Fritz Rosenfeld: Johanna

Fritz Rosenfeld gehört zu den Vergessenen der österreichischen Literatur. Sein Roman “Johanna” (1924) ist ein bewegendes, hartes Frauenportrait.

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„Am nächsten Tag erfuhr sie, daß sie fort müßte.
Statt eines Essers gab es nun bald zwei, statt eines Arbeiters keinen. Das war eine unrentable Änderung. Ließ man das angehen, so züchtete man nur das Unkraut. Energisch mußte man vorgehen, ein für allemal Ordnung machen.“

Fritz Rosenfeld, „Johanna“


An diesem Frauenschicksal, das der österreichische Autor Fritz Rosenfeld 1924 in einem 39-teiligen Roman in der „Salzburger Wacht“ entfaltete, ist nichts Tröstliches, absolut nichts, das Hoffnung oder Optimismus erwecken würde. „Johanna“ steht stellvertretend für eine im Grunde noch archaische Gesellschaft an der Schwelle zur Industrialisierung: Wer nicht das Glück der wohlsituierten Geburt hat, der gilt als Einzelner nichts, umso weniger, wenn man eine Frau ist.

Das Stigma der Armut haftet an Johanna, Tochter eines Tagelöhners, von Geburt an: Das kleine Mädchen, früh zur Waise geworden, wird eines Tages sozusagen wie ein Paket in der Dorfgemeinde ihrer Eltern abgestellt – dort, wo sie geboren wurde, kann man einen zusätzlichen Esser nicht gebrauchen, dort, wo ihre Eltern herkamen, nimmt man die menschliche Bürde nur ungern an.

Dass über ihrem weiteren Werdegang nur Unheil haften wird, das lässt der damals noch sehr junge Autor (als Fritz Rosenfeld die literarische Welt betritt, war er gerade 22 Jahre alt) in beinahe expressionistischer Manier in seinem Eingangskapitel erahnen:

„Über den Himmel jagen Wolkenfetzen, grelle Blicke zucken durch die Nacht, der Regen peitscht die aufgeweichte Straße, der Sturm heult wilde Gesänge in den Tannenwipfeln, aus dem Walde dröhnt das Fallen gebrochener Bäume, hie und da kreischt ein Tierlaut auf, hallt als endlos gezogener Schrei durch das Dunkel.“

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Ein Start, als säße man in jener Zeit in einem der Wiener Kinos, gebannt auf das Geschehen der Leinwand blickend, bis endlich die Protagonistin ins Bild tritt. Fritz Rosenfeld hatte einen Blick für die Bilder, die die Welt bewegen, entwickelte er sich doch zu einem der profundesten Film- und Theaterkritiker im Wien jener Jahre.

Geprägt von seinem politischen Denken – er engagierte sich früh in der sozialdemokratischen Bildungsarbeit und schrieb vor allem für die Wiener Arbeiter-Zeitung, deren Feuilletonchef er kurzfristig bis zu seiner Emigration war – lehnte er das amerikanische Kino mit seinen Stoffen – „verlogene, heuchlerische Tugend- und Demutspredikt, mit weltfremdem, rosenrotem Optimismus übergossen“ – ab, interessierte sich für die russischen Filme, für Eisenstein, für Chaplin, all jene, die die Wirklichkeit der Massen auf die Leinwand brachten.

Stoff für ein bedrückendes Filmdrama

So kann man auch „Johanna“ beinahe als Vorlage für ein Drehbuch lesen, als Filmstoff für ein bedrückendes Sozialdrama. Denn die Abwärtsspirale, die ihr Leben nimmt, ist ihr im Grunde bereits in die Wiege gelegt, einen Ausweg gibt es für Menschen ihrer Herkunft in jenen Tagen nicht. Sie wird in der Dorfgemeinde nur solange geduldet, solange sich ihre Arbeitskraft und ihr Körper ausbeuten lassen. Als sie schwanger wird, wird sie in die Stadt abgeschoben, ohne Geld und ohne Unterstützung – der Weg in die Prostitution ist vorgezeichnet.

Wieviel Unglück sich im kurzen Leben dieser Frau ballt, die immer wieder an Menschen gerät, die ihre Unwissenheit ausnützen, ist kaum glaubhaft – doch muss man „Johanna“ eben auch als exemplarisches Frauenschicksal lesen, anhand dem der Autor verdichtet die Problematiken, denen das „Proletariat“ jener Tage ausgesetzt ist, aufzeigt. Das ist literarisch nicht immer ganz rund, manchmal etwas zu pathetisch und kolportagehaft. Und fragwürdig wird es dort, wo Rosenfeld etwas schwülstig über das eigene sexuelle Empfinden Johannas schreibt: Als sei sie tierhaft getrieben, beinahe so, als stünde ihr als Frau kein eigenes Begehren zu.

Eindrucksvolles Frauenportrait

Trotz dieser Mängel ist „Johanna“ ein eindrucksvolles Portrait, ein beinahe niederschmetterndes Zeitbild, das eine andere Wahrheit und im Grunde – betrachtet man andere sozialkritische Bücher und Filme der 1920er-Jahre – die eigentliche Realität dieser Zeit wiedergibt.

Fritz Rosenfeld (1902 – 1987) entstammte einer jüdischen, österreichisch-ungarischen Familie. Wiewohl ungeheuer produktiv – unter seinem Pseudonym Fritz Feld verfasste er beispielsweise, bis ins hohe Alter hinein, unzählige Kinder- und Jugendbücher – zählt auch er heute zu den vielen Vergessenen, denen nach dem Nationalsozialismus, nach Flucht und Exil, die Anknüpfung an das literarische und journalistische Schaffen im deutschsprachigen Raum nicht mehr gelang.

Literaturwissenschaftler Primus-Heinz Kucher, Herausgeber der Neuausgabe von „Johanna“, schreibt in seinem Nachwort:

„Seine literaturwissenschaftliche Vernachlässigung gründet in der akademischen Tendenz zur Reproduktion kanonischer AutorInnen und Texte. Zudem wurde er Opfer der Ausgrenzungsmechanismen einer provinziell denkenden Wiederaufbau-Generation nach 1945.“

Ein sehr ausführliches Portrait von Kucher über Fritz Rosenfeld ist in einem umfassenden Internetarchiv der Universität Klagenfurt, das sich um „Transdisziplinäre Konstellationen in der österreichischen Literatur, Kunst und Kultur der Zwischenkriegszeit“ kümmert, nachzulesen: Fritz Rosenfeld in „Litkult 1920er“.

Und wie bei allen diesen wiederentdeckten Titeln aus dem österreichischen Verlag „edition atelier“ ist die Gestaltung einen eigenen Hinweis wert: Das Coverbild von Jorghi Poll, ganz in der Manier des Jugendstils, ist ein kleines Kunstwerk für sich.


Informationen zum Buch:

Fritz Rosenfeld
Johanna
Edition Atelier Wien, 2020
Gebunden, Halbleineneinband, Lesebändchen, 20,00 €
auch als E-Book erhältlich
ISBN: 978-3-99065-029-5

Friederike Manner: Die dunklen Jahre

Bereits 1948 erschien dieser Exilroman: Ein berührender, authentischer Bericht vom täglichen Überlebenskampf einer Familie auf der Flucht.

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„Ich erinnere mich, daß ich vor Monaten einmal einen Flüchtling aus der Slowakei sah, der sich zu Fuß über Ungarn bis Belgrad durchgeschlagen hatte. Der Beamte der Kultusgemeinde hatte ihn schroff abgewiesen und gesagt: „Wir können nichts für sie tun. Die Slowakei ist kein Emigrationsland.“ Der Mann ging ohne ein weiteres Wort … Ich sprang den Beamten an: „Es kommt vielleicht der Tag, an dem sie bettelnd vor einer Tür stehen, und man wird Ihnen antworten: Jugoslawien ist kein Emigrationsland –„ und lief dem Manne nach, um ihm wenigstens ein paar Dinar zu geben; aber er war wie vom Erdboden verschluckt, ich fand ihn nicht mehr. Ausverkauf und Weiße Woche in Menschenschicksalen …“

Friederike Manner, „Die dunklen Jahre“


Am Tag, als der Reichstag brannte, weiß die gebildete Wienerin Klara, dass auf sie und ihre Familie finstere Zeiten zukommen werden. Und die Ereignisse überschlagen sich: Bald ist Österreich angeschlossen, bald beginnen auch hier die ersten Pogrome gegen Juden. Sie wäre davon nicht betroffen, aber ihr Mann Ernst, ein anerkannter, jüdischer Arzt und ihre beiden kleinen Kinder, als „Mischlinge“ eingestuft, bekommen den Hass schnell zu spüren. Obwohl das Paar in Trennung lebt, bietet die Ehe noch einen hauchdünnen Schutz für Mann und Kinder.

Schnell entscheiden sie sich, zu flüchten: Zunächst geht Klara mit den Kindern zu Verwandten in die Schweiz, dann folgt sie ihrem Mann nach Belgrad – aber auch die „weiße Stadt“ wird, nachdem die Bevölkerung gegen die Unterzeichnung des „Dreimächtepaktes“ revoltiert hatte, von den Nationalsozialisten unterworfen und besetzt. Als „Arierin“ bleibt Klara zwar relativ unbehelligt, aber Ernst wird inhaftiert und stirbt in einem jugoslawischen Lager. Klara kehrt mit den Kindern 1945 in das zerstörte, hungernde Wien zurück – in eine Heimat, die keine mehr ist, als Exilantin mit ihren ganz eigenen Erfahrungen wieder eine Fremde unter denen, die während der Kriegsjahre zuhause geblieben sind.

Ein autofiktionales Buch

Bereits 1948 veröffentlichte die Lektorin Friederike Manner (1904 – 1956) unter dem Pseudonym Martha Florian ihren Roman „Die dunklen Jahre“. Gewissermaßen ein autobiographisches Buch – wie Klara ist die Autorin mit einem jüdischen Arzt verheiratet, hat zwei Kinder und flüchtet mit der Familie nach Jugoslawien – in Romanform, zugleich eine Mischung aus Tatsachenbericht und Dokumentation. Vor allem aber ist das Buch ein sehr authentisches, anrührendes Zeugnis für das, was Flucht und Exil in Zeiten des Krieges für die betroffenen Menschen bedeutet.

Wieder kommt ein Winter auf uns zu – der wievielte ist es nun, seit wir von daheim fort sind? Ich habe zu zählen aufgehört. Ich weiß längst, daß das Daheim keine Heimat mehr ist, auch wenn wir eines Tages zurückkehren. Irgendwie ist es zu spät – die Wurzeln, die uns hier halten, sind karg und dünn, die Wurzeln der Heimat sind abgestorben. Ich verstehe jetzt, wie den Weltfahrern zumute ist, die überall frösteln  und fehl am Platze sind. Was innerlich längst mein Schicksal war, ist nun auch nach außen hin besiegelt. „Ich bin ein Fremdling überall …“

Der Roman erzählt vom täglichen Überlebenskampf in einem fremden Land: Zwar schlüpft Klara alias Friederike in einer von Jugoslawen geleiteten Behörde der Besatzungsmacht unter, doch es mangelt an allem, Essen, Kleidung, Wohnraum. Und auch ihre „geistige Nahrung“, die ihr zuweilen Trost und Halt gibt, stellt sie manches Mal in Frage:

Ich frage mich, wozu diese ganze Kultur eigentlich gut war, da sie doch nicht vermochte, den Menschen zu ändern. All diese Jahrhunderte deutscher Blüte in Architektur, Bild, Ton und Wort ersaufen nun in Blut.

Alles stellt Klara, die Scharfsichtige und zuweilen auch Scharfzüngige, auf den Prüfstand: Ihre eigenes Leben, ihr eigenes Tun – beziehungsweise Nicht-Handeln, die Wehrlosigkeit, mit der sich ganze Völker der Brutalität der Nationalsozialisten ergeben. Immer wieder hadert sie mit ihrem eigenen Status quo. Was ist wichtiger: Die eigene Familie zu retten oder Widerstand? Mit ihren Fragen, ihren Selbstzweifeln, ihren Anklagen bleibt sie isoliert, bleibt sie fremd. Und vor allem ihre Überzeugung, dass die Menschheit, die Menschen auch aus dieser Katastrophe nichts lernen wird, dass es nach der Katastrophe keine Veränderung geben wird, vor allem dies bringt sie zur Verzweiflung.

Ohne die Kinder wäre der Lebenswillen früher erlöscht

Wären die Kinder nicht, so lohnte es sich nicht mehr zu leben, der Suizid eine Option: Mehrfach wird dies in dem Buch, das bereits in den Kriegsjahren entstand, angedeutet. Umso tragischer die Realität: 1956 nimmt sich Friederike Manner, auch aus Enttäuschung von der mangelnden „inneren Auseinandersetzung mit der Diktatur“ das Leben.

Im Nachwort zur Wiederauflage des Romans – der ersten, sieben Jahrzehnte nach Ersterscheinung des Buches – weist Evelyne Polt-Heinzl darauf hin:

„Friederike Manner sei an der „geistigen Verlogenheit, der sie sich nicht beugen konnte, noch wollte, zugrunde gegangen“, schrieb Oskar Wiesflecker nach ihrem Freitod am 6. Februar 1956.“

Das Wissen um dieses traurige Lebensende stellt diesen autobiographischen, dokumentarischen Roman (der im Übrigen auch einen interessanten Einblick auf die politischen Umstände im ehemaligen Jugoslawien und den Konflikten zwischen Serben und Kroaten bietet) in ein besonderes Licht: Soviel Wille zum Überleben, soviel Überlebenskampf und Durchhaltevermögen, immer mit der Angst vor Verfolgung und Verhaftung, solange übersteht Friederike Manner Krieg und Exil – um am Ende an den Verhältnissen im „Frieden“ zu verzweifeln.

Der österreichische Schriftsteller Erich Hackl wird vom Verlag mit diesen Worten zitiert:

„Friederike Manners Roman „Die dunklen Jahre“ ist vieles in einem: Roman der Selbstfindung und Selbstbehauptung einer Frau, Roman von Verfolgung, Flucht und Widerstand, Exilroman, Politthriller, Tagebuch einer Mutter, Chronik der laufenden Ereignisse.
Ein Roman auch über das Versäumnis – und die Folgen dieses Versäumnisses -, nicht rechtzeitig für, sondern nur gegen etwas gekämpft zu haben. Also einer über uns und unsere Gegenwart. Einer der besten Romane überhaupt.“


Informationen zum Buch:

Friederike Manner
Die dunklen Jahre
Edition Atelier Wien
28,00 Euro
ISBN: 978-3-99065-008-0
Auch als E-Book erhältlich

Else Feldmann: Flüchtiges Glück

Else Feldmann widmete ihr Schreiben einem Ziel: Auf das Elend der Armen in der Zwischenkriegszeit aufmerksam zu machen. 1942 wurde sie in Sobibor ermordet.

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Bild von Federlos auf Pixabay

„Hedwig schließt die Augen. Sie fühlt die Nähe des Geliebten wie einen Rausch. »Flüchtiges Glück!«, denkt sie. Wenn man jetzt einschlafen könnte und nicht mehr erwachen. Hier ist es warm und licht, hier war Vergessenheit. Vergessen war die Mariahilferstraße – Fräulein, kann ich diese Socken auch in Grau haben? Was kosten sie? Achtstundentag – ja – die Arbeiter werden es einmal besser haben. Es kommt eine glücklichere Zeit. Menschendämmerung!, hatte jemand in einer Versammlung ausgerufen.“

Else Feldmann, “Flüchtiges Glück”

Hedwig, die Schwerkranke aus der 1919 von Else Feldmann veröffentlichten Erzählung „Im Warenhaus“ wird diese glücklichere Zeit nicht mehr erleben. Ihr, der Todgeweihten, ist nur ein flüchtiges Glück gegönnt – so wie das Glück für die meisten Protagonisten in den Geschichten und den Reportagen dieser österreich-jüdischen Schriftstellerin eine Schimäre ist. Selbst der Wohlstand der Reichen trägt wenig zu deren Glück bei, führt zu Verbitterung, Neid, Hass und Einsamkeit. Das Glück, das der Kapitalismus dem Einzelnen durch Streben nach Gewinn und Macht verspricht, ist auf dem Unglück vieler gebaut: So könnte man die Texte, die die Sozialreporterin zwischen 1918 und 1938 in österreichischen Tageszeitungen und Publikationen, vor allem sozialdemokratischer und linker Provenienz, veröffentlichte, zusammenfassen.

Das letzte Buch von Herausgeber Adolf Opel

„Flüchtiges Glück“ ist das letzte Buch des im Juli 2018 verstorbenen Schriftstellers und Herausgebers Adolf Opel. Für den unabhängigen Wiener Verlag „edition atelier“ machte Opel unermüdlich auf Schriftstellerinnen aufmerksam, die in der Nachkriegszeit vergessen worden waren, darunter beispielsweise auch Lina Loos. Folgerichtig ist dieser Band, in dem erstmals die Reportagen und Texte Else Feldmanns für Zeitschriften in Buchform zu finden sind, ihm gewidmet.

Es sind Texte, die in ihrer fast kunstlosen, kargen Schlichtheit einen unverstellten Blick auf das Elend der Zwischenkriegszeit werfen. Feldmann berichtet aus Polizeistationen, von Streiks, führt Interviews mit Gefängnisdirektoren, bewegt sich in den Armen- und Arbeitervierteln:

„Es gibt viele tausend Häuser mit Kellerwohnungen in allen Bezirken Wiens. Wenn man diese Häuser besucht, fällt vor allem eines auf: Die Ausnutzung des Raumes ist bis ins Fanatische gesteigert. Es gibt Häuser, in denen mehr als hundert Kinder leben. Ich habe vor zwei Tagen in der Brigittenau ein Haus gesehen, es ist das Doppelhaus Rauscherstraße 8/10, in dem nie Stiegen gekehrt werden, ein Hof, in dem vier Fensterfronten von vier Stockwerken gehen, es ist ein einziger Kehrichthaufen; alle Parteien des Hauses entladen in diesen Hof – wahrscheinlich durch die Fenster – den Mist. Eine Straßenreinigung gibt es in diesen Gegenden überhaupt nicht, es wurde mir gesagt, der »Mistbauer« komme oft wochenlang nicht. Wie der Gesundheitszustand dieser Menschen aussieht, bei denen die zehn Plagen der alten Ägypter zu Hause sind, läßt sich denken.“

Else Feldmann wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf

Else Feldmann kannte diese Zustände, die sie in ihren Reportagen beschrieb, aus eigenem Erleben. 1884, als zweites von insgesamt sieben Kinder geboren, ist sie, so Opel, zweifellos ebenfalls in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Die biographischen Spuren zum Leben der Autorin sind jedoch so dünn wie das literarische Vermächtnis schmal ist, so der Herausgeber in seinem Vorwort:

„Drei Buchveröffentlichungen und ein ausgeführtes Theaterstück zu Lebzeiten, ein Fortsetzungsroman (…), einige ebenfalls in Zeitungen in mehreren Folgen publizierte längere Erzählungen und viele Kurzgeschichten und Tageszeitungen und Zeitschriften: Das bis heute aufgefundene schriftstellerische Lebenswerk von Else Feldmann besticht nicht so sehr durch seinen Umfang als durch die unbeirrte Konsequenz, mit der die Autorin die Thematik verfolgt, die sie zu der ihren gemacht hat – den Erniedrigten, Unterdrückten, Ausgegrenzten und im Leben Zu-kurz-Gekommenen eine Stimme zu leihen.“

Und diese Stimme klingt, wie beim „Blick aus dem Hotelzimmer“ mal versonnen und melancholisch, sie klingt beim Erzählen „Von Dienenden“ mal aufgewühlt und wütend, sie klingt manches Mal sanft, traurig, manchmal appellierend und in die Zukunft schauend. Aber niemals klingt sie: gleichgültig. Ob in ihren Sozialreportagen, ob in ihren Portraits des Sozialreformers Popper-Lynkeus, des Dichters Peter Altenbergs oder von Käthe Kollwitz, aber auch in den belletristischen Texten: Else Feldmann will auf eine bessere Welt, bessere Zustände schreibend hinarbeiten. Das mag literarisch nicht immer allzu bestechend sein – aber allein diese persönliche Aufrichtigkeit, diese Genauigkeit des Blicks und der Beobachtung, der schreibende Einsatz für andere Zustände, dies alles macht diesen Band so äußerst lesenswert. Man beginnt unter dem Eindruck dieser Lektüre auch auf die eigene Welt einen schärferen Blick zu werfen.

Else Feldmann erlebte von dieser Zukunft, an der sie schreibend mitarbeiten wollte, nichts: Ab 1934 hatte sie kaum mehr Publikationsmöglichkeiten. 1938 wurde ihr Werk von den Nationalsozialisten verboten. 1942 wurde sie im Vernichtungslager Sobibor ermordet.

Informationen zum Buch:

Else Feldmann
Flüchtiges Glück
Reportagen aus der Zwischenkriegszeit
Edition Atelier, 2018
ISBN: 978-3-903005-44-0

Biographie von Else Feldmann bei der Theodor Kramer Gesellschaft:
http://theodorkramer.at/archiv/exenberger/mitglieder/else-feldmann

Vicki Baum: Makkaroni in der Dämmerung

Sie bezeichnete sich selbst als “erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte”. Dabei ist die leichte Muse hohe Kunst – und das beherrschte Vicki Baum perfekt.

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Bild von Polly Guimaraes auf Pixabay

„Ihr Männer – sagen die Frauen – lebt überhaupt noch in einem anderen Jahrhundert wie wir. Ihr seid altmodisch, verlogen und nicht ganz auf der Höhe der Zeit. Ihr wollt Fransen und Draperien der Achtzigerjahre um die Liebe. Ihr wollt blauen Dunst machen und blauen Dunst vorgemacht bekommen. Ihr liebt gar nicht uns Frauen von Fleisch und Blut, ihr liebt nur euren Traum von uns. Gut, wir haben Geduld. Wir wollen gerne noch fünfzig Jahre warten, bis ihr kapiert hat, daß wir auch ohne Schwindel miteinander auskommen können.“

Vicki Baum, „Makkaroni in der Dämmerung“
Zitat aus „Variationen der Liebe“, ursprünglich erschienen 1928 in „Die Dame“

Zugegeben: Manches wirkt inzwischen etwas aus der Zeit gefallen an diesen Feuilletons. Dies eben nicht nur, wenn Vicki Baum von aktuellen Kulturereignissen erzählt oder von den angesagten Modetrends der Zwischenkriegszeit, sondern insbesondere dann, wenn die gutbürgerliche Bildung aus ihr herausbricht, sie von der Disziplin kleiner Ballettelevinnen schwärmt oder über das Kleid einer Schauspielerin und dessen Schicksal sinniert. Da schmiegt sich einmal zu oft ein Stoff „zärtlich“ an die Trägerin, da weht eine Brise zu viel Parfüm durch die Zeilen.

Aber dennoch: Der Stempel der bloßen Unterhaltungsschriftstellerin, der hängt der 1888 in Wien geborenen Hedwig Baum zu Unrecht an. Denn aus ihren Texten spricht ebenfalls die Stimme einer unabhängigen, willensstarken Frau, die ihre Umgebung mit milde-kritischen Augen betrachtet. Und die, wenn sie in ihren Augen obsolet und hinderlich sind, bereit ist, über Konventionen hinwegzugehen. Das macht insbesondere manche ihrer Feuilletonbeiträge alters- und zeitlos – wer beispielsweise ihren journalistischen Selbstversuch liest, bei dem sie sich einer Hormonbehandlung als Jungbrunnen-Wunderkur unterzieht, der wird den ironischen Unterton genießen. Und an den Botox-Wahn unserer Tage denken.

Schriftstellerin mit enorm hohen Auflagen

Dass sie mehr war als eine unterhaltsame Schriftstellerin, die hohe Auflagen erzielte – allein das macht Autoren ja bis heute noch in gestrengen Kritikerkreisen „verdächtig“ – wird besonders an einer Textart deutlich, mit der man ihren Namen heute nicht mehr unmittelbar verbindet. Bekannt sind nach wie vor einige der rund 30 Romane – allen voran natürlich „Menschen im Hotel” -, die sie neben zahlreichen Drehbüchern und Theaterstücken in Europa und den USA verfasste und die immer wieder aufgelegt werden. Wie bei allen „Vielschreibern“ ist da manches stärker, manches schwächer in der Form. Wie sehr sie jedoch die Klaviatur des Schreibens beherrschte, zeigen die Essays und Artikel, die Vicki Baum für Zeitschriften und Magazine verfasste. Sie war eine sehr gute Handwerkerin, die bei aller Produktivität Form und Sprache nicht vernachlässigte, an ihnen feilte, bis ihren Artikeln dieser spezifische Hauch von Leichtigkeit anhing – und man weiß ja: Schwer ist oft das Leichte.

Nach dem Roman, der ihr den Durchbruch brachte, „Stud. chem. Helene Willfüer“, 1928 beim Ullstein Verlag erschienen, wurde Vicki Baum von Ullstein als Vertreterin der neuen Frau aufgebaut. Unter anderem wurde sie Leiterin der literarischen Beilage der Frauenzeitschrift „Die Dame“ und wurde damit zum Zugpferd für eine neue Generation von Leserinnen. Und vor allem hier, in der „Dame“, aber auch in anderen Publikationen der Weimarer Republik konnte Vicki Baum sich der „kleinen Form“ widmen, jener essayistisch-literarischen Form, die hohe Könnerschaft und Beherrschung des Handwerks voraussetzt: Denn die Kürze zwingt zur Konzentration, jeder Satz, jeder Punkt muss sitzen, für langatmige Abschweifungen ist kein Raum.

Veronika Hofeneder stellte die Feuilletons zusammen

Dass man diese Leichtigkeit nun an einem Stück genießen kann, ist der Literaturwissenschaftlerin Veronika Hofeneder zu verdanken, die die Feuilletons aus den drei großen Stationen von Vicki Baum – Wien, Berlin und Hollywood – als Herausgeberin für den Band „Makkaroni in der Dämmerung“ zusammenstellte und mit einem klugen Vorwort versah. Sie ordnet die Rolle der Autorin, die für viele Zeitgenossinnen imagebildend wurde – Ehefrau und Mutter mit eigener beruflicher Karriere und Selbständigkeit – in den gesellschaftlichen Kontext ein:

„Baums Artikel über Mode, Kosmetik und Schönheit sind mehr als bloße Lifestyle-Kolumnen, sie nutzt diese geschickt, um den zeitgenössischen Diskurs über ein neues Geschlechterrollenverständnis kritisch zu beleuchten. So anerkennt sie zwar die vielfältigen Errungenschaften und Freiheiten, die durch die neue Frauenrolle etabliert werden konnten, sieht aber auch gleichzeitig die erneute Vereinnahmung dieses Potenzials durch männliche Denkweisen, die die Neue Frau wieder als Konstrukt einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung missbrauchen.“

Oder, wie Vicki Baum sagen würde: Die Männer behängen auch die Neue Frau mit ihren Fransen und Draperien.

Protest gegen die Mode

Fransen und Draperien: Alltäglichster Ausdruck für geschlechtsspezifische Rollenfestlegungen ist die jeweils aktuelle Mode, die gar das Zeug zum „Diktat“ hat. In ihrem lebhaften „Protest gegen die Mode“, 1929 in der „Vossischen Zeitung“ veröffentlicht, entfaltet Vicki Baum ihr ganzes essayistisches Temperament. Und zeichnet dabei ein plastisches Bild vom Leben einer berufstätigen Frau der Weimarer Republik:

„Büro, Geschäft, Laboratorium, Amt, Sprechstunde oder was sonst es ist, wo die Majorität der Frauen ihre Zeit zubringt, wenn sie nicht Hausfrau ist und in Marktgängen, Küche, Kinderzimmer und Flickwinkel ganz bestimmt kein kostspielig konstruiertes Zipfelkleid verwenden kann. Man hat nicht nur am Vormittag zu tun, sondern auch am Nachmittag und oft auch noch abends. Man rennt Autobussen nach, fährt Untergrundbahn, trifft sich für eine halbe Stunde im Kaffeehaus, wenn es hochkommt, man jagt vom Büro in Vorträge, mal auch ins Theater – wie soll man das machen, mit dem langen Schlurz untenrum, den die Mode für den Abend diktiert?“ (…)

Man kann auf die Frau von 1930 nicht die Mode von 1900 propfen; ebenso gut könnte man hingehen und auf unsere Autos gußeiserne Ornamente löten oder Gipsfassaden auf die neuen, glatten Häuserfronten kleben. Ich mache da nicht mit – wer noch?“

In diesem kurzen Textauszug sind auch weitere Themen zu finden, die die Literatur der Weimarer Republik prägten, das Pulsieren der Großstadt, der Rhythmus der Zeit – und diesen hielt Vicki Baum in vielen ihrer Feuilletonbeiträge fest, die inhaltlich weit breiter aufgestellt sind, als zu ahnen ist.

Keine Angst vor Kitsch

Dennoch hing ihr zeitlebens und hängt ihr bis heute der Ruf an, „eine erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte“ (ihre Selbstcharakterisierung) zu sein. Wie sehr sie das wohl beschäftigte, ist auch ihrem 1931 im „Uhu“ erschienenen Beitrag „Angst vor Kitsch“ abzulesen: Ein beinahe trotziges Bekenntnis der Autorin, ein Plädoyer, Mut zum Gefühl zu zeigen (auch in der Literatur). Herrlich zu lesen für jeden, der ebenfalls ab und an von Sentimentalitäten geplagt ist – leicht, ironisch und herzerwärmend:

„Was den Geschmack betrifft, da kann man sich immer blamieren, so oder so. Aber was das Gefühl angeht: Wohl dem, der hat, und das ist meistens richtig.
Und dann, ihr Lieben: Macht euch nicht so wichtig. Kompliziert euch das Dasein nicht unnütz. Habt nur Courage. Spürt nur. Lebt nur.
Auf alles andere kommt es so gar nicht an.“

Vicki Baum hatte sie wohl, diese Courage – und brauchte sie auch. Denn in ihrem eigenen Leben kostete das Jonglieren – einerseits disziplinierte Familienfrau, andererseits die erfolgreiche, reiselustige und berufstätige Autorin – einen hohen Preis. Die Fassade der perfekten Frau erhielt sie lange Jahre ihres Lebens trotz ihrer Alkohol- und Tablettenabhängigkeit aufrecht – oder vermochte dies vielleicht nur mit diesen Hilfsmitteln aufrecht zu erhalten. Sie wollte um jeden Preis funktionieren: Auch darin, über die individuelle Lebensgeschichte hinaus, ist sie eine typische Vertreterin vieler Frauen ihrer Generation. Depressionen, Zusammenbrüche und eine 1950 diagnostizierte Leukämie prägen ihre letzten Lebensjahre. Und dennoch charakterisieren sie die Geschwister Erika und Klaus Mann als eine Frau, deren hervorstechende Eigenschaft Furchtlosigkeit war.

Und deshalb ein Appell an furchtlose Leser(innen): Lest Vicki Baum, lest sie genau und ohne Vorbehalte im Kopf – ein Gewinn kann dann die Erkenntnis sein, wie zeitlos gut auch leichte Unterhaltung sein kann.

Informationen zum Buch:

Vicki Baum
Makkaroni in der Dämmerung
Herausgegeben von Veronika Hofeneder
edition atelier, Wien, 2019
ISBN: 978-3-99065-025-7

Arthur Rundt: Marylin

Der Österreicher Arthur Rundt griff in seinem neusachlichen Roman “Marylin” (1928) das Thema des Rassismus auf. Die Geschichte einer unmöglichen Liebe.

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„Marylin hatte in Chicago eine Fünfundzwanzig-Dollar-Stellung.
Sie fuhr jeden Morgen mit dem gleichen Hochbahnzug in ihr Office, vom Nordwesten der Stadt bis zur Station an der Ecke der Wabash und Madison Street.
Aber was half es Philip, daß er täglich diese selbe Linie benutzte, daß er täglich sechs Stationen vor Madison Street gerade diesen bestimmten Zug erwartete und ihn zugleich mit Marylin verließ?“

Arthur Rundt, „Marylin“, 1928


Ich muss gestehen, ich habe mich in dieses Buch schon auf den ersten Blick verliebt: Manchmal ist es eben doch richtig, ein Buch nach seinem Cover zu beurteilen! Mit der Titelgestaltung durch Jorghi Poll traf der sehr, sehr feine Wiener Verlag „edition atelier“ voll meinen Geschmack. Neben der Gegenwartsliteratur widmet sich der Verlag vor allem auch Wiederentdeckungen der österreichischen Literatur – so  erschienen in seinem Programm die Texte der wunderbaren Lina Loos und der lange verschollene Roman von Bohuslav Kokoschka. Und auch „Marylin“ von Arthur Rundt ist eine Perle – der Inhalt dieses schön gestalteten Buches hält also, was das Cover verspricht.

Was zunächst jedoch wirkt wie eine zarte Liebesgeschichte, die ein wenig mit den Turbulenzen des Jazz Age gespickt ist, nimmt eine unerwartete Wendung – und wird gerade dadurch einerseits tragisch, andererseits aber auch hochaktuell und hochpolitisch.

Geschichte einer obsessiven Liebe

Die Liebesgeschichte von Philip und Marylin beginnt ein weniger holprig. Der junge Architekt begegnet der selbständig erscheinenden Büroangestellten auf dem Arbeitsweg und weiß sofort: Das ist sie. Doch Marylin, die offenbar ganz für sich, ohne Familie und Freunde lebt, entzieht sich den behutsamen Annäherungsversuchen immer wieder, flüchtet sogar in neue Stellungen und Städte. Philip reist ihr durch halb Amerika hinterher – fast möchte man schon meinen, da habe einer in den 1920er Jahren einen ersten „Stalking“-Roman veröffentlicht. Doch Arthur Rundt lässt das Paar in New York endlich zusammenkommen:

„Die beiden redeten nicht. Jetzt standen sie auf, hielten einander wie Kinder bei der Hand und gingen den gekrümmten Parkweg stadtwärts, ziellos immer weiter, am kleinen See vorbei, sahen, auf einer Anhöhe angelangt, am Ende des Parks ein Stück von der gezackten Wolkenkratzerlinie gegen den blauen Himmel, blieben eine Weile stehen und liefen dann, Hand in Hand, die Anhöhe hinunter.“

Tatsächlich ist von diesem Moment an der Weg der beiden, vor allem ihre Fallhöhe, vorgezeichnet: Denn so harmonisch die Ehe scheint, Marylin birgt ein Geheimnis, hält etwas zurück, auch Philip verspürt ab und an „das Fremde“ in ihr. Lange verwehrt sie sich Philips Kinderwunsch. Als dann doch eine Tochter geboren wird, ist die Tragödie da. Das Kind ist schwarz. Philip vermutet einen Seitensprung Marylins, zumal das Paar Bekanntschaft mit einem schwarzen Boxer und einem Musiker geschlossen hatte. Es kommt zu einem Scheidungsverfahren, das mehr einer Aburteilung der jungen Frau gleicht, in dem der ganze Rassismus auch der amerikanischen Gerichtsbarkeit offenbar wird.

Die unheilvollen Folgen des Rassismus

Marylin flüchtet noch einmal: Zurück in die Karibik, zu ihren Verwandten. Dass sie selbst gemischtrassig ist, das wagt sie bis zuletzt ihrem Mann nicht einzugestehen. Als Philip vom familiären Hintergrund seiner Frau erfährt, wächst der bis dahin eher brav-bürgerliche junge Mann über sich hinaus – er reist ihr hinterher, wohlwissend, dass eine Ehe mit ihr in den USA Isolation und sozialen Abstieg mit sich bringen würde. Während der Schiffreise begegnet er dem Musiker, den er zunächst verdächtigte, der Vater des Kindes zu sein, wieder. Dieser gibt ihm zu bedenken:

„Wahrscheinlich begreifen Sie noch nicht, Mr. Garrett, was Sie da tun. Sie gehen einen schweren Weg. Früher haben Sie die Wahrheit nicht gewußt, nun wissen Sie alles. Das wird Ihnen schwer angerechnet werden. Leute, die bis jetzt mit Ihnen verkehrt haben, werden Ihren Gruß nicht erwidern; Sie werden Türen verschlossen finden, die Ihnen bisher offen standen. Sie haben dadurch, was Sie jetzt tun – es klingt wie eine Übertreibung, aber es ist so: Sie haben jetzt plötzlich hundert Millionen Menschen zu Feinden. Sie haben Ihr ganzes weißes Amerika gegen sich. Sie gehen einen schweren Weg, Mr. Garrett.“

Doch Philips Entschluss, gegen alle Rassenschranken zu Marylin und dem Kind zu halten, steht fest. Jedoch: Er kommt zu spät…

Rundt: Ein Amerika-Kenner seiner Zeit

So schmal dieser gerade 158 Seiten umfassende Roman auch ist – er hinterlässt nach der Lektüre einen großen, wirkmächtigen Eindruck. Arthur Rundt, der zu seiner Zeit als Feuilletonist, Autor und Theatermann eine österreichische Größe war (so gehörte er zur „Mokka-Runde“ im Café Central), galt als einer der Amerika-Kenner seiner Zeit. Er hatte die Vereinigten Staaten in den 1920er-Jahren als Korrespondent bereist und intensiv kennengelernt, sein 1926 erschienenes Buch „Amerika ist anders“ bietet immer noch einen erfrischenden, klaren Blick auf die USA und das europäische Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Diese Kenntnisse bilden auch den geeigneten Hintergrund zu seinem Ausflug in die Belletristik: „Marylin“ ist auch ein Großstadtroman, der ähnlich wie „Manhattan Transfer“ oder „Berlin Alexanderplatz“ den Sound der Metropolen aufgreift, er ist ein Wirtschaftsroman, der einen Blick auf die industriellen Abläufe und Arbeitsmechanismen der großen Konzerne wirft, er ist zudem ein Roman, der das „Jazz Age“ und die Anfänge der Entwicklung schwarzen Selbstbewusstseins (Stichwort Harlem-Renaissance) abbildet. Vor allem aber ist er eine sachliche – und darum umso eindrucksvollere – Abrechnung mit dem Rassismus in den USA.

Der Roman, der 1928 als Fortsetzungsroman in der Neuen Freien Presse erschien, wird der Neuen Sachlichkeit zugeordnet: Tatsächlich gelingt es Rundt auch, diese unglückliche Liebesgeschichte ohne falsche sentimentale Zwischentöne darzustellen, von der Unmöglichkeit der Liebe zwischen den Rassen zu schreiben, ohne Kitsch und Gefühlsduselei. Zudem wird das Geschehen immer wieder unaufdringlich, beispielsweise in der Gerichtsszene oder im Dialog mit einem Arzt, der für die Gleichberechtigung kämpft, auf eine gesellschaftspolitische Ebene gezogen.

Rassismus in den Vereinigten Staaten

Ein sehr empfehlenswerter Roman, der auch einen Blick auf die heutige amerikanische Gesellschaft öffnet – eher zufällig habe ich dieser Tage auch „Americanah“ von Chimamanda Ngozi Adichie gelesen, der das Thema Rassismus in den USA aus heutiger Sicht widerspiegelt: So viel, wie man es sich manchmal wünscht, hat sich durchaus noch nicht verändert und unter Trump ist zu befürchten, dass sich vieles wieder rückwärts entwickelt.

Zurück zu Arthur Rundt: Der 1881 in Schlesien geborene Autor erreichte mit seinen Amerika-Büchern einen letzten Höhepunkt seiner Bekanntheit. Auch für ihn wurden, wie für viele andere Autoren, Schauspieler, Künstler, ab 1933 die Veröffentlichungsmöglichkeiten und damit auch die materielle Absicherung immer schwieriger. Rundt gelang quasi in letzter Minute die Emigration in die USA – dort aber verstarb er kurz nach seiner Ankunft in New York.

Herausgeber Primus-Heinz Kucher würdigt in seinem Nachwort den Roman „Marylin“:

„Nicht nur thematisch nimmt dieser Roman eine singuläre Stellung ein: Die Überblendung von Race und Gender, europäischen Projektionen und amerikanischen Realitäten, urbaner Modernität und provinzieller Fesseln hat zwar schon Hugo Bettauer in seinem Roman Das blaue Mal (1922) zum Gegenstand eines kulturzivilisatorischen, Widersprüche und Utopien thematisierenden Südstaaten-Narrativs gemacht, doch blieb seine Sicht auf die Vorkriegsrealität begrenzt. Darüber hinausgehend verknüpft Rundt seine Gestaltung des Diskurs- und Themenfeldes von ›Race‹, ›Gender‹ und ›Kultur‹ mit hochaktuellen Debatten über den zeitgenössischen techno-habituellen Wandel. Und er unterlegt sie mit einer sprachlichen Signatur, die in neusachlicher Diktion diesen Wandel kongenial begleitet, ja wesentlich mitträgt, – eine Signatur, die im Ansatz jener von Mela Hartwig und Hermann Kesten verwandt erscheint, aber in ihrem Metropolen-Soundtrack wie in ihrer desillusionierenden Perspektive fast einzigartig aus der zeitgenössischen deutschsprachigen Romanproduktion herausragt.“


Bibliographische Angaben:

Arthur Rundt
Marylin
Edition Atelier, 2017
ISBN: 978-3-903005-28-0