Fritz Rosenfeld: Johanna

Fritz Rosenfeld gehört zu den Vergessenen der österreichischen Literatur. Sein Roman “Johanna” (1924) ist ein bewegendes, hartes Frauenportrait.

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Bild von liggraphy auf Pixabay

„Am nächsten Tag erfuhr sie, daß sie fort müßte.
Statt eines Essers gab es nun bald zwei, statt eines Arbeiters keinen. Das war eine unrentable Änderung. Ließ man das angehen, so züchtete man nur das Unkraut. Energisch mußte man vorgehen, ein für allemal Ordnung machen.“

Fritz Rosenfeld, „Johanna“

An diesem Frauenschicksal, das der österreichische Autor Fritz Rosenfeld 1924 in einem 39-teiligen Roman in der „Salzburger Wacht“ entfaltete, ist nichts Tröstliches, absolut nichts, das Hoffnung oder Optimismus erwecken würde. „Johanna“ steht stellvertretend für eine im Grunde noch archaische Gesellschaft an der Schwelle zur Industrialisierung: Wer nicht das Glück der wohlsituierten Geburt hat, der gilt als Einzelner nichts, umso weniger, wenn man eine Frau ist.

Das Stigma der Armut haftet an Johanna, Tochter eines Tagelöhners, von Geburt an: Das kleine Mädchen, früh zur Waise geworden, wird eines Tages sozusagen wie ein Paket in der Dorfgemeinde ihrer Eltern abgestellt – dort, wo sie geboren wurde, kann man einen zusätzlichen Esser nicht gebrauchen, dort, wo ihre Eltern herkamen, nimmt man die menschliche Bürde nur ungern an.

Dass über ihrem weiteren Werdegang nur Unheil haften wird, das lässt der damals noch sehr junge Autor (als Fritz Rosenfeld die literarische Welt betritt, war er gerade 22 Jahre alt) in beinahe expressionistischer Manier in seinem Eingangskapitel erahnen:

„Über den Himmel jagen Wolkenfetzen, grelle Blicke zucken durch die Nacht, der Regen peitscht die aufgeweichte Straße, der Sturm heult wilde Gesänge in den Tannenwipfeln, aus dem Walde dröhnt das Fallen gebrochener Bäume, hie und da kreischt ein Tierlaut auf, hallt als endlos gezogener Schrei durch das Dunkel.“

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Ein Start, als säße man in jener Zeit in einem der Wiener Kinos, gebannt auf das Geschehen der Leinwand blickend, bis endlich die Protagonistin ins Bild tritt. Fritz Rosenfeld hatte einen Blick für die Bilder, die die Welt bewegen, entwickelte er sich doch zu einem der profundesten Film- und Theaterkritiker im Wien jener Jahre.

Geprägt von seinem politischen Denken – er engagierte sich früh in der sozialdemokratischen Bildungsarbeit und schrieb vor allem für die Wiener Arbeiter-Zeitung, deren Feuilletonchef er kurzfristig bis zu seiner Emigration war – lehnte er das amerikanische Kino mit seinen Stoffen – „verlogene, heuchlerische Tugend- und Demutspredikt, mit weltfremdem, rosenrotem Optimismus übergossen“ – ab, interessierte sich für die russischen Filme, für Eisenstein, für Chaplin, all jene, die die Wirklichkeit der Massen auf die Leinwand brachten.

So kann man auch „Johanna“ beinahe als Vorlage für ein Drehbuch lesen, als Filmstoff für ein bedrückendes Sozialdrama. Denn die Abwärtsspirale, die ihr Leben nimmt, ist ihr im Grunde bereits in die Wiege gelegt, einen Ausweg gibt es für Menschen ihrer Herkunft in jenen Tagen nicht. Sie wird in der Dorfgemeinde nur solange geduldet, solange sich ihre Arbeitskraft und ihr Körper ausbeuten lassen. Als sie schwanger wird, wird sie in die Stadt abgeschoben, ohne Geld und ohne Unterstützung – der Weg in die Prostitution ist vorgezeichnet.

Wieviel Unglück sich im kurzen Leben dieser Frau ballt, die immer wieder an Menschen gerät, die ihre Unwissenheit ausnützen, ist kaum glaubhaft – doch muss man „Johanna“ eben auch als exemplarisches Frauenschicksal lesen, anhand dem der Autor verdichtet die Problematiken, denen das „Proletariat“ jener Tage ausgesetzt ist, aufzeigt. Das ist literarisch nicht immer ganz rund, manchmal etwas zu pathetisch und kolportagehaft. Und fragwürdig wird es dort, wo Rosenfeld etwas schwülstig über das eigene sexuelle Empfinden Johannas schreibt: Als sei sie tierhaft getrieben, beinahe so, als stünde ihr als Frau kein eigenes Begehren zu.

Trotz dieser Mängel ist „Johanna“ ein eindrucksvolles Portrait, ein beinahe niederschmetterndes Zeitbild, das eine andere Wahrheit und im Grunde – betrachtet man andere sozialkritische Bücher und Filme der 1920er-Jahre – die eigentliche Realität dieser Zeit wiedergibt.

Fritz Rosenfeld (1902 – 1987) entstammte einer jüdischen, österreichisch-ungarischen Familie. Wiewohl ungeheuer produktiv – unter seinem Pseudonym Fritz Feld verfasste er beispielsweise, bis ins hohe Alter hinein, unzählige Kinder- und Jugendbücher – zählt auch er heute zu den vielen Vergessenen, denen nach dem Nationalsozialismus, nach Flucht und Exil, die Anknüpfung an das literarische und journalistische Schaffen im deutschsprachigen Raum nicht mehr gelang.

Literaturwissenschaftler Primus-Heinz Kucher, Herausgeber der Neuausgabe von „Johanna“, schreibt in seinem Nachwort:

„Seine literaturwissenschaftliche Vernachlässigung gründet in der akademischen Tendenz zur Reproduktion kanonischer AutorInnen und Texte. Zudem wurde er Opfer der Ausgrenzungsmechanismen einer provinziell denkenden Wiederaufbau-Generation nach 1945.“

Ein sehr ausführliches Portrait von Kucher über Fritz Rosenfeld ist in einem umfassenden Internetarchiv der Universität Klagenfurt, das sich um „Transdisziplinäre Konstellationen in der österreichischen Literatur, Kunst und Kultur der Zwischenkriegszeit“ kümmert, nachzulesen: Fritz Rosenfeld in „Litkult 1920er“.

Und wie bei allen diesen wiederentdeckten Titeln aus dem österreichischen Verlag „edition atelier“ ist die Gestaltung einen eigenen Hinweis wert: Das Coverbild von Jorghi Poll, ganz in der Manier des Jugendstils, ist ein kleines Kunstwerk für sich.

Informationen zum Buch:

Fritz Rosenfeld
Johanna
Edition Atelier Wien
Gebunden, Halbleineneinband, Lesebändchen, 20,00 €
auch als E-Book erhältlich
ISBN: 978-3-99065-029-5


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Hans Weinhengst: Turmstraße 4

Hans Weinhengst wurde als Autor beinahe vergessen: Der Österreicher schrieb seine Texte in Esperanto. So auch seinen Roman über das Elend der Nachkriegsjahre.

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Bild von Tina T. auf Pixabay

„Wenn er auch seinen Eltern und Geschwistern in Liebe verbunden war: Aber seit der Kündigung des Vaters herrschten innerhalb der Familie niederschmetternde Schwermut und abstoßende Gereiztheit. Zu seinem bisherigen Elend und zu den Widrigkeiten seines hoffnungsleeren Arbeitslosendaseins kam nun eine neue Sorge: Er fürchtete um seine Geliebte. Ihn bedrückten nicht einfach nur Eifersucht, sondern die lähmende Angst, ihm würde das bei weitem Beste genommen, das er je gehabt hatte, das einzige Licht in seinem dunklen Alltag, von dem er hoffte, es könnte seine herzerwärmende Sonne in einer kalten, egoistischen Welt sein.“

Hans Weinhengst, „Turmstraße 4“, OA 1934, in deutscher Übersetzung bei edition atelier, Wien, 2017.

Wien, 1930: Die Liebe in Zeiten von Armut und Massenarbeitslosigkeit. Eine tieftraurige, aussichtslose Angelegenheit. Dem jungen Pärchen Martha und Karl ist kein Glück vergönnt, die Zweisamkeit währt nicht lange. Dies allein schon aus praktischen Gründen: Die beiden leben mit ihren Familien in beengten Verhältnissen, in einem der abgewirtschafteten Wohnblöcke der Wiener Arbeiterviertel Wiens, Turmstraße 4. Der Mietblock, er spielt eine zentrale Rolle in diesem Roman aus der Zwischenkriegszeit. Das Buch beginnt mit einer eindringlichen Schilderung dieser Behausung:

„Ein grauer, heruntergekommener Wohnklotz. Das ist das Haus Nummer 4 in der Turmstraße. Wenn ich „grau“ sage, beschreibe ich die Farbe der Mauern nicht ganz treffend. Sie sind in Wahrheit undefinierbar widerwärtig (…). Das Hausinnere zeigt auf den ersten Blick unverhohlen, dass die gesamte Konstruktion einzig dem Streben nach Ausbeutung folgt: Das Stiegenhaus und die Gänge sind schmal, der erdrückend enge Hof – „Lichthof“ genannt – ist der den Bauvorschriften geschuldete einzige freie Raum, die Wohnungen sind winzig, dafür aber zahlreich.“

Und der sprachliche Stil dieses österreichischen Autoren Hans Weinhengst zeigt ebenfalls unverhohlen, dass hier einer einem besonderen Streben folgt: Weinhengst (1904 – 1945) war Schriftsteller, Übersetzer, Sozialdemokrat und Anti-Faschist. Und so bleibt bei seinem einzigen Roman, „Turmstraße 4“, der 1934 erstmals erschien, manches Mal der literarische Stil zugunsten einer Botschaft, die vermittelt werden soll, auf der Strecke, nimmt das Buch eher die Form einer engagierten Reportage denn eines belletristischen Werkes an:

„Wenn es abends zu schneien begann, bildeten sich lange Schlangen Arbeitswilliger vor den Aufnahmestellen für Schneearbeiter. Viele dieser hungernden und unzureichend bekleideten Personen mussten nach mehrstündigem Stehen in eisigem Wind aufgeben und fortgehen – oder weggetragen werden. Später, im Verlauf des Morgens, wenn man mit den Einstellungsmodalitäten begann, kam es oft zu wilden Handgreiflichkeiten wegen der wenigen Stunden schlecht bezahlter Arbeit. Wer je Zeuge einer solchen Szene wurde, und wer einmal gesehen hat, wie die mehreren Hundert, die nicht das Glück hatten, eine Schaufel in die Hand zu bekommen, mit hängenden Köpfen – manche in Tränen ausbrechend – davonschlichen, nennt diese Menschen nie wieder „arbeitsscheue Schmarotzer“.“

Doch über diese stilistischen Ausreißer kann man gut und gerne hinwegsehen – lohnens- und lesenswert ist dieser Roman allemal. So unmittelbar, so eindrücklich erzählt Hans Weinhengst von den Mühen der Arbeiterebene, gibt einen eindrücklichen Blick frei auf das Leben der Menschen, die das Elend des Ersten Weltkrieges und dessen Folgen auszubaden hatten. Vom Krieg traumatisierte Väter, ausgezehrte, überarbeitete Frauen, eine Jugend ohne Perspektiven – Arbeitslosigkeit, drohende Wohnungslosigkeit, Armut und der Zwang in die Kleinkriminalität, um überhaupt zu überleben, das sind die Möglichkeiten, die sich Martha, Karl und ihresgleichen eröffnen.

Die anrührende Liebesgeschichte mit ihrem tragischen Ende ist der kleine Kunstgriff, den sich Weinhengst erlaubt, um so einer wohl erhofften breiten Leserschaft ein reales Abbild seiner Zeit zu geben. Einem breitem Publikumserfolg stand jedoch vor allem ein besonderer Umstand im Wege: Hans Weinhengst war einer der bedeutendsten Verfechter des Esperanto in Österreich. Als führendes Mitglieder der sozialistischen Esperanto-Bewegung schrieb und veröffentlichte er seine Texte – Lyrik, Erzählungen sowie seinen einzigen Roman –  ausschließlich in dieser Kunstsprache. So wurde das Buch in einem ungarischen Esperanto-Verlag 1934 verlegt, erst fast 80 Jahre später erschien es nun erstmals in deutscher Übersetzung durch Christian Cimpa.

Es lag nicht nur allein am aufkommenden Faschismus in Österreich, dass Hans Weinhengst als überzeugter Anhänger der Esperanto-Bewegung oftmals isoliert war. Kurt Lhotzky zeichnet im Nachwort zu der deutschsprachigen, beim Wiener Verlag „edition atelier“ erschienenen Ausgabe die wechselvolle Geschichte der österreichischen Esperanto-Bewegung nach. Leute wie Weinhengst waren davon überzeugt, die Kunstsprache könne zur internationalen Verständigung beitragen, dazu, dass sich Proletarier aller Länder auch sprachlich vereinigen können – meist aber stießen die sogenannten „Arbeiteresperantisten“ jedoch sowohl bei den sozialistischen Parteien als auch bei den Esperanto-Gesellschaften auf Widerstand und Ablehnung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Hans Weinhengst auch von der österreichischen Literaturgeschichte fast vergessen. Auch wenn der Roman stilistisch nicht in der ersten Liga spielt – ein Verdienst des Verlages ist es dennoch, ihn nun nach so langer Zeit zugänglich zu machen. „Turmstraße 4“ ist ein beinahe dokumentarisches Buch, das unmittelbar, ehrlich und authentisch von der Armut, ihren Folgebedingungen und der Unmöglichkeit, dem ganzen Kreislauf aus eigener Kraft zu entkommen, erzählt.

Und eine eigene Erwähnung wert ist mir die wunderbare Titelgestaltung durch Jorghi Poll, die mir schon bei „Marylin“ von Arthur Rundt so sehr ins Auge fiel.

Verlagsinformationen zum Buch:
http://www.editionatelier.at/turmstrasse-4.html

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