Sling: Der Mensch, der schiesst

Paul Schlesinger, kurz Sling, war der berühmteste Gerichtsreporter der Weimarer Republik. Ein Vorbild für Journalisten bis heute.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Der Mensch, der schiesst, ist ebenso unschuldig wie der Kessel, der explodiert, die Eisenbahnschiene, die sich verbiegt, der Blitz, der einschlägt, die Lawine, die verschüttet. Alles tötet den Menschen, auch der Mensch tötet den Menschen. (…)
Die Menschheit sucht sich gegen die Gewalt und die Willkür der Natur durch allerhand Erfindungen zu schützen, zum Beispiel den Blitzableiter oder den Rettungsring. Um sich gegen den Menschen zu schützen, erfand der Mensch das Strafgesetz. (…).
Den Kaffeekessel, der explodiert, schickt man zum Klempner, den Menschen ins Gefängnis. Eine Weile hat man sich vorgestellt, der Mensch könne die Gelegenheit benutzen, sich im Gefängnis zu bessern. Man hat aber die Erfahrung gemacht, daß von dieser Gelegenheit höchst selten Gebrauch gemacht wird, daß der Mensch vielmehr in den meisten Fällen völlig verdorben zur Menschheit zurückkehrt.“

Sling, “Der Mensch, der schiesst”, Lilienfeld Verlag, 2014.

In diesem Artikel vom 25. August 1926 wird deutlich, was das journalistische Credo von Paul Schlesinger, kurz Sling, war, wie er den Menschen sah, vor allem aber auch, wie er das Justizsystem seiner Zeit beurteilte. Schlesinger, geboren 1878 in Berlin, hatte bereits genügend Lebenserfahrung gesammelt, als er mit Gerichtsreportagen begann: Er war zuvor unter anderem Kaufmannslehrling, Kabarettist, Musikkritiker und Kriegsberichterstatter gewesen. Also mit allen Wasser gewaschen und die Feuertaufe überstanden: Günstige Voraussetzungen für einen, der sich auch nicht von der Justiz der Weimarer Republik einschüchtern ließ. Und der sich ebenfalls nicht blenden ließ von großen Auftritten und kleinen Gangstern im Gerichtssaal.

Denn zwar war auch in der WR die Pressefreiheit auf dem Papier ein hohes Gut: „Art. 118 Weimarer Reichsverfassung: „Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. (…) Eine Zensur findet nicht statt…“ Doch war die Gerichtsbarkeit dieser Zeit eben durchaus auch durchsetzt von konservativen, kaisertreuen Beamten. Wer in der Weimarer Republik schrieb, der hatte die Obrigkeitshörigkeit deutschen Beamtentums, Pressezensur und legislative Willfährigkeit im Rücken und die heraufkommende Gewaltherrschaft der politischen Extreme im Angesicht. Egon Erwin Kisch, Carl von Ossietzky, um nur die beiden bekanntesten Namen zu nennen, sie zahlten, als die Republik von der Gewaltherrschaft ausgehebelt wurde, für ihren investigativen Journalismus letztendlich mit ihrer Gesundheit, Verlust der Heimat, Verlust von Leib und Leben.

Erzählungen von Schuld und Sühne

Sling also macht neben den reinen Gerichtsberichten, den Erzählungen von Schuld und Sühne, den Gerichtssaal in vielen seinen Artikeln auch zu einem Podium der politischen Diskussion: Wenn er Richter portraitiert, wenn er ein System analysiert, das vor allem auf Zucht und Ordnung setzt, wenn er die Pressefreiheit verteidigt, dann tritt er nicht nur für die freie Presse ein, sondern auch für ein demokratisches System, das freilich – noch erschüttert von den Folgen des 1. Weltkrieges und bereits überschattet von der kommenden Diktatur – auf tönernen Füßen steht. Seine Zeilen zur Rolle der Presse haben bis heute ihre Gültigkeit:

„Zweifellos: Wie überall, so gibt es auch in der Gerichtsberichterstattung Mißbräuche und Auswüchse. Man darf aber hoffen, daß die ihrer Verantwortung bewußte Presse immer die maß- und richtunggebende sein wird. Erst gestern klagte im Gerichtssaal der frühere Herausgeber eines Skandalblattes: „Meine Zeitung ist eingegangen, weil das Publikum so was nicht mehr will.“ Ein Bravo dem Publikum!
Kritik braucht auch die Presse. Zwangs- und Gewaltmaßnahmen lehnt sie ab. Ihre Erziehung hat sie in eigene Regie übernommen.“

Wer mutigen, kritischen Journalismus lesen will, der greife zu den Reportagen Slings. Die „Berichte aus dem Gerichtssaal“ hat Axel von Ernst nun für den Lilienfeld Verlag neu herausgegeben. Interessanter Lesestoff nicht nur für jene, die am Genre selbst ihren Gefallen haben. Vielmehr liefert Sling eindrucksvolle, sprachlich stilistisch herausragende Miniaturen, Portraits seiner Zeit – lebendig werden die Vertreter des Proletariats in der Weimarer Republik mit ihren Nöten, die oft genug in die Kriminalität führen, als auch Biedermänner auf Abwegen, Regierungsräte vor dem Kadi, schnippige Filmdiven wie Olga Tschechowa, kleine Ladenmädchen und schmierige Zuhälter mit wenigen, treffenden Worten gezeichnet. Eine Epoche in ihrer ganzen Zerrissenheit wird dabei lebendig, oft genug erzählen die Reportagen von Armut, Hunger, Arbeitslosigkeit, von den Folgen des 1. Weltkrieges und der Wirtschaftskrise. Sling sieht nicht nur den Verbrecher – er sucht und forscht nach den Motiven. Da schreibt nicht nur der rasende Reporter, da schreibt vor allem auch ein Humanist.

Vor allem ist es die Sprache Slings, die gefangen nimmt und die heute so im Journalismus leider kaum mehr zu finden ist. Einige Kostproben:

„Auf den Korridoren des Kriminalgerichts strömt nicht gerade Lebenslust. Armselig, grau, zerknittert von der Sorge des Tages stehen und sitzen die Wartenden herum. Kleider, Wäsche, Gesichter sprechen von der bittersten Entbehrung. Aber diese Menschen hungern nicht bloß. Sie sind auch noch beleidigt. Indessen könnte man vielleicht auch sagen: Das Beleidigtsein ist ihr letzter Luxus.“

„Der junge Mann, der sich vor den Geschworenen wegen vorsätzlicher Brandstiftung verteidigen muß, hat ein merkwürdig charaktervolles Gesicht. Sein glattes Haar, etwas üppig nach Art dilettierender Kunstaspiranten, umschließt eine sehr weiße Stirn, von den dichten, schwarzen Brauen geht eine sehr gerade Nase zu dem festgeschlossenen, schmallippigen Mund. Blickt man ihm gerade ins Gesicht, so sieht man sehr tiefliegende, große, helle Augen, die im Verein mit dem stark zurückweichenden Oberkiefer diesem 21jährigen Menschen etwas sonderbar Eulenhaftes geben. Hinter der Anklageschranke wirkt er wie ein Käuzchen, das mit der denkbar größten seelischen Reserve seine Gefangenheit trägt.“

Wer war dieser Sling?

Auf der Seite des Lilienfeld Verlags (hier ein Link zur Verlagsseite mit Leseprobe) findet sich folgendes zum Autor:

Paul Felix Schlesinger, geboren 1878 in Berlin, wurde erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt berühmt. Nach einer Kaufmannslehre studierte er, gehörte dann in München der Künstlerboheme an und trat bei den „Elf Scharfrichtern“, dem ersten politischen Kabarett Deutschlands, auf. Musikkritiken von ihm erschienen in der „Schaubühne“ (ab 1918 „Die Weltbühne“), literarische Texte u. a. im „Simplicissimus“. Er wurde Korrespondent für den Ullstein Verlag und arbeitete 1911/12 in Paris, im Krieg ab 1915 in der Schweiz. 1920 berief ihn Ullstein in die Redaktion der „Vossischen Zeitung“, wo er sich unter dem Kürzel „Sling“ neu erfand und dann vor allem als Gerichtsreporter berühmt, beliebt und zu einem der einflußreichsten Publizisten der Zeit wurde. Daneben erschienen Romane und Kinderbücher und die erfolgreiche Komödie „Der dreimal tote Peter“ (uraufgeführt 1927 mit Therese Giehse und Heinz Rühmann). Sein früher Tod durch Herzversagen 1928 führte zu einer Welle der Anteilnahme.

Sling, so Herausgeber Axel von Ernst, war also einer der prominentesten Journalisten der zwanziger Jahre, dessen beliebtesten Texte aus dem Feuilleton schon zu Lebzeiten auch in Buchform herauskamen: „Das Sling-Buch“, Berlin, 1924. Seine Gerichtsberichte erschienen verstreut in mehreren Sammlungen, zuletzt 1989 in Ost-Berlin. Der Lilienfeld Verlag fasst sie nun in „Der Mensch, der schiesst“ komplett zusammen – von den kleinen Fällen bis hin zu den großen Mordprozessen und einem eigenen Kapitel über den Prozess um Arthur Schnitzlers „Reigen“.
Abgerundet wird das Buch durch das Nachwort eines „Nachfahren“ Slings: Hans Holzhaider, Gerichtsberichterstatter der Süddeutschen Zeitung, würdigt den Journalisten Paul Felix Schlesinger, der diese Genre in Deutschland prägte:

„Da war ein neuer Ton im Umgang der Presse mit der Justiz. Der Journalist Sling trat den Juristen als Ebenbürtiger entgegen, als einer, der sich durchaus in der Lage sieht, das, was im Gerichtssaal geschieht, kompetent zu beschreiben und eben auch zu kommentieren. Die Herren in ihren schwarzen Roben und mit dem Barett auf dem Kopf – Frauen waren damals in diesem Berufsstand so gut wie nicht vertreten – mochten ihre Examina haben, ihr Strafgesetzbuch und ihre Strafprozeßordnung, aber für das, worum es eigentlich im Strafprozeß geht, die großen und kleinen Dramen, Tragödien und manchmal auch Tragikomödien im menschlichen Zusammenleben – dafür fühlte sich Paul Schlesinger mindestens so sachverständig wie die Richter und die Staatsanwälte im Kriminalgericht in Moabit. (…).
Er wußte: Das, was im Gerichtssaal zu beobachten ist, ist das Leben schlechthin, pralles, dramatisches, dürftiges, armseliges Leben.
Das ist es, was Sling heraushebt, was ihn zu einem modernen Autor macht. Er erkennt, dass die sogenannte Objektivität, die man dem Journalisten immer abverlangt, eine Fiktion ist.“

Das pralle, dramatische, dürftige, armselige Leben – es ist zu erlesen in den Reportagen Slings:
„Der Mensch, der schiesst“, Sling, Lilienfeld Verlag, 400 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Fadenheftung, Leseband, ISBN 978-3-940357-27-4.


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Robert Seethaler: Der Trafikant

Ein leiser, melancholischer Roman aus dem von den Nazis besetzten Wien. “Der Trafikant” – das Meisterstück von Robert Seethaler.

Der Trafikant von Robert Seethaler: Seine nächtlichen Träume deutet Sigmund Freud.
Bild von Simon Matzinger auf Pixabay

„Franz` sexuelle Erlösung bedeutete nicht gleichzeitig eine Besserung seines Gesamtzustandes. Das Feuer, das jetzt zwischen seinen Schenkeln entzündet war, brannte lichterloh und würde nie mehr zu löschen sein, so viel war ihm klar. Dabei – und auch das war ihm auf schmerzhafte Weise bewusst geworden – gab es noch so viel zu lernen. Zu kurz war diese eine Nacht gewesen, selbst ein komplettes Leben schien nicht auszureichen, um das Mysterium Frau in seiner ganzen schrecklichen Schönheit begreifen zu können. An den Klippen zum Weiblichen zerschellen selbst die Besten von uns, hatte der Professor gesagt. Das wird schon so sein, dachte Franz, aber dann ist es halt so.“

Robert Seethaler, „Der Trafikant”,  Kein & Aber Verlag, 2012

Auch wenn hiermit schon das melancholische Ende verraten wird – ja, der Franz, er zerschellt, jedoch nicht nur an den Klippen des Weiblichen. Vielmehr wird er im Strom der Zeit weggerissen, zermalmt – aber nicht ohne vorher noch ein paar ganz bemerkenswerte Schritte zu tun, Entwicklungsschritte für sich, seine Männlichkeit, aber auch für die Menschheit im Allgemeinen und die Wiener im Besonderen.

Der Franz – er ist mein heimlicher, kleiner literarischer Held der letzten Lesemonate. Anfangs möchte man den Buben aus der österreichischen Provinz am liebsten adoptieren und bemuttern – wenn er denn nicht schon eine ganz patente Mutter hätte. Der Tod des mütterlichen Liebhabers zwingt den 17jährigen von der heimischen Schürze und dem Salzkammergut hinaus in die große Stadt. Wien kurz vor dem Anschluss – die Gemütlichkeit geht langsam flöten, man meint den preußischen Stechschritt der lederbestiefelten Nazis schon auf den Straßen zu hören.

Da steht der Franz anno 1937 in Wien – ein bisschen tapsig, ein bisschen neben der Spur, aber gut aufgehoben bei einem anarchistisch angehauchten, einbeinigen Trafikanten. Die Trafik: Neben dem Kaffeehaus geistige Heimat belesener und rauchender Wiener. Der Trafikant: Ratgeber in politischen Fragen, Philosoph und kleiner Geschäftsmann.

„Das Problem, meinte Otto Trsnjek mit einem traurigen Blick auf das bis unter die Decke dicht mit Zigarrenkisten vollgeräumte Wandregal, das große Problem für das Zigarrengeschäft sei – so wie für vieles andere übrigens auch – die Politik. Die Politik verhunze nämlich grundsätzlich alles und jedes, und da sei  es ziemlich egal, wer da gerade mit seinem breitgesessenen Hintern die Regierung bilde, ob der Kaiser selig, der Zwerg Dollfuß, sein Lehrling Schuschnigg oder drüben der größenwahnsinnige Hitler: Von der Politik werde alles und jedes verhunzt, verpatzt, versaut, verdummt und überhaupt zugrunde gerichtet.“

Sigmund Freud wird zum väterlichen Ratgeber

Ähnlich wenig Optimistisches äußert Trafikant Trsnjek auch zu Liebesabenteuern – aber dafür findet Franz schließlich einen zweiten großväterlichen Freund und Ratgeber in der Nachbarschaft, der weitaus kompetenter in diesen Fragen scheint: Den jüdischen „Deppendoktor“ Sigmund.

„Also gut“, sagte Freud. „Ich schlage vor, dass wir jetzt erst einmal die Begrifflichkeiten klären. Ich vermute, wenn wir von deiner Liebe sprechen, meinen wir in Wahrheit deine Libido.“

„Meine was?“

„Deine Libido. Das ist die Kraft, die Menschen ab einem gewissen Alter antreibt. Sie schafft ebenso viel Freude wie Leid und hat, etwas vereinfacht gesprochen, bei Männern ihren Sitz in der Hose.“

„Auch bei Ihnen?“

„Meine Libido ist längst überwunden“, seufzte der Professor.

Dumm nur, dass Franzens Libido ihn zu einem beehmischen Meedel der berechnenderen Sorte treibt – die mag den Jungen zwar, aber muss eben auch schauen, wo sie in diesen unsicheren Zeiten bleibt. Und als Tänzerin in einem Varieté ist die richtige Auswahl aus überlebenstaktischen Gründen leicht zu treffen. Franz ist es jedenfalls nicht. Geplagt also von Liebeskummer und Libido erlebt der zunächst politisch unbeleckte Landbub mit, wie rund um ihn alles zusammenbricht: Menschen, auch der einbeinige kriegsversehrte Otto, verschwinden und sterben in den Kellern der Gestapo, Juden und politisch Andersdenkende werden verfolgt und ermordet und der hochbetagte Freud muss sich in das Exil retten.

„Herr Professor, ich glaube, ich bin ein riesengroßer Depp“, sagte Franz nach ein paar Augenblicken angestrengt nachdenklichen Schweigens. „Ein von hinten bis vorne verblödeter oberösterreichischer Schafsschädel.“

„Gratuliere, die Einsicht ist die Hebamme der Besserung!“

„Ich habe mich nämlich gerade gefragt, was meine kleinen, dummen Sorgen überhaupt für eine Berechtigung haben neben diesen ganzen verrückten Weltgeschehnissen.“

„Ich glaube, da kann ich dich beruhigen. Erstens sind Sorgen in Bezug auf Frauen zwar meistens dumm, aber selten klein. Und zweitens könnte man die Frage auch andersrum stellen: Was hat dieses ganze verrückte Weltgeschehen überhaupt für eine Berechtigung neben deinen Sorgen?“

Sorge dich nicht, lebe – vielleicht will Freud dies seinem jungen Freund mitteilen, denn er selbst sieht den ganzen Irrsinn klar heranziehen: ein Weltgeschehen wie „ein Tumor, ein Geschwür, eine schwärende, stinkende Pestbeule, die bald platzen und ihren ekeligen Inhalt über die gesamte westliche Zivilisation entleeren wird.“

Gerade humorig sind sie nicht gestimmt, die Herrschaften in Robert Seethalers Roman. Die Geschichte ist traurig. Und die Zeiten sind schwer. Und trotzdem durchhaucht dieses Buch eine wundersame Leichtigkeit des Stils, die angesichts der sich zuspitzenden Dramatik keine Schwere, sondern allenfalls eine bittersüße Melancholie hervorruft.

Seethaler – Jahrgang 1966! – schreibt, als sei er selbst als junger Zuhörer neben Stefan Zweig, Arthur Schnitzler oder auch Joseph Roth bei einem großen Braunen oder einer Melange im Kaffeehaus gesessen und habe deren Sprache erlauscht. Mit leisen Tönen wird eine traurige Geschichte von schweren Zeiten erzählt.

Eine Sprache wie ein Walzertakt

Seethaler verfügt über eine Sprache, die mich wiederum verführt hat, so ungewöhnlich viele Zitate in diese Besprechung einzustreuen. Eine Inhaltsangabe gäbe diesen besonderen „Sound“, diese Sprachmelodie nicht nur nicht wieder, sondern würde sogar in die Irre führen: Denn das Stück endet tragisch, der Weg dorthin ist es aber nicht. Man meint, dem Buch zuweilen anzuhören, zwischen welchen Polen es pendelt – ein bisschen Walzertakt, ein wenig Wienerwald, Marschmusik, gemütliches Wienerisch und im Hintergrund das Radio, aus dem plärrend die hysterische Stimme des Anstreichers dringt. Der Roman hat den Sound der Wiener Heldenplatz-Zeit.

Franz jedenfalls wird vom Weltgeschehen aufgerüttelt und zu einer ganz eigenen Rebellion gegen die nationalsozialistischen Verbrecher motiviert. Die Rebellion gestaltet sich explizit freudianisch und endet mit einem großen Fanal. Im engeren Sinne ist es ein Entwicklungsroman: Ein junger Mensch, der nach Orientierung sucht. Der erfährt, dass das Leben mit den Jahren nicht unbedingt leichter, sondern komplizierter wird. Der aber auch von Haus aus so viel Substanz und Anstand mitbringt, dass er den Anfechtungen widersteht. Und sich für das Richtige entscheidet. Ein kleiner Held in schlimmen Jahren.

Die Geschichte von Franzens` Nacht-Träumen ist ein ganz herrlicher Einfall von Robert Seethaler: Ein Mensch nutzt seine wirren unbewussten Traumgesichter zu einer  versponnen, kleinen Geste des Widerstands. Wunderbar. Ich kann nur empfehlen: Selber lesen! Und träumen!

Robert Seethaler
Der Trafikant
Kein & Aber Verlag, 2012
ISBN: 978-3-0369-5645-9
Verlagsangaben

Ein Beitrag von Birgit Böllinger – Verlags-PR und Literaturblog