrich Torberg, „Die Tante Jolesch“


Wer sich ein wenig mit der spezifischen Form der Kaffeehausliteratur beschäftigt, der kommt an der Tante Jolesch nicht vorbei. Als Friedrich Torberg 1975 diese Anekdotensammlung veröffentlichte, bezeichnete der Schriftsteller und Journalist es als „ein Buch der Wehmut“ und sich selbst als einen der letzten, der aus eigener Kenntnis von einer verschwundenen Welt berichten konnte.

Anekdoten aus dem Wiener Kaffeehaus

Der Tante Jolesch gab er einen eindeutigen Untertitel: „Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten“. In der Tante Jolesch schrieb Torberg über die Menschen, die er gekannt und erlebt hatte – wie die Tante alle weiteren auch bestimmte Typen aus dem schwarzgelben Kulturkreis: Die tatkräftigen, oft bissigen Damen seines familiären Umfelds, die Kaffeehausliteraten, die Halbweltkünstler, die Schriftsteller und Journalisten und – nicht zu vergessen – die Kellner und Gastwirte, die eine ganz eigene Lebens- und Geistesart personifizierten.

Dies seien Käuze und Originale, so meinte Torberg (1908 – 1979), wie sie speziell diese Mischung aus k.u.k. Monarchie und jüdischem Bürgertum hervorbracht habe: Ausgestattet mit einem Witz, der mehr vom gesprochenen Wort denn vom geschriebenen Wort lebte, ein Witz, dem die Nationalsozialisten den Garaus machten. Nach dem „Anschluss“ ans Reich starb auch die österreichische Kaffeehausliteratur, ihre berühmtesten Vertreter wurden vertrieben, verjagt, ermordet.

Einblick in die Redaktion des Prager Tagblatts

Die Geschichten entführen den Leser an die Stammtische in Wien, Prag und Budapest, nehmen in mit zur Sommerfrische („Was die Natur betrifft, genügt mir der Schnittlauch auf der Suppe“), in die Redaktion des berühmten Prager Tagblatts, später aber führen sie auch in das Exil, wo sich die Versprengten unter anderem in der „Festung Europa“, einem Treffpunkt im Emigrantenviertel Hollywoods, sehen.

Kurz nach Erscheinen des Buches schrieb Dieter Hildebrandt darüber in der „Zeit“ unter dem Titel “Erinnerungsbrunnen auf Flaschen gefüllt”

“Torberg ist, wie Karl Kraus, „einer von den Epigonen, die in dem alten Haus der Sprache wohnen“, und was er mit der „Tante Jolesch“ und uns unternimmt, ist eine Wanderung durch dieses alte Haus der Sprache, eine ebenso einladende wie distanzierende Begehung, bei der Türen aufgemacht werden in Trauer und Respekt. Dies alte Haus ist aber bei Torberg kein linguistisches Abstraktum, keine ungewöhnliche Metapher; es liegt irgendwo in Kakanien, in einem Altösterreich, das immer weit über dessen Horizont ging, in einer Landschaft, in der, bei aller Sprachvielfalt, ein geniales gemeinsames Idiom sich ausgebildet hatte: die dialektische Weisheit der Juden, alttestamentarische Pointiertheit. Daß diese Sprache nicht nur das Privileg der Großen, der Vorzug der Schreiber – eines Kraus, eines Joseph Roth, eines Molnar –, sondern daß sie überall zu Haus war, auch bei Tante Jolesch und den ihren, an Kartentischen und in Wirtshäusern, in Redaktionszimmern und auf der Straße, will Torberg uns lehren. Daß dieses alte Haus nun leer steht, zeigt er uns mit einer Strenge, die eigentlich den Spaß nicht recht verstehen will, den der Anekdotenerzähler doch auch wieder gern herbeiführt.” 

Und so ist also  „Die Tante Jolesch“ ein Buch der Wehmut, aber auch ein Buch, das mich jedes Mal, wenn ich darin schmökere, zum Schmunzeln oder gar zum Lachen bringt. Für literarisch Interessierte ist es zudem eine herrliche Fundgrube – unter anderem setzt Friedrich Torberg all den namhaften Schriftstellern seiner Zeit ein anekdotenhaftes Denkmal: Egon Friedell, Karl Kraus, Peter Altenberg, Anton Kuh, Joseph Roth, Alfred Polgar, Egon Erwin Kisch, Karl Tschuppig und viele andere geben sich hier die Kaffeehausklinke förmlich in die Hand – so sehr, dass Hildebrandt schrieb:

„Nur manchmal hat der Leser das Gefühl, daß er, wie das Abendland, in Anekdoten untergeht.“

Doch der Geschichtenerzähler Torberg hatte und hätte noch mehr auf Lager gehabt – auf die Tante folgte ein weiterer Jolesch-Band sowie „Tante Jolesch und ihre Enkel“, das von ihm aber nicht mehr vollendet werden konnte. Und die Zeit der großen Kaffeehausliteraten: Sie ist vorbei. Grausam beendet. Friedrich Torberg zieht in seinem Vorwort diesen Schluss:

„Dies ist – ich sag`s zum Abschluß noch einmal – ein Buch der Wehmut. Vielleicht hätte ich ein Buch der Trauer schreiben sollen, aber die möchte ich doch lieber mit mir allein abmachen. Wehmut kann lächeln, Trauer kann es nicht. Und Lächeln ist das Erbteil meines Stammes.“


Informationen zum Buch:

Friedrich Torberg
Die Tante Jolesch
dtv Verlag
ISBN: 978-3-423-01266-9

Lina Loos: Das Buch ohne Titel

Sie war Autorin und Feuilletonistin, probierte sich auch in anderen Künsten aus, war aber vor allem eines: Die silberne Dame der Kaffeehausliteratur.

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Bild: Birgit Böllinger

„Ich bin Österreicherin durch und durch; im Zentrum der Stadt Wien geboren und in der Stephanskirche getauft. Das Leben hat mich später etwas an die Peripherie der Stadt abgedrängt, aber sonst geht es mir ganz gut. Ich hatte die Ehre, viele berühmte Wiener während meines schon etwas länger dauernden Lebens kennenzulernen, ja, es gab sogar eine Zeit, in der ich selbst etwas von solcher Berühmtheit besaß. Mein Bruder war Präsident des Bühnenvereines, meine Schwägerin Burgschauspielerin, und meine Eltern waren Besitzer eines der größten und bestgehenden Kaffeehäuser.

Ich war „mitberühmt“, einer der angenehmsten Zustände, die es gibt, aber damals war ich noch dumm – kurz, es stach mich der Hafer, und ich schrieb ein Theaterstück. Es wurde trotz meinen guten Beziehungen für Wien angenommen und wider jede bessere Erfahrung sogar gespielt.

Mein Sturz war jäh!

Die Bevölkerung brachte mir von nun an ein gewisses bürgerliches Misstrauen entgegen:
„Möcht` wissen, wozu dö dös nötig hat.“ Aber das Leben heilt alle Wunden, und nichts wird so rasch vergessen als ein Theaterstück, das nicht einmal aufsehenerregend durchgefallen ist.“ 

Lina Loos, „Das Buch ohne Titel“


Im Oktober 1882 erblickte sie das Licht der Welt, zunächst ausgestattet mit dem ganz und gar unglamourösen Namen „Karoline Obertimpfler“. Und doch avancierte sie in der Blütezeit der Wiener Kaffeehausliteratur zur „silbernen Dame“ – eine Bezeichnung, die der abgründig in sie verliebte Peter Altenberg ihr auf den Leib schrieb.

Beim Fräulein Obertimpfler, die sich später „Lina Loos“ nannte, kamen vorzügliche Eigenschaften zusammen: Ein wacher Geist, eine hohe Intelligenz, eine durchaus auch spitze Zunge, Humor und Herzenswärme und dies alles vereint in einer Frau von außerordentlicher Schönheit.

Begegnung mit Adolf Loos

Die Schauspielschülerin lernt, kaum in die Welt der Wiener Boheme eingeführt, am Peter-Altenberg-Stammtisch im „Löwenbräu“ den Architekten Adolf Loos kennen: Er sieht sie und macht ihr praktisch stante pede einen Heiratsantrag. Die 1902 geschlossene Ehe scheitert jedoch unter tragischen Umständen: Lina lässt sich auf ein Liebesverhältnis mit einem jüngeren Mann ein. Loos, weitaus weniger liberal, als er sich gibt, besteht auf einer Beendigung der Affäre – der junge Mann nimmt sich das Leben, der Skandal ist perfekt, 1905 wird die Ehe geschieden.

An Verehrern leidet Lina Loos auch in der Folge keinen Mangel: Peter Altenberg und Egon Friedell konkurrieren um sie, Männer wie Frauen sind fasziniert von ihrer Ausstrahlung. Zu ihrem weitgefächerten Bekanntenkreis zählt das „Who is who“ der österreichischen Literatur- und Kunstszene jener Epoche. In einem ebenfalls bei Edition Atelier ganz aktuell erschienenen Band mit Briefen („Du silberne Dame Du“, Edition Atelier, 2016) finden sich Briefe von und an Lina Loos mit ihrem geschiedenen Mann, mit Peter Altenberg, Egon Friedell, ihrem engen geistigen Freund Franz Theodor Csokor, mit Alfred Polgar, Joseph Roth, Karl Kraus, Vicki Baum, Else Lasker-Schüler und vielen anderen.

Femme fatale und Künstlerin

Wer war diese Frau? Eine attraktive „femme fatale“, schmückendes Beiwerk für schreibende Männer? Oder doch eine eigenständige Persönlichkeit, die sich sowohl als Schauspielerin, Kabarettsängerin und als Schriftstellerin verwirklichte?

Die beiden, von Adolf Opel herausgegebenen Bücher, geben Antwort: Lina Loos, so wird anhand der beiden Bücher deutlich, war eine mutige und außergewöhnliche Person, die sich, geprägt durch die Erfahrung zweier Weltkriege und die nationalsozialistische Diktatur, auch zunehmend dezidiert politisch engagierte und außerordentlich viel Zivilcourage besaß.

Ihre ganze Biographie kann bei fembio nachgelesen werden.

Das einzige Buch von ihr, das zu ihren Lebzeiten veröffentlicht wurde, ist „Das Buch ohne Titel“: Ab 1927 hatte sie im Feuilleton des „Neuen Wiener Wochenblattes“ kleine Geschichten, Skizzen, oft fast schon Aphoristisches aus ihrem Leben und ihrer Lebenswelt veröffentlicht – sie schreibt über ihre Familie, ihre berühmten Bekanntschaften, über das Theaterleben, ebenso aber auch über die „einfachen Leute“ in ihren Sieveringer Geschichten. Das sind meist liebevolle und unbeschwerte Petitessen, die bei ihrer Erstveröffentlichung 1947 den Zeitgeist wohl gut treffen – man sehnt sich nach den Jahren des „Anschlusses“ zurück nach der „Welt von gestern“.

Briefwechsel mit Egon Friedell

Weit eindrucksvoller kommt ihre gescheite Persönlichkeit in den Briefwechseln insbesondere mit Friedell und Csokor zum Ausdruck, auch wenn ihre eigenen Briefe nicht vollständig erhalten sind, man vieles aus den Antworten der schreibenden Herren „erlesen“ muss. Doch man erahnt, welch wachen Geist diese Frau hatte, die alles in Frage stellt, allem nachgeht, wissen und lernen will.

So schreibt sie am 5. August 1933 an Egon Friedell – privat und dringend!:

 „Lieber Egon, 

Glaubst Du, daß, wenn es gelänge, einen Gottesbeweis zu erbringen, die Menschen das Leben verantwortungsvoller leben würden?
ich denke an die Ungläubigen, die durch einen Verstandesbeweis überzeugt werden müßten.
Ist so ein Beweis denkbar? Was denkbar ist, wäre doch durchführbar! Hat Kant nur einen „gefühlsmäßigen“ Beweis erbracht?

Eben fällt mir ein: Leben die Gläubigen gar so verantwortungsvoll?

Das Dringend! entfällt somit!

Antworte mir, als hätte Dir ein Fremder geschrieben – dann hältst Du es für geboten, ausführlich und ernst zu antworten! 

Lina 

Nach 1945 schreibt die schwerkranke Lina Loos, die den Verlust zahlreicher Freunde durch den Krieg, Suizid und Exil zu beklagen hat, weiter Beiträge für Zeitschriften, sie engagiert sich im Österreichischen Friedensrat und beim Bund demokratischer Frauen. Sie stirbt, körperlich sehr entkräftet, 1950.

Die beiden beim Verlag „Edition Atelier“ herausgegebenen Bände über Lina Loos sind als Zeitzeugnisse beachtenswert, vor allem aber als Mosaiksteine zum Portrait einer leidenschaftlichen und klugen Frau. Die Bücher bezaubern auch durch ihre liebevolle Ausstattung. So sind zahlreiche Fotografien beigefügt, ein Lebenslauf mit den wichtigsten Daten und die Briefpartner von Lina Loos werden mit kurzen Portraits vorgestellt.


 Bibliographische Angaben:

Lina Loos
Das Buch ohne Titel
Edition Atelier, 2013
ISBN: 978-3-902498-70-0