STANISLAW BARANCZAK: Ethik & Poetik

Stanisław Barańczaks Essaysammlung Ethik&Poetik ist das Zeugnis eines literarischen und kritischen Ringens mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts – ein Ringen um die Literatur und deren erhofften Rolle bei der Wiederherstellung eines ethischen Wertesystems. Der Band liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor.

Bewegt von der ernsthaften Sorge um die ethische Integrität von Literatur, die immer dann am stärksten gefährdet zu sein scheint, wenn Schriftsteller*innen in die Klauen der Politik geraten und zwischen Gehorsam und Widerstand wählen müssen, ist Stanisław Barańczaks frühe Essaysammlung Ethik und Poetik (EA 1979) das Zeugnis eines literarischen und kritischen Ringens mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts – ein Ringen um die Literatur und deren erhofften Rolle bei der Wiederherstellung eines ethischen Wertesystems. An Klassikern wie Thomas Mann, Ossip Mandelstam, Dietrich Bonhoeffer, Czesław Miłosz, Miron Białoszewski, Wisława Szymborska, Zbigniew Herbert und anderen mehr zeichnet Barańczak in “Ethik&Poetik” jene poetischen Überzeugungen nach, für die deren Autor*innen mit Schreibverbot, Exil oder Tod bezahlen mussten.

„Auf dem großen Gruppenfoto des polnischen Geistes im 20. Jahrhundert, wie wir es kennen, war immer eine Leerstelle, ein weißer Fleck: Er war für Stanisław Barańczak reserviert, den leidenschaftlichen Dichter, Denker, Übersetzer und Essayisten – sowie politischen Aktivisten bereits vor der Solidarność-Zeit. Zusammen mit Ryszard Krynicki, Adam Zagajewski, Julian Kornhauser, Ewa Lipska und anderen bildete er eine „neue Welle“ der polnischen Kultur, in der Ethik und Ästhetik einen unauflöslichen Pakt eingegangen waren. Zu meiner großen Freude erscheint nun die erste Auswahl von Barańczaks Arbeiten in deutscher Sprache. Wer diesen gastfreundlichen Intellektuellen Nimmersatt nicht mehr persönlich kennenlernen konnte, hat nun endlich Gelegenheit, ihm über seine Arbeit näherzukommen. Und das Gruppenfoto ist nun (fast) vollständig“ schreibt Michael Krüger, einer der Herausgeber zu diesem Buch, das nun in der Edition Faust erschienen ist.

Stanisław Barańczak wurde 1946 in Posen geboren. Er studierte Polonistik an der Adam-Mickiewicz-Universität, an der er 1973 mit einer Dissertation über Miron Białoszewski promovierte. Sein Debüt als Dichter lieferte er bereits 1965. Er gehörte 1976 zu den Gründern des KOR (Komitee zur Verteidigung der Arbeiter). Der prominente Vertreter der polnischen Neuen Welle / Generation 68 gilt als einer der bedeutendsten Lyriker, Übersetzer und Essayisten der polnischen Gegenwartsliteratur und wurde mehrfach national wie international prämiert. Stanisław Barańczak ist 2014 in Newtonville, Massachusetts, gestorben.


Stimmen zum Buch:

“Das ist schließlich das große Wunder mutiger und aufrichtiger Menschen, zu denen wir Baranczak zählen dürfen: Jahrzehntelange allumfassende Propaganda konnte nicht verhindern, dass sie existieren, sich entwickeln und aufklärerisch tätig werden; und das heißt, dass es unter allen Umständen immer Hoffnung gibt, so düster die Gegenwart auch aussehen mag. Baranczak war mit seiner Kritik am kommunistischen Polen, die er in seinen vielen Texten übt, ein ethischer Visionär: Er wusste, dass er auf der Seite der Guten steht, und dass seine Sache eines Tages notwendig gewinnen musste.” – Arne-Wigand Baganz

12. Juli 2023:Marta Kijowska widmet Stanisław Barańczak und dessen Essays einen ausführlichen und kenntnisreichen Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

“Das ist Ethik, das ist Poetik: Das ist das, was in der heutigen deutschen Dichtung zu selten ans Licht dringt, nämlich: „Der Kern der Sache (…), dass in der heutigen Welt gerade das dichterische Denken am häufigsten zum Gegenpol jeglicher Form des dogmatischen Denkens wird“, wie Baranczak schreibt.” – Artur Becker in der Frankfurter Rundschau


Stanisław Barańczak
Ethik und Poetik
Essays
Herausgegeben von Alexandru Bulucz, Ewa Czerwiakowski, Michael Krüger
Aus dem Polnischen von Jakub Gawlik und Mateusz Gawlik
Broschur, 416 Seiten, € 28,–ISBN 978-3-945400-46-3


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für die Edition Faust.

Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts

„Die Insel des zweiten Gesichts“ von Albert Vigoleis Thelen: Wenn ich vor die Wahl gestellt würde, welches Buch ich auf einen Inselaufenthalt mitnehmen dürfte, dann wäre es ohne Zweifel dieses.

„Wenn ein Deutscher sich an einer historischen Stätte niederläßt, schöpft er tief Atem, krempelt die Hemdärmel hoch, falls er nicht schon hemdärmelig die Stätte betreten hat, zückt seine Bleifeder und schreibt eine Ansichtskarte. Das ist schon so, seit es auf der Welt Deutsche und Ansichtskarten gibt, zwei Schöpfungen, die sich ergänzen.“

Albert Vigoleis Thelen, „Die Insel des zweiten Gesichts“


Mal abgesehen davon, dass es heute eher Selfies und Whatsapp-Fotos sind, die verschickt werden: Manche Dinge ändern sich nie. Und so pilgern wie in den 1930er-Jahren, als sich der in Süchteln am Niederrhein geborene Schriftsteller Albert Thelen (den Vigoleis eignet er sich als Pseudonym und Alter Ego im Laufe seines abenteuerlichen Lebens später an, in Anlehnung an das mittelalterliche Versepos Wigalois des Wirnt von Grafenberg) auf Mallorca zeitweise auch als Reiseführer durchschlug, auch heute noch Scharen von Touristen nach Valldemossa, um dort ihr Mallorca-Bildungsprogramm zu absolvieren.

Ein Mallorca-Roman sondersgleichen

Die Besichtigung der Klause, wo George Sand mit Frédéric Chopin einen Winter lang fröstelte und das unverheiratete Paar unter der Ablehnung der erzkatholischen Mallorquiner litt, gehört zum literarischen Bildungsprogramm eines Aufenthalts auf der Balearen-Insel. Wenn auch die wenigsten von ihnen „Un Hiver à Majorque“ gelesen haben dürften. Und unter uns: Es lohnt das Lesen nicht. Sowieso nicht im Vergleich zur Insel des zweiten Gesichts, dem eigentlichen Mallorca-Buch, „das größte Buch dieses Jahrhunderts“, wie Maarten ‘t Hart, ein Thelen-Aficionado, bekannte. Wer des Holländischen mächtig ist, lausche und schaue hier.

In Gefahr, ob der Begeisterung über diesen barocken Brocken von Buch in den „Kaktusstil“ seines Verfassers zu verfallen (dazu später noch eine Anmerkung), zurück zum Vergleich George Sand und Albert „Don Vigo“ Thelen: Es ist jedenfalls eine schreiende Ungerechtigkeit der Literatur, dass die kalte Kartause in jedem Reiseführer zu finden ist, aber kaum einer an die Calle del General Barceló No. 23 erinnert. Oder gar an den „Turm der Uhr“, ein Horst für eine kriminelle Schmugglerbande und Bordell zugleich – gut, diesen zu verorten, dürfte auch schwierig sein, schrieb Thelen doch später selbst darüber: „der Witz ist nur der, daß ich selbst tarnend hatte schreiben müssen, und ich verschleierte die katasteramtliche Örtlichkeit, denn schließlich deckte ich Dinge auf, mit denen sich Behörden auch nach Jahren noch beschäftigen können…. So griff ich zum Schleier der Maja in einem Buch, das von der Wahrheit lebt und worin alles der Wirklichkeit nachgebildet ist…” (AV Thelen: Brief an die Redaktion, MERIAN Mallorca, Heft 3 März 1960).
Quelle: http://www.vigoleis.de/content/insel/0/67.htm

In der Altstadt von Palma. Bild von seth0s auf Pixabay

Doch hier kommen Don Vigo und seine Herzensdame Beatrice zeitweilig unter, als sie völlig abgebrannt und ohne einen Peso sind, freilich ohne sich an den Machenschaften im Turm zu beteiligen. Als sie sich mit Gelegenheitsarbeiten – sie als Sprachlehrerin, er als Reiseführer und Sekretär für andere prominente Mallorca-Exilanten, darunter Harry Graf Kessler und Hermann Graf Keyserling – etwas besser durchschlagen, wenn auch nach wie vor kaum für täglich Brot, geschweige denn einen zweiten Tisch oder Stuhl sorgen können, folgt der Umzug in die Straße des Generals. Doch zurück zum Anfang: Wie gelangen Albert Vigoleis und Beatrice (die über dies ungleich länger als George und Frédéric miteinander verbunden blieben, nämlich bis zum Rest ihres langen Lebens) überhaupt auf diese Insel?

1931 kommt das Paar auf die spanische Insel

Das Buch in nüchternen Worten beschrieben: 1931 erreicht Beatrice, die ihren Albert Vigoleis in Köln kennengelernt hatte, ein Telegramm ihres Bruders. „Liege im Sterben, Zwingli“, schreibt der Luftikus, der als Hotelmanager auf Mallorca tätig ist. Das damals noch unverheiratete Paar eilt stante pede zur Hilfe – um den Bruder zwar etwas mitgenommen, aber durchaus leibhaftig anzutreffen. Seine lebensbedrohliche Erkrankung ist die Liebe zur Hure Pilar, die ihn nicht nur nach Strich und Faden ausnimmt, sondern regelmäßig auch mit fliegendem Geschirr, Mobiliar und einem Messer bedroht.

Zwar gelingt es Beatrice, den Bruder aus den Klauen Pilars zu befreien und alle Schulden zu begleichen, aber der Preis ist heiß und hoch: Danach sitzen Beatrice und ihr Don Vigo auf dem Trockenen, nicht einmal mehr Geld zur Rückreise bleibt. Aus dem geplanten Besuch wird ein Daueraufenthalt, der bis 1936 währt.

Auf der Flucht vor den Faschisten

Auch deshalb, weil die Machtergreifung der Nationalsozialisten alles in der ehemaligen Heimat verändert: Albert Vigoleis Thelen macht aus seiner Abscheu keinen Hehl, bricht mit seiner katholischen Familie am Niederrhein, die sich bereitwillig anschließen lässt und mit seinen Wurzeln. Als der Spanische Bürgerkrieg beginnt, muss sich das Paar unter abenteuerlichen Umständen dem Zugriff der Faschisten entziehen, ihre Flucht führt sie durch halb Europa bis nach Portugal, wo Thelen als Gutsverwalter und Übersetzer des von ihm hoch geschätzten Mystikers und Dichters Texeira de Pascoaes überlebt.

„Die Insel des zweiten Gesichts“ umspannt diesen Mallorca-Aufenthalt, endet, finis operis, 1936:
„Die Natur sorgte für einen letzten Effekt, der bei allem Gleisen doch nicht zu theatralisch genommen sein will. Wieder heulten die Sirenen auf, und im selben Augenblick schloß sich die Wolke. Wer hatte sie fallen sehen? Ein weißlicher Schein umhüllte uns, starr war die Planke, lautlos die Welt. Unsichtbar über uns blaute der glühende Meertag, und unten wallte die Nacht, die das Ziel verhüllt.
Das Ziel hieß: Freiheit.“

Die Kurzzusammenfassung erfasst nicht einmal annähernd, was dieses fast 1000-seitige Werk an Leben und Literatur in sich birgt. „Thelen brennt ein Sprachfeuerwerk ab, das in der Literaturgeschichte seinesgleichen sucht. Mit Hilfe eines Wortschatzes, der der umfangreichste in der gesamten deutschen Literatur sein dürfte“, schreibt der Thelen-Kenner und Germanist Jürgen Pütz. Inzwischen dürfte es mehr literatur- und sprachwissenschaftliche Arbeiten über die Verwendung neuer Wortschöpfungen, Wiederbelebung altdeutscher Worte und dem artistischen Umgang damit bei Thelen geben, als aktive Leser seines Werks. Was jammerschade wäre. Jürgen Pütz nennt in seinem Nachwort zur Ausgabe im Claasen Verlag einige Beispiele:

„Alleine für Zwinglis Freundin Pilar hält Thelen zahlreiche Synonyme bereit: Schlunte, Zaupe, Zauche, Lunze, Schindkracke, Bettunzel, Schöke, Hehre, Strunze.“

Wer so mit Wörtern umzugehen vermag, der braucht Raum. Doch nicht nur dieses führt dazu, dass „Die Insel des zweiten Gesichts“ zum ausufernden Leseerlebnis wird, von dem man sich wünscht, es möge nicht so schnell enden (was es in der Tat auch nicht tut – es ist eines dieser Bücher, die man immer wieder lesen kann und dabei immer wieder Neues entdecken wird). Es ist auch dieser mäandernde, digressive Erzählstil, den Thelen pflegt, der zum Volumen beiträgt. Immer wieder schießt er bei seinen Anekdoten vom Inselleben vor und zurück, führt uns in die Welt seiner niederrheinischen Familie oder auf das portugiesische Gut, integriert kunstvoll Abschweifungen und Ablenkungen von der eigentlichen Inselerzählung. Thelen selbst nennt das „Kaktusstil“:

„(…) es bilden sich Ableger, ins Wilde hinein, wie beim Kaktus, der gerade da Augen setzt, wo man sie nicht erwartet.“

Es braucht fast zwanzig Jahre, bis Albert Vigoleis Thelen, der bis dahin nur einen Gedichtband veröffentlichen konnte, die Mallorquiner Ereignisse in diese Mischung aus Autobiographie und romanhafter Erzählung goss. Ein Beispiel autofiktionaler Literatur, die heute wieder so en vogue ist – doch an Thelen reicht keiner heran, so funkensprühend, lebensprall, ausufernd, exorbitant ist dieses Buch.

Ein Solitär der deutschen Literatur

Ein Solitär, aber leider auch ein „One-Hit-Wonder“: Wiewohl die 1953 zugleich in den Niederlanden und Deutschland erschienene „Insel“ ein Jahr später mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet wurde, obgleich Thomas Mann, Paul Celan und Siegfried Lenz das Buch über die Maßen lobten, der große Erfolg blieb Thelen versagt. Mit ausschlaggebend dafür war, dass das Buch nicht in den Zeitgeist der Nachkriegs-Autoren passte, wie auch Agnes Steinbauer in einem Beitrag für den Deutschlandfunk hervorhob:

„Sein ausladend-verästelter Erzählstil, den er selbstironisch Kaktusstil nannte, passte nicht ins literarische Profil der frühen Nachkriegsjahre. Bei einer Lesung 1954 in Bebenhausen kam es zu einem Eklat, den Thelen nie verwand. Noch Jahrzehnte später erinnerte er sich: „Ich wurde von Hans Werner Richter sehr unfreundlich empfangen, ja ich darf es wohl sagen und ich muss es ja auch schließlich sagen, denn es entspricht der Tatsache und der Wahrheit: es war ungezogen.“ Richter – Vorsitzender der Gruppe 47 – hatte sich mit sarkastischen Bemerkungen über Thelens altertümelndes „Emigrantendeutsch“ mokiert.“

Oder, wie Jürgen Pütz es formuliert: „Regentropfen hätten sie toleriert, aber es kam ein Wolkenbruch.“

Diesem Wolkenbruch sind einige der schönsten, komischsten, tragischkomischen und gescheiterten Figuren zu verdanken, die man sich in der deutschsprachigen Literatur erlesen kann: Angefangen vom Autor selbst, der in mir das Bild eines melancholischen und zugleich witzigen Pierrots hervorruft, der vor Fantasie und Sehnsucht sprüht. Saludos a Don Vigo! Aber daneben auch die Beatrice mit ihren Inka-Wurzeln, der frustrierte ehemalige Kampfflieger Martenstein, der an einem Roman schreibt, in dem er eine Affenarmee aufmarschieren lässt, die anarchistischen Uruguayer, die regelmäßig mit ihren selbstgebastelten Bomben scheitern, die angebliche amerikanische Backpulver-Millionärin, von der sich Don Vigo adoptieren lassen will und der pornosüchtige jüdische Exilant Silberstein, um nur einige zu nennen: Was für ein köstliches Welttheater sich da entfaltet!

„Die Insel des zweiten Gesichts“: Wenn ich vor die Wahl gestellt würde, welches Buch ich auf einen Inselaufenthalt mitnehmen dürfte, dann wäre es ohne Zweifel dieses.


Bibliographische Angaben:

Albert Vigoleis Thelen
Die Insel des zweiten Gesichts
List Verlag, 2005
ISBN: 978-3548605142

Literarische Orte: Mann in Marzipan

Thomas Mann mal ganz zuckersüß: Als “hochgezüchteter Marzipan-Mann” aus Lübeck.

Mann_Marzipan2Zugegeben: Es gibt in Lübeck bedeutsamere Orte für Literaturliebhaber als das Obergeschoss des Cafés Niederegger. Das Buddenbrookhaus natürlich. Das Günter Grass-Haus beispielsweise. Oder man spaziert mit der entsprechenden App gemeinsam mit Thomas, Christian und Tony an alle jene Orte in der Hansestadt, die im ersten Roman von Thomas Mann eine bedeutende Rolle spielen.

Aber auch bei diesem Gang durch die Altstadt kommt man an dem Café, dessen Name durch eine Lübecker Spezialität weltberühmt wurde, kaum vorbei. Im 2. Stock wartet das Haus in seinem Marzipan-Museum mit einer besonderen Überraschung auf: Mann in Marzipan. Kaum zu glauben: Der strenge Thomas zuckersüß (aber beileibe nicht zum Anbeißen).

Mann_Marzipan3Er befindet sich dort als lebensgroße Marzipanfigur in ungewöhnlicher Gesellschaft, als Marzipan-Liebhaber residierend zwischen Wolfgang Joop und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Freilich, über die künstlerische Ausgestaltung lässt sich streiten. Und auch darüber, ob Thomans Mann tatsächlich ein so großer Liebhaber dieser (und anderer) Süßigkeiten war, wie es der Museumstext suggeriert. Denn Mann beschrieb beispielsweise die weihnachtliche Mandel-Crème der Buddenbrooks als “üppige Magenbelastung aus Mandeln, Zucker und Rosenwasser” und vermutete bei Marzipan, dass das Rezept “zu diesem Haremskonfekt über Venedig an irgendeinen alten Herrn Niederegger nach Lübeck gekommen ist”.

Für was das “Haremskonfekt” nicht alles herhalten musste unter Literaten! 1910 beschimpfte Theodor Lessing seinen Kollegen aus der Hansestadt als “hochgezüchteten Marzipan-Mann”. Thomas Mann soll gelassen reagiert haben.

Wer Lust hat, sich selbst an der Mandel-Crème zu versuchen: Marion von den Blogs “Schiefgelesen” und “Schiefgegessen” hat sich an dem Rezept versucht: Mandel-Crème aus Thomas Mann “Buddenbrooks”.

Erich Mühsam: Sich fügen heißt lügen

“Sich fügen heißt lügen.” Nach diesem Motto lebte der Schriftsteller und Anarchist Erich Mühsam, der von den Nationalsozialisten ermordet wurde.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Der Gefangene

Ich hab’s mein Lebtag nicht gelernt,
mich fremdem Zwang zu fügen.
Jetzt haben sie mich einkasernt,
von Heim und Weib und Werk entfernt.
Doch ob sie mich erschlügen:
Sich fügen heißt lügen!

Ich soll? Ich muß? – Doch will ich nicht
nach jener Herrn Vergnügen.
Ich tu nicht, was ein Fronvogt spricht.
Rebellen kennen bessre Pflicht,
als sich ins Joch zu fügen.
Sich fügen heißt lügen!

Der Staat, der mir die Freiheit nahm,
der folgt, mich zu betrügen,
mir in den Kerker ohne Scham.
Ich soll dem Paragraphenkram
mich noch in Fesseln fügen.
Sich fügen heißt lügen!

Stellt doch den Frevler an die Wand!
So kann’s euch wohl genügen.
Denn eher dorre meine Hand,
eh ich in Sklavenunverstand
der Geißel mich sollt fügen.
Sich fügen heißt lügen!

Doch bricht die Kette einst entzwei,
darf ich in vollen Zügen
die Sonne atmen – Tyrannei!
dann ruf ich’s in das Volk: Sei frei!
Verlern es, dich zu fügen!
Sich fügen heißt lügen!

Erich Mühsam, August 1919.

„Erich wie? Mühsam. Erich Mühsam. Tatsächlich wissen heute Viele mit dem Namen nichts mehr anzufangen. Auch in den Reihen der Buchhandlungen sucht man meist vergeblich nach ihm. Ein Symptom dafür, dass die kulturelle Erinnerungsarbeit außerhalb einiger kleiner linksintellektueller Kreise hier jahrzehntelang geschlafen hat. Oder – schlimmer Verdacht – gar schlafen wollte?“

So stand es 2003 in der „Zeit“ zu lesen, als zum 125. Geburtstag des Schriftstellers und Anarchisten Erich Mühsam ihm die Stadt München eine Ausstellung widmete. 2018 lenkt zumindest das Gedenkjahr an die 100 Jahre zurückliegende Revolution in Bayern und das kurze Experiment der Räterepublik wieder das Augenmerk auf diese Namen: Erich Mühsam, Gustav Landauer, Kurt Eisner. Eine Regentschaft der Poesie, schnell niedergeknüppelt.

Wer war dieser Mann, der zeitlebens den aufrechten Gang übte?
Biographisches in aller Kürze:
1878 in Berlin geboren, Kind jüdischer Eltern (1926 trat er aus dem Judentum aus), aufgewachsen in Lübeck. Dort wird der sprachlich begabte Schüler, der früh schon eigene Texte schreibt, 1896 vom Gymnasium wegen „sozialistischer Umtriebe“ verwiesen. Dem Wunsch des Vaters – der eine zeitlang die Lübecker Löwen-Apotheke, heute auch aufgrund ihrer Ausstattung ein Anziehungspunkt für Touristen, betrieb – beginnt Mühsam eine Lehre zum Apothekergehilfen. Das Verhältnis zum Vater bleibt schwierig, wie aus Mühsams Tagebüchern zu erlesen ist:

“Meines Vaters zweiundsiebzigster Geburtstag. Das Datum weckt in mir Gefühle, die fernab sind von kindlicher Freude und fröhlicher Mitfeier. Bei allen guten Gefühlen, die ich mir noch für meinen Vater erhalten habe, bei allem Respekt vor vielen Zügen seines Charakters, bei aller Sympathie, die wohl im Blut liegt, bei allem Mitleid an den mancherlei Nöten die er trägt, an denen selbst, zu denen ich Ursache bin – das Gefühl der Dankbarkeit, das doch im Empfinden des Kindes gegen die Eltern als das natürlichste gilt, ist mir völlig verloren gegangen. Wenn ich mich frage, wofür soll ich ihm danken? so fällt mir in der Tat nichts weiter ein außer der Tatsache, daß er mich gezeugt hat, und die Gedanken, die sich hieran anschließen, sind so bitter, daß sie mir Franz Mohrsche Betrachtungen nahelegen. Wahrhaftig! Daß er mich ernährt hat, erhebt ihn, der es ohne Not konnte, nicht über andre Menschen, nicht über arme Tagelöhner, die viele Kinder vor Hunger schützen und liebend betreuen. Daß er mir einige Schulbildung ermöglichte, solange bis ich selbst mich voll Ekel aus der Schule davonmachte, das ist kein Grund zu Dankgesängen. Tat er es doch gewiß nicht, um mich zu dem zu machen, was ich werden wollte und mußte, zu dem, was ich ward. Für seine Erziehung? Es steigt etwas wie Haß in mir auf, wenn ich daran zurückdenke, wenn ich mir die unsagbaren Prügel vergegenwärtige, mit denen alles, was an natürlicher Regung in mir war, herausgeprügelt werden sollte. Man kannte meine Neigung, Bücher zu lesen. Nie erhielt ich welche geschenkt, und als man dahinter kam, daß ich nachts heimlich aufstand, an den Bücherschrank der Eltern ging und mir die Werke Kleists, Goethes, Wielands, Jean Pauls herausholte, da verschloß man den Schrank und nahm mir die einzige Möglichkeit, meine tiefe Sehnsucht zu befriedigen. Geld bekam ich nie in die Hand.”

2. September 1910

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Gedenktafel für Erich Mühsam an einem Wohnblock in Oranienburg, Berliner Straße Ecke Erich-Mühsam-Straße. Bildquelle: By Jumbo1435 – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=14039283

Ab 1901 lebt er in Berlin, lernt dort den Schriftsteller Gustav Landauer (Ehemann von Hedwig Lachmann) kennen, zu dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbindet. Hier fällt die Entscheidung, dem bürgerlichen Beruf nicht nachzugehen, hier wird Erich Mühsam zum freischaffenden Schriftsteller.

“Ich wollte Schriftsteller werden, beichtete ich meiner Mutter, als ich glaubte, ich würde es in der Apothekerlehre nicht mehr aushalten. Tränen, Begütigungen, Aufregungen. Schließlich hieß es: gut, mach dein Gehilfenexamen, dann darfst du Schriftsteller werden. Die Mutter starb. Um den Vater in seinem Gram nicht zu kränken, gab ich meiner Schwester Margarete das heilige Versprechen, bis zum Examen würde ich mich von aller Literatur und allen Interessen, die mich bewegten fernhalten, bis zum Gehilfenexamen. Ich hielt das Versprechen. Was es mich gekostet hat, kann kein Mensch ermessen. Ich machte auch das Examen. ¾ Jahre darauf tat ich, was ich tun wollte und mußte. Ich ging nach Berlin als Gehilfe und sprang von dort heraus – in die Neue Gemeinschaft. Jetzt war ich Schriftsteller. Mein Vater in Verzweiflung. Er wollte mich aushungern.”

2. September 1910

Nach Wanderjahren, die ihn nach München, Wien, Paris, Zürich führen, kommt er 1909 nach München. 1915 heiratet er Kreszentia Elfinger, seine “Zensl”: Obwohl anderen Frauen nach wie vor nicht abgeneigt, wird sie seine innige Lebensgefährtin, die ihm auch während der Jahre der Haft Stütze und Hilfe ist. Eines seiner humorvollen Gedichte gibt vielleicht auch die Richtung dieser Beziehung vor:

So warb der Sportsmann Max sein Weib Marie:
“Willst du es mit mir wagen, meine Teure?
Begleite mich zur ewigen Kahnpartie:
Ich rudre dich durchs Leben, und du steure!”

1918 wird Erich Mühsam erstmals zu sechs Monate Festungshaft wegen politischer Betätigung verurteilt. Das hält ihn jedoch nicht davon ab, nach der Entlassung wieder politisch aktiv zu werden. 1919 wird er, an der Seite seines Freundes Gustav Landauer, einer der führenden Köpfe der Münchner Räterepublik. Nach deren Niederschlagung wird Mühsam zu 15 Jahre Festungshaft verurteilt, fünf Jahre davon, bis zur Amnestie, verbringt er im Gefängnis in Niederschönenfeld (das Gefängnis zwischen Augsburg und Donauwörth existiert heute noch).

Am 15. Oktober 1921 schreibt er in sein Tagebuch:
“Vorgestern waren 30 Monate herum, seit ich von Zenzls Seite aus dem Bett geholt wurde. 2½ Jahre in Haft! Eine nette Spanne Zeit, die mir vom Leben gestohlen wurde. Heut aber ist ein Jubiläum, das auch nicht stillschweigend übergangen werden soll: 1 Jahr Niederschönenfeld! Der Teufel hol’s. Ein Jahr Daumenschrauben, immer fester, immer enger.”

1924 kaum entlassen, nimmt Mühsam, der inzwischen nach Berlin zurückgekehrt ist, seine politischen Tätigkeiten sofort wieder auf. Unmittelbar nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wird Mühsam verhaftet, seine Bücher vom Regime verbannt und verbrannt. Knapp anderthalb Jahre „Schutzhaft“ übersteht Mühsam, ohne von seinen politischen Überzeugungen einen Deut abzurücken. In der Nacht vom 9. auf 10. Juli 1934 wird er von SS-Leuten im KZ Oranienburg ermordet. Zu Tode geprügelt und dann aufgehängt, erzählen Überlebende der KZ-Haft später.

Seine Worte brennen heute noch:

„Anarchie ist Freiheit von Zwang, Gewalt, Knechtung, Gesetz, Zentralisation, Staat. Die anarchische Gesellschaft setzt an deren Stelle: Freiwilligkeit, Verständigung, Vertrag, Konvention, Bündnis, Volk.

Aber die Menschen verlangen nach Herrschaft, weil sie in sich selbst keine Beherrschtheit haben. Sie küssen die Talare der Priester und die Stiefel der Fürsten, weil sie keine Selbstachtung haben und ihren Verehrungssinn nach außen produzieren müssen.“

Das Zitat entstammt einem Aufsatz zur Anarchie, erschienen im Kain-Kalender 1912 – die von Erich Mühsam herausgegebene Zeitschrift „Kain“ mit dem Untertitel „Zeitschrift für Menschlichkeit“ erschien von 1911 bis 1919, allerdings nicht in den Kriegsjahren.

Doch das politische Engagement ist nur eine Seite dieses Schriftstellers, der so viele Talente in sich trug – auch als Kabarettist und mit seinen Zeichnungen wußte er zu unterhalten.

Erinnernswert sind beispielsweise seine Schüttelreime:

„Man wollte sie zu zwanzig Dingen
in einem Haus in Danzig zwingen.“

Mühsam schüttelte neben (oder auch trotz) der zeitaufwändigen politischen Agitationsarbeit scheinbar mühelos noch zahlreiche humorvolle, satirische oder auch ganz liebevolle Texte aus dem Ärmel. Unter anderem schrieb er, beispielsweise gemeinsam mit Hanns Heinz Ewers, als “Onkel Franz” auch für Kinder. Eines seiner Kindergedichte ist „Der Faulpelz“:

Der Faulpelz

Otto, Otto, lerne!
Lerne dein Gedicht!
Tust du es nicht gerne,
Hilft’s dir dennoch nicht.

In der Schule morgen
Weißt du dir es Dank. –
Otto sitzt in Sorgen
Auf der Gartenbank.

Otto sitzt in Kummer
Unterm Lindenbaum;
Und er sinkt in Schlummer,
Weiß es selber kaum.

Fanny und Lenore
Treiben mit ihm Spaß,
Kitzeln ihn am Ohre
Mit dem Zittergras.

Otto’s Geist ist ferne,
Und er merkt es nicht; –
Otto, Otto, lerne!
Lerne dein Gedicht!

Eines seiner bekanntesten Gedichte ist von zeitloser Aktualität:

Der Revoluzzer

War ein mal ein Revoluzzer
im Zivilstand Lampenputzer;
ging im Revoluzzerschritt
mit den Revoluzzern mit.

Und er schrie: “Ich revolüzze!”
Und die Revoluzzermütze
schob er auf das linke Ohr,
kam sich höchst gefährlich vor.

Doch die Revoluzzer schritten
mitten in der Straßen Mitten,
wo er sonsten unverdrutzt
alle Gaslaternen putzt.

Sie vom Boden zu entfernen,
rupfte man die Gaslaternen
aus dem Straßenpflaster aus.
zwecks des Barrikadenbaus.

Aber unser Revoluzzer
schrie: “Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!

Wenn wir ihn’ das Licht ausdrehn,
kann kein Bürger nichts mehr sehen.
Laßt die Lampen stehn, ich bitt! –
Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!”

Doch die Revoluzzer lachten,
und die Gaslaternen krachten,
und der Lampenputzer schlich
fort und weinte bitterlich.

Dann ist er zu Haus geblieben
und hat dort ein Buch geschrieben:
nämlich, wie man revoluzzt
und dabei doch Lampen putzt.


Weitere Informationen:

Tagungen, eine Schriftenreihe, ein Erich-Mühsam-Preis, der Aufbau eines Archivs – dem hat sich die Erich-Mühsam-Gesellschaft verschrieben, die einen Platz im Lübecker Buddenbrookhaus fand (Mühsam und Thomas Mann waren am dortigen Katharineum Schulkameraden): www.erich-muehsam-gesellschaft.de

Seine umfangreichen Tagebücher, die einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Zeitgeschichte leisten, sind in den vergangenen Jahren beim Verbrecher Verlag erschienen. Online zu finden sind sie hier.

Bild zum Download: Stolperstein für Erich Mühsam in Lübeck


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Literarische Orte: Thomas Mann in Bayern

Die längste Zeit seines Lebens verbrachte der Hanseat Thomas Mann in Bayern. Ein kleiner Spaziergang auf seinen Spuren durch die oberbayerische Landschaft.

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Hinweistafel am Mann-Haus in Bad Tölz. Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Manche Schriftsteller verortet man unbewusst in bestimmte Landschaften. Oder anders ausgedrückt: Ihr Werk ist geprägt von der Landschaft, in der sie lebten, in der sie arbeiteten. Man denke nur an Theodor Storm oder an Fontane.

Aber bei anderen bringe ich dagegen Lebensorte, Temperament und dessen literarischen Ausdruck nur schwer zusammen. Thomas Mann in Bayern? Obwohl der Hanseat 30 Jahre dort, also die längste Zeit seines Lebens, seinen Lebensmittelpunkt hatte, so verbinde ich mit seinem Namen mehr oder wenig sofort Lübecker Backsteingebäude oder ein Hiddenseer Reetdachhaus.

Umzug von Lübeck nach München

Ich selbst kann mir Thomas Mann nur schwer als entspannten Landmann, Wanderer in Nagelschuhen, durch die Voralpen streifend und an einem der bayerischen Seen entspannend, vorstellen. Und doch gab es das auch. Nach dem Tod von Thomas Manns Vater 1891 zog seine Mutter – die in Brasilien aufwuchs und Lübeck immer als zu eng empfand – zwei Jahre später mit den jüngeren Geschwistern von Thomas Mann nach München. Thomas folgt 1894 nach und zog in die Stadt, die ihn ebenso prägte wie Lübeck, obwohl er wohl im Herzen, sicher aber im Habitus immer ein Hanseat blieb.

Literarische Spuren von Bayern finden sich in seinem Werk zuhauf: Schon in seinem Debüt „Buddenbrooks“ wird der Norden, sprich die Hansestadt Lübeck, mit München konterkariert. Man denke allein an den Hopfenhändler Permaneder: Die wenig schmeichelhafte Überspitzung des Typs des gemütlichen, gutmütigen, aber auch bauernschlauen Münchners. Dass diese Figur mit so spitzer Feder gezeichnet ist, lag sicher auch daran, dass Thomas Mann zu jener Zeit auch für den „Simplicissimus“ arbeitete.

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Skulptur von Quirin Roth in Gmund am Tegernsee. Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Hauptsächlicher Wohnort in Bayern ist und bleibt für Thomas Mann München: Hier wird er, nach einem kurzen beruflichen Abstecher in eine Versicherungsanstalt, zum freien Künstler, hier lernt er Katia Pringsheim kennen, hier baut er, dem ein eigenes Haus wichtig ist, seine Villa im noblen Viertel Bogenhausen. Damals freilich noch nicht ganz so nobel. Eine Ahnung davon erhält man in „Herr und Hund“ (1918). In dieser, einer seiner längsten Erzählungen, schildert Mann so ausführlich und akribisch wie selten anhand der Spaziergänge mit seinem Lieblingshund „Bauschan“ die Umgebung, in der er lebt:

„Und doch war die Sache schon so weit gediehen, daß diese Straßen ohne Anwohner ihre ordnungsgemäßen Namen haben, so gut wie irgendeine im Weichbilde der Stadt oder außerhalb seiner; das aber wüßte ich gern, welcher Träumer und sinnig rückblickende Schöngeist von Spekulant sie ihnen zuerteilt haben mag. Da ist eine Gellert-, eine Opitz-, eine Fleming-, eine Bürger-Straße, und sogar eine Adalbert-Stifter-Straße ist da, auf der ich mich mit besonders sympathischer Andacht in meinen Nagelschuhen ergehe (…)“

Die Adalbert-Stifter-Straße in München-Bogenhausen ist immer noch da, die 1913 erbaute Villa der Manns jedoch gibt es nur noch in einer Rekonstruktion: Das Gebäude war bei einem Bombenangriff zerstört worden, Thomas Mann ließ es 1952 vollends abreißen und verkaufte das Grundstück. 2001 wurde es nach den Original-Bauplänen wieder erbaut, aber ist seither als Luxusimmobilie in Privatbesitz.

ThomasMann (2)
Das Mann-Haus in Bad Tölz.

Ein anderes Haus, das sich Mann in Bayern bauen ließ, gibt es jedoch noch im Originalzustand: Die „kleine“ Villa in Bad Tölz, für die schnell wachsende Familie zunächst ein wunderbares Domizil in der Sommerzeit, dann wurde es aber von Kind zu Kind enger. Zumal hier auch „Bauschan“ als weiteres Familienmitglied hinzukam:

„Ein ansprechend gedrungenes, schwarzäugiges Fräulein das, unterstützt von einer kräftig heranwachsenden Tochter in der Nähe von Tölz eine Bergwirtschaft betreibt, vermittelte uns die Bekanntschaft mit Bauschan und seine Erwerbung.“

Denkmal am Tegernsee

Dem Hund aus Bad Tölz setzt der Schriftsteller in „Herr und Hund“ ein Denkmal. Ein Denkmal für Herr und Hund ist dagegen nicht in Bad Tölz zu finden, sondern in Gmund an Tegernsee. Seit 2001 steht hier die Skulptur von Quirin Roth und erinnert so daran, dass der Tegernsee, die Badewanne der Münchner, früher schon ein beliebtes Ausflugsziel war – weniger für die Schickeria, sondern für die Münchner Bohème rund um die Mannschaft des „Simplicissimus“. Thomas Mann lernte die Gegend bereits als Kind kennen, als seine Eltern in Wildbad Kreuth zur Sommerfrische waren. Auch später zog es ihn immer wieder in die Region. Die beiden „Ludwigs“ – Ganghofer und Thoma – die vor ihrem Ruck ins Deutschnationale auch für die Satirezeitung schrieben, siedelten hier an, in seinem Haus in Tegernsee frönte der Karikaturist Olaf Gulbransson der Freikörperkultur und schwang gerne auch nackt die Sense, um das Gras zu mähen.

Zurück nach Bad Tölz: Ein Thomas Mann-Museum gibt es hier leider nicht (wer im Ort ist, kann das „Bulle von Tölz-Museum“ besuchen, ob es sich lohnt, vermag ich nicht zu sagen), auch kann das Landhaus, das sich Mann 1909 für seine junge Familie bauen ließ und das sie bis 1917 nutzten, nicht besichtigt werden. Dennoch lohnt sich ein Blick auf das Grundstück, wenn man sowohl die privaten Notizen von Thomas Mann aus jener Zeit als auch die Erinnerungen der älteren Kinder an das Haus, an Land und Leute kennt. Erika Mann, die Rastlose, kam in einigen ihrer Texten auf diese Landschaft ihrer Kindheit zurück. In einer 1930 entstandenen „Liebeserklärung an Bayern“ schreibt sie:

„Wenn irgendwo ein Wiesenweg, eine Bergkette, eine Viehweide uns besonders zu Herzen sprach, erkannten wir bald mit dem Heimatlichen die Ähnlichkeit, – fast wie bei Tölz (…).“

Und Golo Mann sagt in „Erinnerungen und Gedanken“:

„Es dauerte dann etwa fünfunddreißig Jahre, bis ich Tölz wieder sah. Anfang der fünfziger Jahre war das meiste noch wie eh und je, die vier Kastanien und „Hüttchen“, letzteres renoviert, das Haus nach außen hin unverändert. Wie sehr seine Verzierungen „Jugendstil“ waren, bemerkte ich erst jetzt.“

Rückzugsort Bad Tölz

Die Villa, seit 1926 im Besitz eines Ordens, dient inzwischen als Erholungsheim für Ordensschwestern und ist öffentlich leider nicht mehr zugänglich. Bad Tölz bemüht sich anderweitig, um an den berühmten Bewohner, wenn dieser auch nicht zu lange hier lebte, zu erinnern. So wird wohl in diesem Oktober noch in der Tölzer Stadtbibliothek ein Thomas-Mann-Zimmer eröffnet – eingerichtet mit Mobiliar und Gegenstand aus dem „Mausloch“. So bezeichnete Mann ein Haus, das der Kunsthändler Georg Martin Richter in der bayerischen Gemeinde Feldafing gekauft hatte. Thomas Mann beteiligte sich mit 10.000 Mark an dem Kauf und konnte sich, wenn es ihm in München zu trubelig wurde, hierher zum Schreiben zurückziehen. Zwischen 1919 und 1923 war er mehrfach dort, dabei entstanden wesentliche Teile des Zauberbergs.

Erwähnt werden müssen, wenn es um Thomas Mann und Bayern geht, zwei Institutionen: Zum einen die Monacensia in München mit ihrer umfassenden Familie-Mann-Bibliothek sowie der neu erarbeiteten Ausstellung „Literarisches München zur Zeit von Thomas Mann“. Und der Literaturwissenschaftler Dirk Heißerer: Keiner kennt so sehr die Spuren großer Schriftsteller in Bayern wie er, insbesondere aber diese von Thomas Mann. Seit Jahren ist er Vorsitzender des Thomas-Mann-Forums München und gibt die Thomas-Mann-Schriftenreihe heraus. In dieser ist auch der Band „Nicht auf der Rasenkante gehen!“ von Daniel Lang, eine Arbeit über die Manns in Bad Tölz und die Geschichte des Hauses, erschienen.

Weitere Informationen:

Daniel Lang, “Nicht auf der Rasenkante gehen!”: Link zum Buch

Literarische Spaziergänge mit Dirk Heißerer: https://www.lit-spaz.de/