Zelda Fitzgerald: Himbeeren mit Sahne im Ritz

Sie stand im Schatten ihres Mannes – dabei hatte Zelda Fitzgerald, die Ikone der 1920er-Jahre, durchaus literarisches Potential, wie ihre Erzählungen zeigen.

zelda
Bild: (c) Michael Flötotto

„Die Blätter der Ulmen schablonierten ein schwarzes Fries auf den Gehweg, und hemdsärmelige Männer ließen hohe, warme, nach Gummi riechende Wasserbögen auf Prunkwinden und Bermudagras niedergehen, bis die Luft von einem frischen Grasduft erfüllt war und die Damen hinter den dichten Blumenranken eine kurze Weile ohne Fächer auskamen. Die ganze Stadt wartete auf die abendliche Neun-Uhr-Brise und lag so reglos da, dass man die scharrenden Räder der Straßenbahn, die sich bergan mühte, noch sechs Straßen weiter hören konnte. Die Mädchen, die sich in den Häusern auf den Tanzabend vorbereiteten, hatten die Wahl zwischen schweißtreibender Hitze und den krampfartigen Windstößen aus dem Ventilator.“

Aus „Ein Südstaatenmädchen“ in
Zelda Fitzgerald, „Himbeeren mit Sahne im Ritz“

Man kann die Hitze der Südstaaten spüren. Und sinkt beim Lesen vielleicht auch aufgrund der Wortkaskaden ein wenig müde zurück. Krampfartige Windstöße.

Zuviel Schönheit kann irritieren. Absolute Perfektion langweilen. Das Streben danach bemüht wirken. Sie perlen, diese Erzählungen von Zelda Fitzgerald (1900 – 1948). Manchmal wie Champagner. Aber manches Mal perlen sie auch ab. Man fühlt sich ein wenig ermattet nach so viel wohlformulierter Eleganz. Diamanten und Talmi.

Glamourgirl des Jazz Age

Die warmtönende Leichtigkeit, die diese Geschichten prägt – es wird gelegentlich spürbar, dass dahinter harte Arbeit stand. Dass da eine junge Autorin noch ihren Weg suchte. Vielleicht die Formel, die das Leben Zeldas prägte: Das Glamourgirl des Jazz Age, das sich hinter den glänzenden Kulissen mit eiserner Disziplin und unheimlich angestrengt (so trainierte sie wie besessen in einem Alter, in dem andere das Tutu an den Nagel hängen, für eine Ballettkarriere) sein Leben mit Sinn füllen wollte und nicht nur den nächsten Kelch mit Champagner.

Vor allem wollte Zelda Fitzgerald wohl auch eines: Mehr sein als die exaltierte Muse ihres berühmten Mannes, F. Scott Fitzgerald. Ihre Erzählungen, die nun im Manesse Verlag gebündelt erschienen, sind zum Teil schon bekannt – sie wurden jedoch größtenteils als Gemeinschaftswerk von Scott und Zelda veröffentlicht, oder sogar, wie „Our Own Movie Queen“, ganz ihm zugeschrieben. Zwar vermerkte Scott zu dieser Erzählung in seinem Tagebuch, Zelda habe den hauptsächlichen Anteil geleistet – aber sie musste zurückstehen. Für die Geschichten ihres Mannes wurde einfach mehr bezahlt. Und Geld hatten die beiden bei ihrem Lebensstil immer bitter nötig.

Die Ehe mit F. Scott Fitzgerald – ein Disaster

Die Ehe der beiden war trotz enormer gegenseitiger Anziehung stets auch von Ungleichheit und Konkurrenz geprägt. Zudem durch seinen Alkoholismus und ihre psychische Erkrankung belastet. Ein Leben im vagen Gleichgewicht, zerbrechlich, schwankend, ein Drahtseilakt bis zum dramatischen Ende. Dieses Balancieren auf dem Hochseil der Gefühle – es ist in diesen Erzählungen, die überwiegend in den Jahren 1929 bis 1931 veröffentlicht wurden, bereits angelegt und spürbar. Man merkt, trotz einiger Mängel: Es hätte sich bei diesen Anlagen, wäre ihr Leben anders verlaufen, eine großartige Schriftstellerin entwickeln können.

Zelda, ab 1930 immer wieder für lange Phasen in stationärer psychiatrischer Behandlung, schreibt 1932 innerhalb weniger Wochen den Roman „Save me the waltz“, der (wie einige ihrer Erzählungen) in seiner Südstaaten-Melodie deutlich an Truman Capote erinnert. Mit dem letzten Walzer liegt zudem der Nachweis vor: Sie hatte es, sie konnte es. Doch es ist wohl bei diesem Roman und einem Theaterstück geblieben – 1940 kam Zelda Fitzgerald bei einem Brand in einer psychiatrischen Klinik ums Leben.

It-Girls auf der Suche nach dem Glück

Vielleicht ist es ein Selbstbildnis, das  ihrer Erzählung „Die erste Revuetänzerin“ zugrundeliegt:

„Und auch Gay lebt weiter – in den vielen ruhelosen Seelen, die auf ihrer mondänen Wallfahrt über die Kontinente ziehen, die in muffigen Kathedralen nach dem verlorenen Zauber gebräunter Rücken und sommerlicher Strände suchen, die sich nach Stabilität und Pflichterfüllung sehnen, ohne recht daran zu glauben; in allen Menschen, die eine Schiffsreise zu einer ungezwungenen Angelegenheit mit Abendgarderobe und Diamantschmuck machen und das „Ritz“ zu dem, was es ist.“

Revuetänzerinnen, Kleinstadt-Schönheiten, die von der Leinwand träumen, Mädchen mit Talenten, auch fragwürdigen, Lebensglücksucherinnen: Zelda Fitzgerald schrieb über eigenständige, selbstbewusste Frauen, die sich, bei aller Abgeklärtheit, dennoch in romantischen Stricken verfangen. It-Girls mit Macken und Sehnsüchten. Und die besseren der insgesamt elf Erzählungen überzeugen, weil Zelda ihr Bestreben nach eleganten Formulierungen durch leise Ironie, durch warme Spöttelei durchbricht. Es gehen haarfeine Risse durch die Glitzerwelt – und das macht diese Stories lesenswert.

Irgendwie muss man diese verwöhnten, erfolgs- und lebenshungrigen jungen Frauen trotz ihres Narzissmus, der durch die Zeilen klingt, dann doch einfach mögen, wenn man Sätze wie diese in der Erzählung „Ein Mädchen mit Talent“ liest:

„Sie gönnte sich Masseure, die sie jeden Morgen behandelten, zu viele Sidecars vor dem Mittagessen und Unterwäsche, in der man tot aufgefunden werden wollte.“

Informationen zum Buch:

Zelda Fitzgerald
Himbeeren mit Sahne im Ritz
Übersetzt von Eva Bonné
Manesse Verlag, 2016
ISBN: 978-3-7175-2400-7

Henry James im Dreierpack

Vom charmanten Frühwerk bis zu den Romanen der letzten Jahre: Henry James ist ein Autor, der wie kein zweiter die leisesten Schwingungen der Seele erfasst.

james
Bild: (c) Michael Flötotto

Es mag ein Zufall gewesen sein, aber zum 100. Todestag von Henry James veröffentlichten zwei Verlage zwei Romane in neuer Übersetzung, die am Anfang und Ende seines Schaffens stehen – und einen thematischen Kreis schließen. Zu Beginn seiner Karriere lässt Henry James die Europäer in die Vereinigten Staaten kommen – gegen Ende suchen die Amerikaner in Europa ihr Glück und verlieren dabei die Orientierung.

“Die Europäer”, beim Manesse Verlag erschienen, ist ein luftig-leichtes Frühwerk. Eher ein Appetithäppchen, das die Neugier erweckt auf die späteren Bücher des Amerikaners, der ein Lebensthema hatte: Das Aufeinanderprallen der “alten” und der “neuen” Welt. Das amüsante Wechselspiel um einige Amouren und Aufeinanderprallen der Kulturen zeigt den Stil von Henry James bereits in den Grundzügen: Er forscht in den Regungen der Seele – auch wenn sein gestrenger Bruder William, berühmter Psychologe seiner Zeit, den Roman als “leer” verurteilte. “Die Europäer” erinnert – insbesondere durch den eloquenten Einsatz von Dialogen – an ein Stück von Oscar Wilde: Locker, luftig, leicht und amüsant.

Ein Amerikaner in Paris

„Die Gesandten“ dagegen, sein vorletzter Roman und in neuer Übersetzung durch Michael Walter beim Hanser Verlag erschienen, ist von ganz anderem Gewicht: Ein Amerikaner kommt nach Paris, um dort die Mesalliance eines jungen Mannes aus seiner Heimat mit einer Dame von zumindest angekratztem Ruf zu verhindern – der Herr in den besten Jahren verliert jedoch in der Alten Welt bald auch sein inneres Gleichgewicht: Paris, das ist so ganz anders, als Lambert Strether es sich in seiner amerikanisch-puritanischen Haltung vorstellen konnte. Strether beginnt sich selbst zu fragen, ob sein eigenes Leben nach den richtigen Prinzipien ausgerichtet ist.

Die „Europäer“ erschien zuerst 1878 in The Atlantic Monthly, im Herbst 2015 beim Manesse Verlag in neuer Übersetzung durch Andrea Ott. Mit seinem locker-leichten Ton, mit den ironischen Seitenhieben auf die neureiche Neue Welt und den abgewirtschafteten Adel der Alten Welt, mit seinen Dialogen wie Ping-Pong-Spielen und den amourösen Verwicklungen ist es ein leichtes Lesevergnügen und wartet mit reichlich viel Happy-Endings auf: Vier Hochzeiten und eine Abreise. Ausgerechnet Eugenia, die „Edelgeborene“, die sich einen wohlhabenden Amerikaner angeln wollte, geht leer aus.

Clash der Kulturen in Europa

James konstruiert in diesem Roman einen „clash der Kulturen“ – im eigentlichsten Sinne. Denn Eugenia und ihr malender Bruder Felix, mittellos und auf gute Partien hoffend, sind ganz der Kunst, auch der Kunst des Salongesprächs, zugeneigt – vor allem bei Eugenia weiß selbst der Leser nie ganz genau, worauf sie bei ihren Geplänkeln hinaus will. Am Ende verstrickt sie sich in ihren eigenen verbalen Fäden. Hier die überfeinerten Europäer – dort die puritanischen, grundehrlichen Amerikaner, die jedoch eines nicht können: Über ihre eigenen Gefühle und Stimmungen reflektieren, Innenschau halten. Auf diesem Gegensatz beruht dieser amüsante Roman.

Gustav Seibt schreibt in seinem Nachwort zur Manesse-Ausgabe:

„Der ästhetisch-kulturelle Gegensatz zwischen Europa und Amerika bleibt als historisches Thema bedeutend genug – die Frage nach dem Verhältnis von Vorgänger- und Nachfolgerkulturen wird die globalisierte Welt auch in Zukunft begleiten. Und wie wenig James, bei aller Liebe zu den Künstlern Europas, den amerikanischen Standpunkt verleugnet, zeigt sich etwas in dem stolzen Satz von Mr. Wentworth, der, auf den fürstlichen Stand seiner Cousine Eugenia angesprochen, knapp erklärt: „Hierzulande sind wir alle Fürsten.“ 

Thematisch ähnlich, doch deutlich komplexer ist das von Michael Walter für den Hanser Verlag neu übersetzte Werk „Die Gesandten“, das 1903, ebenfalls zunächst als Vorabdruck in einer Zeitschrift, erschien. Das Buch ist eine Herausforderung an die Leser: Ein echter Henry James. Es lebt von präzis-minutiöser Erforschung des Innenlebens seiner Protagonisten und doch bleibt manches unausgesprochen, verharrt in Andeutungen, vieles erklärt sich nur vage an kleinen Handlungen, Äußerungen, in Nuancen.

Noblesse oblige contra amerikanischen Puritanismus

Der biedere Herausgeber einer Zeitschrift, Lewis Lambert Strether, aus dem Städtchen Woollett (Massachusetts) soll den Sohn der ebenfalls sehr biederen Witwe Mrs. Newsome nach Hause holen: Jung-Newsome lebt in Paris, ist in eine amouröse Geschichte mit einer klugen, charmanten Französin namens Madame de Vionnet verstrickt und denkt gar nicht daran, sich wieder in die Eintönigkeiten amerikanischen Kleinstadt- und Geschäftslebens zu fügen. In den Augen der gestrengen Mrs. Newsome (und zunächst auch in Strethers Auffassung) hat Madame de Vionnet ein ganzes Bündel an Fehlern: Sie ist um einige Jahre älter, verheiratet und zudem mit einer hübschen Tochter gesegnet. Obwohl zutiefst unglücklich, ist die Ehe mit einem Adeligen, die nur noch auf dem Papier besteht, nicht auflösbar. Überkommener Adelcodex trifft auf amerikanischen Puritanismus.

Strether, der selbst an eine Verbindung mit Mrs. Newsome denkt, ist zunächst guter Dinge, seinen Auftrag bewältigen zu können – und scheitert. Denn seine „Pariser Erfahrungen“ führen ihn zu ganz zentralen Fragen an sich selbst, zu einer Auseinandersetzung mit seinem Leben. Bei einer Unterhaltung mit einem jungen, unsicheren Mann, den er in der Hauptstadt der Liebe kennenlernt, bricht es plötzlich aus dem rechtschaffenen Amerikaner heraus:

„Leben Sie, so intensiv Sie können; alles andere ist ein Fehler. Was Sie tun, spielt eigentlich keine große Rolle, solange Sie ihr eigenes Leben leben. Wenn Sie das nicht gelebt haben, was haben Sie dann überhaupt gehabt?“ 

Verbunden mit dem temperamentvollen Appell an den jüngeren Mann ist jedoch die melancholische Einsicht, dass für ihn selbst, den 55jährigen, der Zug wohl schon abgefahren ist – und dennoch kehrt Strether am Ende des Romans nach Hause zurück. Allerdings ist er nicht mehr derselbe, wie der Abschied von einer amerikanischen Freundin in Paris am Ende des Romans verdeutlicht.

„Es brachte sie zurück auf ihre unbeantwortet gebliebene Frage. „Was erwartet Sie denn zu Hause?“
„Ich weiß es nicht. Irgendetwas gibt es immer.“
„Eine große Veränderung“, sagte sie, während sie seine Hand festhielt.
„Eine große Veränderung – ganz ohne Zweifel. Trotzdem werde ich sehen, was sich daraus machen lässt.“

Maike Albath, eine ausgezeichnete Kennerin von Henry James` Werk, schreibt über „Die Gesandten“:

„Hier klingt ein weiteres zentrales Motiv von Henry James an, das er in vielen Romanen variiert: das des verpassten Lebens. Gründe dafür können Zaghaftigkeit, emotionale Taubheit, aber auch wirtschaftliches Kalkül sein, wie in seinem groß angelegten Fresko “Die Flügel der Taube”, in dem Berechnung schließlich jede tiefere Gefühlsregung verfälscht und Verstellung eine fatale Dynamik entwickelt. In seinem ausführlichen Nachwort, das in dieser Ausgabe zum ersten Mal auf Deutsch erscheint, erzählt der Autor, wie er 1895 über einen Freund von einem älteren Gentleman hörte, der einen jungen Mann vor der Gefahr des Verzichts warnte.“ 

Ihr Artikel verknüpft Kenntnis des Werks und der Biographie des Autors geschickt. Wer sich Henry James annähern will, findet hier eine gute Quelle: http://www.deutschlandfunk.de/buch-der-woche-henry-james-die-gesandten.700.de.html?dram:article_id=346874 

Auch heute noch, in einer globalisierten Welt, in der durch die digitalen Medien scheinbare Nähe aufgebaut wird, wirken die Romane Henry James in ihrem Kernthema – Alte Welt versus Neue Welt – eigenartig modern. Die jüngsten Präsidentschaftswahlen haben dies vielleicht einmal mehr gezeigt, wie wenig wir von den Vorgängen in den USA und der amerikanischen „Seele“ wissen. James, der sich selbst zeitlebens in Europa wohler fühlte, hätte das Erstaunen der Europäer über Trumps` Wahl vielleicht mit einem Schulterzucken und einem wissenden, müden Lächeln quittiert. Immer wieder hat er in seinen Büchern versucht, die Masken zu lüften – und immer wieder doch auch aufgezeigt, wie vieles die alte von der neuen Welt trennt.


„Es war allerdings ein Leichtes, nicht zu sprechen, wo die eigentliche Schwierigkeit doch darin lag, Worte zu finden.“

Henry James, „Die Kostbarkeiten von Poynton“

Henry James ist einer dieser Schriftsteller, die nie ganz weg, aber auch nie ganz da sind – wohl jeder, der sich mit englischsprachiger Literatur befasst, wird eines seiner bekanntesten Werke, sei es „Die Drehung der Schraube“, „Portrait of a Lady“ oder „Washington Square“ gelesen haben. Doch die gesamte Fülle seines Werks harrt immer noch einer angemessenen Übertragung ins Deutsche.
Umso mehr muss man anerkennen, dass beim Manesse Verlag seit einiger Zeit nach und nach einiger seiner Werke in hervorragender neuer Übersetzung erscheinen – und darunter, so wie nun mit „Die Kostbarkeiten von Poynton“, durchaus nicht nur die oben genannten, bereits berühmten Titel, sondern auch ein Roman, der zu den weniger bekannten Stücken aus James` Gesamtwerk zählt.

Wie Alexander Cammann in seinem Nachwort herausarbeitet, bildet dieses Buch eine Art Zäsur im Schaffen des amerikanischen Schriftstellers. Mit dem Krebstod seiner Schwester Alice, dem Tod seines Brieffreundes Robert Louis Stevenson und dem Suizid seiner Seelenverwandten Constance Fenimore Cooper hatte Henry James innerhalb kürzester Zeit seine engsten Vertrauten verloren, dazu kam sein öffentliches Scheitern als Bühnenautor. Seine Reaktion: Er setzt sich mit seinem eigenen Schaffen auseinander, beginnt wieder an einem Roman zu schreiben: „Ich gedenke, weit bessere Arbeit zu leisten als je zuvor.“

An dem 1896 erstmals veröffentlichten Poyntoner Kostbarkeiten werden sich die Geister scheiden: Wer sich mit dem Stil von Henry James, der zugegebenermaßen wenig „actionreich“ ist, sowieso nicht anfreunden kann, der wird das Buch entnervt zur Seite legen. Andere finden darin jedoch ihren vollen Genuss.

Konventionell bis zur Katastrophe

Im Grunde ist die Geschichte etwas Schall, sehr viel Rauch – Rauch, in dem das vermeintliche Objekt der Begierde, ein mit Devotionalien vollgestopftes Haus, am Ende in Flammen aufgeht. Eine unerwartete Pointe für eine Erzählung, die jedoch um einen ganz anderen Kern kreist: Die Unfähigkeit der beteiligten Personen, die (selbstauferlegten) Grenzen der Konvention, der öffentlichen und der gefühlten Moral abzulegen und ihrem eigentlichen Bedürfnissen und Gefühlen nachzugeben. Am Ende liegt alles buchstäblich in Schutt und Asche – auch das Lebensglück eines verliebten Paares, das nicht fähig ist zu können, wie es wollen sollte.

Nikolaus Stingl hat in seiner Übersetzung die leisesten Schwingungen und Untertöne, die Henry James seinen Figuren bei diesem dialoghaltigen Roman in den Mund legt, hervorragend aufgenommen. James, der souveräne „Menschenautor“, lässt einem jede feinziselierte Seelenregung seines Personals nachvollziehen, obwohl niemals direkt das ausgesprochen wird, was eigentlich gemeint ist – auch das macht die Lektüre insbesondere seines Spätwerks, das durch „Die Kostbarkeiten von Poynton“ eingeläutet wurde, zu einem herausfordernden Genuss.


Bibliographische Angaben:

Die Kostbarkeiten von Poynton
Übersetzt von Nikolaus Stingl
Manesse Verlag, 2017
ISBN: 978-3-7175-2352-9

Die Europäer
Übersetzt von Andrea Ott
Manesse Verlag, 2015
ISBN: 978-3-7175-2388-8

Die Gesandten
Übersetzt von Michael Walter
Hanser Verlag, 2015
ISBN 978-3-446-24917-2

Joachim Geil: Ruhe auf der Flucht

Was für ein seltsames, irritierendes, faszinierendes Buch. Genregrenzen? Einfach gesprengt. Typographisches Einheitsbild? Gesetzte Kunst statt Einheitsbrei.

Geil„Als Jill vor wenigen Wochen sagte, mein Onkel und ihr Vater seien fällig, fragte ich mich, ob sie deren Tod meinte, Der Tod ist ein ausgetretener Pfad, den zu viele beschritten haben, als dass er noch erstrebenswert wäre (allein der Todestourismus in die Schweiz, und gegen die Todesstrafe bin ich auch, obwohl es seit der Zarenkrise wieder viele Fürsprecher gibt, mehr denn je). Er hat seine ruhmreichen Zeiten hinter sich, aber als momentane Beatmung einer großen Flucht ins Endgültige bekommt der Tod einen coolen Reiz.“ 

Joachim Geil, „Ruhe auf der Flucht“, Steidl Verlag

Was für ein seltsames, irritierendes, faszinierendes Buch. Genregrenzen? Einfach gesprengt. Erzählebenen? Durchmischt, vermischt, verwoben. Typographisches Einheitsbild? Gesetzte Kunst statt Einheitsbrei.

Ich muss zugeben: Es dauerte ein wenig, bis ich in die „Kellersonderwelt“ dieses Protagonisten hineinfand. Bildstarker Einstieg, dann der erste abrupte Einschub, Jan mit dem Kurzhaarschnitt wechselt an die Stelle des Erzählers Hubert.

Ein Roman mit Verwahrstücken

Kein stringenter Erzählfaden eben (sondern ein Roman in vier Teilen und neunundfünfzig Verwahrstücken). Also auch keine „Ruhe auf der Flucht“. Man muss beim Lesen so hellwachsein wie der junge Hubert, seines Zeichens Ich-Erzähler (dem die Geschichte jedoch des Öfteren aus der Hand genommen wird), wenn der Onkel vor der Tür steht. Man muss die Geschichte mit den in einer Art Register angehängten Verwahrstücken, Puzzleteilen gleich, zusammenfügen, einen Sinn suchen, zugleich schon ahnend, dass neue Fragen sich öffnen werden. Aber dies vermag ein gutes Buch: Es wirft auch nach dem Lesen neue Fragen auf. Und so schlägt man am Ende den Roman zu, verwirrt, manches bleibt unaufgelöst, aber doch wissend: Da habe ich etwas ganz Besonderes gelesen.

Den Inhalt von Joachim Geils Roman in einer Rezension zusammenzufassen, ist kein einfaches Unterfangen. In einem Interview sagt der Schriftsteller: „In diesem Roman sind alle auf der Flucht“. Selbst die Hauptfigur, die äußerlich sesshaft scheint, flüchtet sich „in Kopfwelten“.

Einem Pädophilen hilflos ausgeliefert

Vordergründig erzählt wird die Geschichte des 36jährigen Hubert, der – immer noch mit dem leiblichen Onkel zusammenlebend – Rachepläne schmiedet: Als Kleinkind ist er nach dem tödlichen Unfall seiner Eltern zu dem alleinstehenden Mann gekommen. Doch die größte Lust dieses gepflegten, sich so weltmännisch gebenden Kulturmanagers einer pfälzischen Kleinstadt ist es, den Jungen zu misshandeln und zu missbrauchen – das geht so Jahre hinweg, bis Hubert uninteressant – weil zu männlich – für den Peiniger wird.

Parallel dazu wird von Jan erzählt – dessen erste Begegnung mit dem Rahmenhändler Daniel in einer Verführung endet, die einer Vergewaltigung gleicht. Gemeinsam mit dem älteren Mann zieht Jan auf eine irrsinnige Diebestour von Colmar bis Karlsruhe – zwei rätselhafte, aber durchaus anziehende Kunsträuber auf der Walz. Jans Traum: „Ein Weltschrank, wo endlich alles reinpasst.“ Die Welt, in Schubladen geordnet – ein Konzept, dem sich Joachim Geils Buch gekonnt entzieht. Ironie als Stilmittel, um immer wieder Lesererwartungen zu brechen:

 „Daniel nennt es Trip.“

 „Mein Onkel nannte es Hirnwichserei („…ach, sorry, Hubsi, war nicht so gemeint, wahrscheinlich hast du recht.“ Hätte er mehr gewichst und weniger gefickt, wäre ich womöglich das Opfer einer glücklichen Kindheit geworden.“

Erst nach und nach löst es sich auf, dass Jan offenbar nicht der angebetete Nachbarsjunge Huberts ist, sondern dessen Erfindung, sein abenteuerliches Flucht-Alter-Ego? Von denen Hubert mehrere hat – so auch den psychisch kranken Dichter Jakob van Hoddis, ebenfalls ein ewig Flüchtender, der jedoch – ähnlich wie Hubert – dann ausgerechnet an dem Ort, an dem es für ihn zum Schrecklichsten kommt, bleibt.

Auf den Spuren eines Frauenmörders

Während Jan und Daniel ihre Kreise ziehen, führt ein weiterer Erzählstrang auf die Spuren eines Frauenmörders, dessen Taten der Erzähler seinem von Parkinson geschüttelten Onkel unterschiebt. Rache vollendet, scheinbar.

Damit noch nicht genug an phantastischen Erzähleinfällen und -schüben: Afrikanische Flüchtlinge, die wie im KZ gefangen gehalten werden, Vor- und Rückblenden, in denen unter anderem von Jakob van Hoddis, von Georg Heym und Hölderlin erzählt wird, flämische Künstler, die zum Leben erweckt werden: Joachim Geil zeigt eine Lust am Spiel mit Identitäten und Erzählebenen, die beim Lesen zunehmend mehr an eigener Spiellust weckt. Er erzählt von Flucht und Flüchtenden, ein weiteres zentrales Thema ist jedoch auch dieses von Schuld und Sühne: Selbst mit vollzogener Rache ist Hubert nicht befreit – der Racheakt auch ein Akt der Selbst-Verschuldung.

Zusammenarbeit mit dem Künstler Reinhard Doubrawa

Missbrauchsdrama, düsterer Thriller, Provinzposse, Dystopie und vieles mehr – dieser Roman hält sich nicht an Grenzen, nicht an Formen und Stile und, wie eingangs erwähnt, nicht an Schrifttypen: „Ruhe vor der Flucht“ ist auch optisch ein auffallendes Buch, typographisch mit viel Sorgfalt gemacht, handwerklich perfekt. Ein „Steidl-Buch“ sagt der Autor, der eigentlich einen ganz „normalen“ Roman geplant hatte. Doch da nahm im einerseits der kalligraphisch begabte Protagonist die Feder aus der Hand, andererseits entwickelte sich die Zusammenarbeit mit dem Künstler Reinhard Doubrawa, ein Dialog, der Wort und Bild in den Verwahrstücken zusammenführt.

„Ruhe auf der Flucht“ ist der Schlusspunkt einer Art „Heimattrilogie“, die jeweils im Pfälzischen angesiedelt ist. Vor allem aber sind es Bücher, die um die Themen Vergeblichkeit und Vergeben im menschlichen Leben kreisen.

Schon in seinem Debütroman „Heimaturlaub“, der von einem Soldaten im Zweiten Weltkrieg handelt, als auch in „Tischlers Auftritt“, der die Fragen der 1968er-Generation aufgreift (beide ebenfalls bei Steidl erschienen), stellte Joachim Geil Männer in den Mittelpunkt, die aus den richtigen Gründen das Falsche tun, die Schuld auf sich laden. Mit dem ungewöhnlichen Roman „Ruhe auf der Flucht“ zeigt der in Köln lebende Autor seine unkonventionelle Gestaltungskraft auf. „Ruhe auf der Flucht“: ein empfehlenswertes Buch für Leser, die die Geduld haben, sich einem Buch nicht nur flüchtig, sondern in aller Ruhe zu widmen.

Informationen zum Buch:

Joachim Geil
Ruhe auf der Flucht
Steidl Verlag, 2016
ISBN 978-3-95829-206-2

Richard Yates: Eine letzte Liebschaft

Der bittere Geschmack der Enttäuschung prägt die letzten Erzählungen von Richard Yates, die zu dessen Lebzeiten unveröffentlicht blieben.

Yates
Bild: (c) Michael Flötotto

„Betty“, sagte Miller. „Tust du mir einen Gefallen?“ Er beobachtete, wie sich ihr Stirnrunzeln im Licht der vorbeigleitenden Straßenlaterne in einen gekränkten Blick verwandelte. „Halt den Mund. Halt bitte einfach den Mund.“

Richard Yates, „Eine letzte Liebschaft”


Eins und doppelt möchte man sein. Die romantische Idee des Ineinander-Verschmelzens, die regelmäßig an den Klippen des Alltags zerschellt. Einer, der gerade dieses mit wenigen, knappen Sätzen beschrieb, war Richard Yates. Schon in seinem bekanntesten Roman „Revolutionary Road“ gibt es sie, diese Szenen einer Ehe – da liegt so viel Unausgesprochenes zwischen dem Paar, soviel ungelebte Möglichkeiten, soviel unerfüllte Wünsche.

Den bitteren Geschmack der Enttäuschung – ihn transportierte der amerikanische Schriftsteller (1926 – 1992) auch in seinen letzten Erzählungen, neun short storys, die zu Lebzeiten nie veröffentlicht wurden und nun erstmals in deutscher Übersetzung erschienen sind.

Der bittere Geschmack der Enttäuschung

In eine „Eine letzte Liebschaft“ – übrigens ist ausgerechnet die titelgebende Erzählung, in der Yates ausnahmsweise aus der Perspektive einer Frau schreibt, das schwächste Stück dieses Erzählbandes – sind Geschichten versammelt, die um Missverständnisse kreisen, um Vorverurteilungen, um falsche Träume. Der Buchhalter, der an dem Tag, an dem er von seiner Frau verlassen wird, auch feststellen muss, dass andere ihm mit Ablehnung begegnen, wird radikal von allen Selbsttäuschungen befreit. Eine Ehefrau, die auf einer Party gerne Heldengeschichten ihres Mannes aus dem Weltkrieg hören würde – doch dieser schweigt aus guten Gründen. Ein Tuberkulosekranker, der sich in die falsche Frau verliebt und abserviert wird – ihr Brief ersetzt das, was heute wohl in einer SMS beinhaltet wäre.

Richard Yates erzählte in seinen Stories wie in den Romanen von zerbrochenen Träumen und einsamen Seelen. Er benötigte keine ausführlichen psychologischen Schilderungen – die Erzählungen sind kurz, knapp, mit wenigen Worten, einzelnen Szenen wird das Dilemma des Vereinzelten angerissen und beleuchtet. Oder, wie Manuela Reichart in einem Beitrag beim Deutschlandradio Kultur betont: Yates, einer der sie malte, „solche literarischen Augenblicke, die wie in einem Brennglas Menschen und ihre Versehrt­heiten deutlich machen.“

Ein Meister der Zwischentöne

Yates, ein Meister der Zwischentöne, dessen Texte sich immer wieder um die Fragilität des Lebens drehen, der sich den Außenseitern, den Verlassenen, den Einsamen zuwendet. Und doch: So hoffnungslos deren Lage auch zu sein scheint, so öde, trist und langweilig ihr Alltag ist, alle klammern sich mit einem letzten Rest verzweifelter Hoffnung an die dünnen, abgewetzten Fäden, mit denen sie noch lose mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld verbunden sind. Das angestrengte Aufrechterhalten bröckelnder Fassaden, das Bewahren eines letzten Restes von Würde, die niemals endende Hoffnung auf ein Stück vom Glück – das ist es, was Yates` Figuren am Leben hält. Ganz typisch sind dafür die dahinsiechenden Kriegsveteranen, die von einem vergangenen Leben und ihren „Heldentaten“ erzählen: Diebeszügen, Besäufnissen, Liebschaften, Ehebruch. Oder Betty Meyers, die Navy-Ehefrau, die sich aus Langeweile und Frustration einem Aufreißer hingibt.

Die anrührendste der neun Erzählungen stellt jedoch ein Kind in den Mittelpunkt: Die kleine Eileen. Sie findet 50 Cents, malt sich aus, was sie sich mit diesem persönlichen Besitz an Wünschen erfüllen könnte – und wird prompt von den Erwachsenen des Diebstahls bezichtigt. Hier zeigt Yates eine seiner hervorragenden Eigenschaften als Autor: Die Wärme, das Mitgefühl, das er für seine Figuren, die Schwachen und Verletzten, aufbrachte.So schreiben kann einer nur, der selbst oft genug schwach und verletzt war – und weiß, wie Einsamkeit klingt:

„Pollock war jetzt ganz von dem Gefühl beherrscht, erschreckend allein zu sein, aller Sicherheit beraubt; ihn überkam die Angst, die ein Kind ergreift, das in einer Menschenmenge verloren geht.“


Bibliographische Angaben:

Richard Yates
Eine letzte Liebschaft
Übersetzt von Thomas Gunkel
DVA Verlag, 2018
ISBN: 978-3-328-10276-2

Pablo Neruda: Die Verse des Kapitäns

Der September 1973 traumatisierte in Chile das ganze Land: Dem Militärputsch folgte wenig später der Tod des chilenischen Volksdichters Pablo Neruda.

Neruda
Bild: (c) Michael Flötotto

REBELLION

Ausgepeitscht vom Regen und vom Wind
richten die Pappeln sich auf und klagen wild,
stehen am schwarzen Firmament und sind
mit zottiger Mähne aus grünem Astwerk ein Schild.

Doch bald sind sie müde, das Unerreichbare zu wollen,
nur einmal noch zeigt Rebellion ihre Statur …


Das Jahr 1973 hat für Chile eine tragische Bedeutung:
Am 11. September wurde Präsident Salvador Allende mit einem brutalen Militärputsch entmachtet, Diktatur und Unterdrückung unter dem Pinochet-Regime stürzten das Land in einen Abgrund.

Am 23. September verstummte zudem die lyrische Stimme Chiles für immer – Pablo Neruda (geboren 1904) starb in Santiago de Chile angeblich an seinem Krebsleiden, wie es hieß.

Für das Land ein doppeltes Trauma

Für das Land war dies ein doppeltes Trauma, an dem es bis heute noch trägt – noch Jahrzehnte danach beschäftigt die Menschen die wahre Ursache von Nerudas Tod. Im April 2013 wurde seine Leiche exhumiert. Zunächst wurde fortgeschrittener Prostatakrebs diagnostiziert, zwei Jahre später, nach einer vom chilenischen Innenministerium beauftragten Untersuchung, scheint festzustehen, dass der Dichter vergiftet wurde. Ein Mord durch die Schergen des brutalen Pinochet-Regime ist nicht unwahrscheinlich: Noch ist die Untersuchung nicht offiziell abgeschlossen, doch die Spekulationen um den Tod und eine wahrscheinliche Ermordung des Nationaldichters halten sich bis heute.

Für mich war Pablo Neruda zunächst vor allem als politischer Dichter und Denker ein Begriff, als Vertreter politisch engagierter Schriftsteller, wie es sie vor allem in Südamerika gab und gibt – Schriftsteller und Politiker in einer Person wie Alejo Carpentier, Ernesto Cardenal, Miguel Asturias, meist dem Sozialismus oder Kommunismus zuzuordnen. Und natürlich Vargas Llosa, der sich als „liberalen Demokraten“ bezeichnet, sich als Präsidentschaftskandidat in Peru aufstellen ließ und sich mit Gabriel García Márquez wegen dessen Freundschaft zu Fidel Castor und dessen Eintreten für Kuba entzweite.

Schriftsteller und Politiker

In dieser Zweieinigkeit von Schriftsteller und Politiker ist Neruda in Südamerika keine Einzelerscheinung. Mit Asturias (Guatemala) verbindet Neruda zudem nicht nur die politische Aktivität, der Kampf gegen Diktatur und Faschismus, die Exilerfahrung, sondern auch der Literaturnobelpreis: 1971 war Neruda erst der dritte Südamerikaner, der diese Auszeichnung erhielt, nach Asturias (1967) und Gabriela Mistral (1945) – letztere war übrigens die erste Lehrerin Nerudas am Gymnasium von Temuco.

Der 1904 geborene Neruda wurde schon früh lyrisch und politisch aktiv: ab 1923 veröffentlichte er regelmäßig Gedichte, ab 1927 war er als chilenischer Honorarkonsul im Fernen Osten, ab 1935 als Konsul in Madrid und später als mexikanischer Generalkonsul tätig. Die Zeit der konservativen Videla-Regierung in Chile, die vom Militär mitgeprägt wurden, verbrachte der überzeugte Kommunist zeitweise im Exil. 1970 wurde er von der Kommunistischen Partei als Präsidentschaftskandidat aufgestellt, er verzichtete jedoch zugunsten seines Freundes, dem Sozialisten Salvador Allende, der die linken Parteien in einem Bündnis vereinigen konnte.

Neruda soll einmal gesagt haben, sein wichtigstes Buch sei jenes, „das wir Chile nennen“. Und so wurde der Dichter und Kommunist vom Volk auch gebraucht und geliebt – sein Tod löste nicht nur Bestürzung aus, sondern stürzte das vom Putsch geschockte Land noch zusätzlich in Trauer. Sein Begräbnis wurde zu einem Protest gegen die Diktatur. Im Ausland war man entsetzt und bestürzt: Hatte die Diktatur es wagen können, Neruda zu ermorden? Isabel Allende, eine Nichte des entmachteten Präsidenten (der den Pinochet-Schergen durch Selbstmord entkommen war) schrieb in ihrem Roman „Das Geisterhaus“ über Nerudas Beerdigung, sie war das „symbolische Begräbnis der Freiheit“.

Sinnlich, zärtlich und politisch radikal

Weltweit bekannt wurde Pablo Neruda vor allem durch seine Liebeslyrik: Zärtlich, sinnlich, erotisch, schwelgend. Doch auch wenn Zyklen wie „Die Verse des Kapitäns“ oder „Der rasende Schleuderer“ die Liebe feiern – ganz ist sie nie vom politischen Kampf zu trennen, beide gehen Hand in Hand, bedingen einander zuweilen:

„Und weil Liebe kämpft nicht nur
auf eignem heißem Feld,
sondern im Mund auch von Männern und Frauen,
darum will ich denen entgegentreten,
die zwischen meine Brust und deinen Duft
ihre finstre Fußsohle setzen wollen.“

Aus: „Ode und frisches Keimen“, übersetzt von Fritz Vogelgsang

Nerudas Literatur sprach die elementaren Bedürfnisse, Wünsche und Träume der Menschen an, ohne durchgängig in den Duktus polit-agierender Aufklärer zu verfallen, seine Lyrik blieb von sprachlicher Schönheit geprägt. Neruda brachte die Stimme des einfachen Volkes zum Erklingen: Die der armen Landbevölkerung, der Indios in den chilenischen Anden, dem ausgebeuteten Proletariat in den Städten. Seine Sprache gebraucht Metaphern und Symbolik, die, so das Nobelpreis-Komitee in seiner Begründung, „eine Dichtung ist, die mit der Macht natürlicher Kraft Schicksal und Träume eines Kontinents zum Leben erweckt“.

Der große Gesang

Als Nerudas wichtigstes Werk gilt der „Canto General“, ein Gedichtzyklus über Südamerika, insbesondere über die Folgen und die notwendige Befreiung vom Kolonialismus. Es wurde auf Anregung von Salvador Allende von Mikis Theodorakis vertont.

In seiner Autobiografie „Ich bekenne, ich habe gelebt” beschreibt Neruda seinen “Großen Gesang” als die „Idee eines zentralen Poems, das die geschichtlichen Ereignisse, die geografischen Bedingungen, das Leben und die Kämpfe unserer Völker umschließt.“

Mit prachtvollen Bildern werden die Schönheiten des Kontinents nachgezeichnet:
“Es war die Morgenhelle der Leguanechse … die Affen flochten einen unendlich erotischen Faden, indem sie Wände von Blütenstaub niederrissen… die Nacht der Kaimane, die unberührte Nacht”.

Die Anaconda-Schlange, gigantisch, gefräßig, mörderisch, symbolisiert den Kapitalismus in Folge des Kolonialismus, den destruktiven Eingriff in die unberührte Natur. Anaconda ist auch der Name einer chilenischen Kupfermine. Die Schlange verschlingt das Beste des Paradieses, der Ausverkauf beginnt „an die Coca-Cola Inc., die Anaconda, die Ford-Motors und andere Wesenheiten”.

Kämpfer für die Freiheit

Mein persönliches Schlüsselerlebnis, mein Einstieg zu Neruda: 1991 oder 1992 bekam ich auf der Frankfurter Buchmesse am Stand eines kleinen Verlages „Maremoto – Beben des Meeres“, Neruda-Übersetzungen von „tia“, in die Hand gedrückt. Herr „tia“ war so erfreut, dass jemand an seinem Stand stehen blieb, dass er mir auf jede dritte Seite mit fettem Kohlenstift eine Widmung schrieb. Ich hab das Büchlein lange als eine Art „Souvenir“ an eine unterhaltsame Begegnung behandelt – bis ich im Kino Philippe Noiret als Neruda (siehe unten) erlebte. Der Film, obschon ein wenig gefühlsselig, brachte die Erinnerung an das Buch und war mein Einstieg, um Neruda nicht nur als Kämpfer für die Freiheit im Gedächtnis zu haben, sondern um ihn endlich auch zu lesen. Daher nun, als verspätetes Dankeschön an Herrn „tia“ für eine seiner Übersetzungen:

MUSCHELN

Leere Muscheln im Sand
Verlassen vom Meer, als es ging,
als es ging, das Meer auf die Reise,
auf die Reise zu anderen Meeren.
Es verließ seine Muscheln,
perfekt von ihm poliert,
bleich von den nie endenden Küssen
des Meeres, das ging auf die Reise.


Die Werke des Dichter-Diplomaten und lyrischen Kämpfers erscheinen beim Luchterhand Verlag, auf dessen Internetseite noch zahlreiche weitere Informationen über Neruda zu finden sind: Neruda bei Luchterhand.

Eine liebenswerte Hommage an Pablo Neruda ist der Roman „Mit brennender Geduld“ von Antonio Skármeta, erschienen beim Piper Verlag. Skármeta, wie Neruda Chilene, ist im Übrigen auch einer jener dichtenden Politiker – ab 1973 im Exil in Berlin lebend, kehrte er 1989 wieder in sein Heimatland zurück und wurde später, im Jahr 2000, für die demokratische Regierung chilenischer Botschafter in Berlin. Poet und Diplomat – in Südamerika nichts Ungewöhnliches. „Mit brennender Geduld“ wurde 1994 verfilmt und unter dem Titel „Der Postmann“ ein Kassenerfolg – Philippe Noiret als charmanter Dichter, der einem schwärmerischen Briefträger zur großen Liebe verhilft.