Jonathan Coe: Middle England

„Adieu to old England, adieu“: Mit feiner Ironie entfaltet Jonathan Coe ein Panorama der britischen Gesellschaft, die sich in Leavers und Remainers spaltet.

brexit-4175466_1280
Bild von Johannes Plenio auf Pixabay

EIN GASTBEITRAG VON VERONIKA ECKL

Am Abend vor dem endgültigen Austritt Großbritanniens aus der EU rief mich mein italienischer Freund Paolo an, der als Professor an einer mittelgroßen englischen Universität in einer mittelgroßen englischen Stadt unterrichtet. Paolo verkündete mir, er werde nun ins Pub gehen und sich betrinken, um das Ereignis gebührend zu betrauern. Die Stimmung an der Uni sei schlecht, ein feiner Riss ziehe sich schon seit längerem durchs akademische Milieu: Die Briten hier, die Ausländer dort. Che brutto, hässlich sei das. Naja, dachte ich, schon klar, dass ein Italiener und glühender Europäer das in der Fremde so empfinden muss. Wir lamentierten ein bisschen über die Borniertheit der Brexit-Befürworter und diese Niederlage für Europa, dann machte sich Paolo auf ins Pub und ich dachte erst wieder an seinen Kummer, als ich den im Februar auf Deutsch erschienenen jüngsten Roman von Jonathan Coe aufschlug, Middle England. Das fast 500 Seiten starke Opus ist ein literarisches Psychogramm der Nation, in dem der Autor beschreibt, wie der Brexit das Land spaltet, und zwar bis in Familien- und Liebesbeziehungen hinein. Liest man Coe, dann hatte mein Freund Paolo mit seinen Schilderungen nicht übertrieben.

Zöglinge einer elitären Privatschule in Birmingham

Fans von Jonathan Coe sind die Protagonisten aus Middle England nicht unbekannt, denn sie stammen aus den beiden Vorgängerromanen The Rotter’s Club und The Closed Circle. Aus Benjamin, dem jungen Mann von einst, ist ein zu Beginn des Romans noch erfolgloser Schriftsteller geworden, der in einer idyllisch gelegenen alten Mühle am Fluss Weltflucht betreibt, Musik hört und an seinem Lebenswerk arbeitet, einem viel zu langen, quasi unpublizierbaren Werk über die Liebe seines Lebens. Veröffentlicht wird es schließlich von seinem alten Freund Philip, der einen kleinen, eher unbedeutenden Verlag betreibt. Die Männer verbindet, dass sie dieselbe elitäre Privatschule in Birmingham besucht haben – und es ist von einer herausragenden, feinsinnigen Komik, wie Coe die beiden dieses unaufdringliche, aber doch vorhandene Elitebewusstsein an einem sehr britischen Ort pflegen lässt: dem Gartencenter Woodlands, das, so wird betont, sogar ein eigenes Hinweisschild an der Autobahn hat. Coe beschreibt es über Seiten hinweg als “ein mächtiges Imperium, dessen Untertanen stundenlang durch verschiedene Bezirke und Provinzen wandern konnten“, also als eine Art British Empire im Miniaturformat, in dem eine dezente Nostalgie gepflegt wird.

Die englische Seele haust in den Midlands

Der Dritte im Bund der Schulfreunde ist Doug, ein linksliberaler Journalist, der inzwischen aber dank der Heirat mit einer reichen Erbin im eleganten Londoner Stadtteil Chelsea lebt. Dort ist dieser Roman über die englische Seele nun eben nicht angesiedelt, sondern in den Midlands, in der Gegend also, in der früher Kohle abgebaut wurde und in der heute noch die englische Industrie – oder das, was von ihr übrig blieb – ansässig ist. Es ist ein Landstrich, auf den Coes Londoner Figuren ein wenig naserümpfend herabblicken – zu kalt, zu grau, zu provinziell. Und hier tut er sich schon auf, der Riss, denn während Benjamins Nichte Sophie, eine junge, ehrgeizige Kunsthistorikerin, es genießt, in London auf der Straße lauter verschiedene Sprachen zu hören, ist ihre unleidliche Schwiegermutter Helena im rauhen Norden überzeugt, dass Ausländer die Wurzel allen Übels sind – was sie nicht hindert, eine litauische Haushaltshilfe zu beschäftigen. Sophies schwuler Arbeitskollege Sohan aus Sri Lanka jammert, weil er seines frisch angetrauten Ehemanns wegen von London nach Birmingham umziehen muss – Benjamins Vater Colin steht indes krank und fassungslos vor den Trümmern dessen, was einmal sein Leben und seine Heimat war, vor einem stillgelegten Automobilwerk.

Ein Panorama der britischen Gesellschaft

So entfaltet Coe ein Panorama der britischen Gesellschaft, die sich in Leavers und Remainers spaltet; am nächsten dran ist man als Leser wohl an Sophie, die im Universitätsmilieu aufsteigen will und aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen den Fahrlehrer Ian heiratet. Meisterhaft beschreibt Coe, wie die unterschiedlichen politischen Einstellungen der beiden ihre Beziehung schleichend vergiften: Ian verbittert, weil ihm eine Kollegin mit Migrationshintergrund bei der Beförderung vorgezogen wird, und leidet daran, sich von Sophie nicht bestärkt zu fühlen. Die wiederum kommt ins Straucheln, als ihr eine Studentin vorwirft, eine Kommilitonin diffamiert zu haben, die kurz vor einer Geschlechtsumwandlung steht – und das ihr, die sich doch mehr als alle anderen um political correctness bemüht!

Was die Protagonisten da im Kleinen verhandeln, das sind Themen, die keinesfalls typisch britisch sind. Wir kennen sie in Deutschland ebenso: Diese Verunsicherung der Mittelschicht, eine mehr oder weniger latente Fremdenfeindlichkeit, den zunehmenden Populismus und das Ringen um politische Korrektheit, das in Absurdität münden kann. Wie Coe diese Themen in Szene setzt, das ist allerdings sehr britisch, sehr scharfsinnig, sehr humorvoll: Wenn sich etwa Sophie und Ian die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in London im Fernsehen ansehen, und sie, die an Sport eigentlich desinteressierte Intellektuelle, von der feinsinnigen Selbstdarstellung der Nation fasziniert ist, während ihm das Spektakel zunehmend auf die Nerven geht – dann weiß der Leser bereits, dass diese Ehe eine schwierige werden wird.

Adieu to old England, adieu…

Witz und Melancholie durchziehen den Roman gleichermaßen, doch Coe macht keinen Hehl daraus, auf welcher Seite er steht. Am Ende, als klar ist, dass es zum Brexit kommen wird, lassen sich Benjamin und seine Schwester Lois, die nach Jahrzehnten noch traumatisiert ist von den Bombenanschlägen in Birmingham, in Frankreich nieder und eröffnen ein Bed and Breakfast in einer umgebauten Mühle. Emigranten sind sie, Heimatvertriebene im Geiste, auch wenn sie versuchen, sich auf dem Kontinent ihr kleines Paralleluniversum zu schaffen. Fast möchte man weinen, wenn Benjamin dort in nächtlicher Nostalgie einen Song der englischen Folksängerin Shirley Collins hört: „Adieu to old England, adieu…“

Es bleibt nur noch, sich zu betrinken.

Informationen zum Buch:

Jonathan Coe
Middle England
Aus dem Englischen von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs
Folio Verlag Wien und Bozen, 2020
Hardcover, 480 Seiten, 25,00 Euro
ISBN 978-3-85256-801-0

Über die Autorin dieses Beitrags:

Veronika Eckl studierte Romanistik und Germanistik. Es folgten journalistische Lehr- und Wanderjahre bei der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Katholischen Nachrichten-Agentur« und beim »Bayerischen Rundfunk«. Nach ihrer Redakteursausbildung ging sie nach Rom, wo sie längere Zeit als Journalistin arbeitete und das Latium für sich entdeckte. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin für Deutsch, Französisch und Italienisch.

H. G. Wells: Die Zeitmaschine

Er ist der literarische Vater der modernen Sci-Fi-Autoren: H. G. Wells. „Die Zeitmaschine“ (1895) gilt als das Pionierwerk der Science-Fiction-Literatur.

time-1842678_1920
Bild von PIRO4D auf Pixabay

“Was war eigentlich diese Zeitreiserei? Ein Mann konnte sich doch nicht mit Staub bedecken, in dem er sich in einem Paradoxon herumwälzte, oder?”

H.G. Wells, “Die Zeitmaschine”, 1895


Er ist der literarische Vater von Asimov, Orwell und Huxley, Großpapa sozusagen aller modernen Sci-Fi-Autoren, nebst Jules Verne derjenige, der diese Literatur erfand: Herbert George Wells. „Die Zeitmaschine“, „Die Insel des Dr. Moreau“ und „Krieg der Welten“ zählen zu seinen bekanntesten Werken. Romane, die, obwohl vor mehr als einem Jahrhundert geschrieben, immer noch eigenartig modern wirken. Und vor allem düster – wenn H.G. Wells in die Zukunft der Menschheit sah, dann sah er schwarz.

Wells wurde 1866 in Bromley geboren. Dass er später Weltruhm und Wohlstand als Autor erreichen sollte, war ihm nicht in die Wiege gelegt – er kam aus sogenannten „kleinen“ Verhältnissen, die Eltern betrieben ein kleines Geschäft, das gerade zum Auskommen reichte. Dank eines Stipendiums konnte er jedoch studieren, unter anderem Geschichte, Soziologie und Biologie. Dabei lernte er die Ideen Darwins kennen, die ihn nachhaltig beeinflussten.

Ein pessimistischer Humanist

In allen seinen Romanen – bis heute schätzen die Briten auch Wells realistische, oftmals gesellschaftskritische Werke, die im deutschsprachigen Raum eher unbekannt sind – sind seine akademischen Grundlagenkenntnisse spürbar. Und sein zentrales Anliegen: Die Menschheit zu verbessern. Wells, eigentlich ein pessimistischer Humanist, verzweifelte an den Geschehnissen der Zeitgeschichte, insbesondere der 2. Weltkrieg trieb ihn in die Depression. Er starb am 13. August 1946 in London.

Pionier der Science-Fiction-Literatur

„Die Zeitmaschine“ gilt als das Pionierwerk der Science-Fiction-Literatur. Ausgangspunkt ist ein typisch britisches Setting: Einige Freunde sitzen am Kamin, diskutieren Weltangelegenheiten. Der Gastgeber sinniert über die Zeit. Sie sie eine weitere Dimension. Schließlich führt er seinen Freunden eine von ihm entwickelte Zeitmaschine vor – und verschwindet vor ihren Augen in das Jahr 802701.

Zunächst erscheint dort alles beinahe paradiesisch. Der Forscher trifft tagsüber auf die kindlich wirkenden Eloi, Nachfahren der Menschen. Doch wo Licht ist, ist auch Schatten: Nachts kommen die Morlocks, die die Eloi wie Schlachtvieh züchten. Der Forscher entkommt dieser Welt mit knapper Not, um dann in keiner besseren aller Zeiten zu landen – die nächste Zeitreise führt ihn in eine öde, unbewohnbare Welt, die knapp vor dem Kollaps durch Überhitzung steht. Es ist, als habe Wells den Klimawandel vorausgesehen – und das bereits 1895. Nach seiner letzten Reise in die Zeit bleibt der Forschende schließlich verschollen.

Dystopie und politische Satire

Mit seiner Anklage von menschlicher Unterdrückung in Gesellschaften, die auf einem Klassensystem gründen, zielte Wells zwar auf eine Kritik der Zwei-Klassen-Gesellschaft ab, die sich in Zeiten der Industrialisierung herausgebildet hatte. Doch der Roman ist, betrachtet man ihn als Mahnung, zeitlos, eine politische Parabel, die ihre Gültigkeit behält. Als Genreroman mag dieses Buch vielleicht in den Augen jüngerer Leser technisch überholt wirken – als Dystopie und politische Satire dagegen funktioniert er immer noch. Leider.


Informationen zum Buch:

H.G.Wells
Die Zeitmaschine
Übersetzt von Lutz-W. Wolff
dtv Verlag, 2017
ISBN: 978-3-423-14546-6

 

E. M. Forster: Die Maschine steht still

Diese Dystopie liest sich so überzeugend und ist verblüffend aktuell, als habe Forster schon ein paar Jahre Facebook-Mitgliedschaft hinter sich gebracht.

hacker-4031973_1920
Bild von S. Hermann & F. Richter auf Pixabay

„Es gab einen Knopf für Kaltbäder. Es gab einen Knopf für Literatur. Und natürlich gab es jene Knöpfe, die es ihr ermöglichten, mit ihren Freunden zu kommunizieren. Als Nächstes betätigte sie wieder den Isolationsknopf, und die Anfragen der letzten drei Minuten stürzten auf sie ein … Wie ist das Essen? Kannst du es empfehlen? Hast du Ideen gehabt in letzter Zeit?“

E.M. Forster, „Die Maschine steht still“

Den britischen Schriftsteller Edward Morgan Forster (1879 bis 1970) hatte ich für mich als britischen Nachfolger von Henry James und Proust eingeordnet: Ein Meister im Abbilden gesellschaftlicher Verhältnisse, der ganz fein nachzuzeichnen weiß, wie die innere Erodierung von Menschen, die in Konventionen erstarrt sind, voranschreitet, wenn sie in neue Verhältnisse geworfen werden. Ein feiner Beobachter des britischen Kolonialreichs und dessen Klassenverhältnisse, im Fokus dabei die Mittel- und Oberschicht. Einer, der ebenso wie Henry James, die Innenwahrnehmung seiner Figuren und die Geschehnisse der Außenwelt schreibend meisterhaft verband.

Seine großen Romane „Zimmer mit Aussicht“, „Wiedersehen in Howards End“ und „Auf der Suche nach Indien“ eigneten sich zudem als Vorlagen für ganz großes Kino. Unter Verschluss hielt er lange das Werk „Maurice“, in dem er, literarisch verpackt, auch über seine eigene Homosexualität schreibt.

1909 geschrieben, als hätte Forster heute gelebt

Als bei Hoffmann und Campe eine dystopische Erzählung Forsters angekündigt wurde, war ich zunächst neugierig – und skeptisch. Das Genre schien mir zu dem, was ich selbst von Forster kannte, wenig zu passen. Doch „Die Maschine steht still“ liest sich so überzeugend und auch verblüffend erschreckend, als habe Forster beim Schreiben schon ein paar Jahre Facebook-Mitgliedschaft hinter sich gebracht.

1909 schrieb Forster diesen Text, von dem er nicht ahnen konnte, dass er bereits ein Jahrhundert später schon Wirklichkeit werden würde. Die Geschichte, sie erinnert an Menschen, die wir vielleicht aus unserer eigenen Umgebung kennen – Menschen, die mehr soziale Kontakte in der virtuellen denn in der realen Welt pflegen, die kaum mehr aus dem Haus gehen, Aktivitäten scheuen und deren bester Freund ein Laptop mit WLAN-Zugang ist. Und wenn man beim Lesen sich selbstkritisch prüft, so stellt man fest – ein wenig von Vashti trägt man selbst in sich. Wie oft lasse ich mich aus Bequemlichkeit von den „sozialen Medien“, die im Grunde antisozial sind, zerstreuen, lasse mich auf sinnlose Diskussionen mit Menschen, die ich nicht kenne, ein oder lese irgendwelche Nachrichten, die mich ansonsten nicht die Bohne interessieren würden? Aber der Vorzug ist: Facebook, Twitter und Co. sind so leicht zu haben – während alles andere Eigenaktivität und Energie voraussetzt.

Die Maschine erfüllt alle Grundbedürfnisse

Etwas, was die Hauptfigur in Forsters Erzählung und mit ihr der Großteil der Menschheit auch, kaum mehr aufzubringen vermag: Vashti hat seit Menschengedenken ihre Wohnung nicht mehr verlassen, sie lebt wie andere in Waben (Bienenvölkern gleich, die jedoch nicht einmal mehr die Freiheit des Fliegens genießen können) unter der Erde, im Glauben, alles über der Erdoberfläche sei vernichtet und unbewohnbar. Doch selbst, wenn nicht: Menschen wie Vashti zieht es schon gar nicht mehr hinaus in die Welt, sozialisiert durch die Maschine, die alle Bedürfnisse der Grundversorgung erfüllt. Und für Sehnsüchte und Träume, die darüber hinausgehen, sind die Menschen bereits abgestumpft. Fühlt man einmal den Wunsch nach Kontakt, dann stellt man Bildtelefonate her – doch die Beziehungen bleiben im Unverbindlichen, verursachen weder Freud noch Leid, sind beliebig und austauschbar:

„Sie hatte Abertausend Bekannte. In gewissen Bereichen konnte die menschliche Kommunikation erhebliche Fortschritte verzeichnen.“

Selbst als ihr Sohn Kuno ihr von einer anderen möglichen Welt erzählt, in der es Licht und Gras gibt, selbst als er sie bittet, einmal ihre Wabe zu verlassen und ihn zu besuchen, zögert Vashti, überlegt einen Kontaktabbruch. Schließlich aber wagt sie sich dennoch an die Reise – just in dem Moment, als die Maschine, die einer Gottheit gleicht, stillsteht und die Welt auf eine Katastrophe zusteuert: Denn ohne die Maschine, die alles lenkt und regelt, sind die Menschen hilflos und überfordert…

Frühe Alptraum-Vision unserer Gegenwart

Auf 89 Seiten wird in der Übersetzung von Gregor Runge eine Alptraum-Vision von einer Welt beschrieben, von der wir nicht allzu weit entfernt sind: Friedenspreisträger Jaron Lanier wird auf der Rückseite des in Leinen gebundenen Bändchens damit zitiert, dies sei „die früheste und wahrscheinlich auch heute noch treffendste Beschreibung des Internets“.

Johannes Boie stellte die Erzählung in der Süddeutsche Zeitung in einer Rezension (“Als Facebook in Leinen gebunden war”) vor, die mit ihren drei Spalten Länge ungewöhnlich ist für eine Vorlage von so schmalem Format. Doch wenn auch Forsters Erzählung nur wenige Seiten hat – diese haben es eben in sich:

„Die Maschine steht still“ zu lesen, bedeutet, im Schnitt alle drei Seiten verblüfft zu sein und zu grübeln über den sanften Horror, der dem eigenen Alltag viel näher kommt, als einem angenehm wäre. Denn da folgen Sätze um Sätze, die, heute gelesen, lakonische, entlarvenden Anmerkungen zum Zustand der Welt im Facebook-Zeitalter sind.“

Das stimmt. Und man fragt sich beim Lesen, warum die Menschen – die doch, wie Kuno ausruft, das Maß aller Dinge sind, und nicht eine Maschine – sich doch so unablässig und freiwillig unter die Herrschaft solch einer Maschine begeben. Ein dystopischer Text, der nachdenklich macht: Wie schwer würde es mir selbst fallen, die „sozialen Medien“ zu kappen, außerhalb des Blogs offline zu gehen, nicht mehr regelmäßig nach neuen Nachrichten und Informationen zu schauen?

Sapere aude: Das ist der Leitspruch der Aufklärung, die Aufforderung Kants, den Mut zu haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Wie Forsters Erzählung auch zeigt – ausgerechnet im digitalen Informationszeitalter klärt sich immer weniger auf, wird die Welt immer verwirrender und der Mensch zugleich geneigter, seinen Verstand an die Maschine abzugeben.

Informationen zum Buch:

Edward M. Forster
Die Maschine steht still
Übersetzt von Gregor Runge
Hoffmann und Campe, 2016
ISBN: 978-3-455-40571-2

#MeinKlassiker (6): Buchpost auf der Sturmhöhe

Die wilde Geschichte von zwei Familien, die im einsamen Yorkshire wie Naturgewalten aufeinandertreffen: Der Klassiker von Literaturbloggerin Anna.

bayreuth-4248250_1280
Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Bei Anna auf dem Blog Buchpost sind Klassiker Programm – mit viel Hintergrundinformationen gespickt, mit viel Fakten zu den Büchern und den Autoren widmet sie häufig ihre Aufmerksamkeit Büchern aus der Vergangenheit. Umso mehr freute es mich, dass sie auch hier über einen Klassiker schreibt – über ihren Klassiker.

Anna über “Sturmhöhe” von Emily Brontë:

Da hat Birgit mal wieder eine Idee gehabt und wir dürfen ran an die Arbeit. Diesmal wollte sie wissen, welches denn so unsere ganz persönlichen Klassiker seien.

Eine Frage, bei der man natürlich ins Grübeln kommen könnte. Das geht schon bei der Definition los, was ein Klassiker ist. Und welches von all den Büchern, die ich schon gelesen habe, soll nun hier den Ehrentitel bekommen? Und doch, Birgits Anfrage erreichte mich gerade, als ich nach ca. 20 Jahren ein ganz bestimmtes Buch las, wiederlas. Ich musste also gar nicht lange überlegen. Mein Klassiker ist Wuthering Heights von Emily Brontë, einigen vielleicht eher unter dem deutschen Titel Sturmhöhe bekannt.

Die passende Kulisse: Das einsame, wilde Yorkshire

Die wilde Geschichte von den zwei unterschiedlichen Familien, die irgendwo im einsamen und rauhen Yorkshire wie Naturgewalten aufeinandertreffen, wurde erstmals 1847 veröffentlicht. Da wären zum einen die Earnshaws samt Findelkind Heathcliff, eine Familie, die mit dysfunktional noch sehr freundlich umschrieben wäre, und  zum anderen die gesitteten Lintons. Es kommt zu unglückseligen Eheschließungen, Geburten, Liebesleid, Rache und Tod und schließlich zu einer milden Ruhe nach all dem stürmischen Gebaren.

Hab’s schon als Teenager gelesen, ohne die geringste Ahnung, dass das ein echter Klassiker ist. Später die Schwarzweiß-Verfilmung gesehen. Weitere Verfilmungen gingen spurlos an mir vorbei. Das Buch reicht mir völlig. Im Studium habe ich mich monatelang mit dem Buch beschäftigt und es aus allen möglichen und unmöglichen Richtungen analysiert, interpretiert und dabei fast auswendig gelernt. Doch das Werk hat all dem standgehalten und begeistert mich heute noch genauso wie beim allerersten Mal.

Staunende Bewunderung

Es bleibt bewunderndes Staunen oder staunende Bewunderung angesichts eines Werkes, bei dem ich bei jedem Lesen etwas Neues entdecke, man wird mit diesem Buch einfach nicht fertig. Da gibt es z. B. eine große psychologische Feinheit, mit der die Autorin zeigt, welche Verheerungen eine miese und brutale Erziehung anrichten kann.

Wie in einem Spiegellabyrinth muss man überlegen, wem man glauben kann. Die Erzählerfiguren, der Städter Lockwood und die Haushälterin Nelly Dean, die oft genug selbst ihre Finger im Spiel hatte, wollen uns von Anfang an ihre Sicht der Dinge unterjubeln.

Und erst die Hauptfiguren: Catherine, ihr Bruder Hindley, Heathcliff, Edgar und Isabelle Linton. Hier tobt in zwei Häusern ein archaischer Sturm, scheinbar weit entfernt vom nächsten Ort, die Handlung drängt vorwärts; am Ende bin ich fast ein wenig erschöpft und brauche ein paar Tage, bis ich mich wieder auf ein neues Buch einlassen kann. Und dann die Frage nach der Schuld, alle tragen ihren Teil, gewollt oder ungewollt, zum Chaos, zum Herzeleid bei.

Und überhaupt, was ist eigentlich Liebe? Geht es wirklich um Liebe oder ist es eine schier unfassbare Selbsttäuschung, wenn Catherine beteuert:

„If all else perished, and he [Heathcliff] remained, I should still continue to be; and if all else remained, and he were annihilated, the Universe would turn to a mighty stranger. I should not seem a part of it. (…) my love for Heathcliff resembles the eternal rocks beneath – a source of little visible delight, but necessary. Nelly, I am Heathcliff – he’s always, always in my mind – not as a pleasure, any more than I am always a pleasure to myself – but, as my own being….“

Elena Ferrante beschreibt, was ein gutes Buch ihrer Meinung nach leistet. Nach dieser Definition ist Wuthering Heights ein phänomenal gutes Buch.

„Good books are stunning charges of vital energy. They have no need of fathers, mothers, godfathers and godmothers. They are a happy event within the tradition and the community that guards the tradition. They express a force capable of expanding autonomously in space and time.“

Elena Ferrante in einem Interview mit Sheila Heti, zitiert nach: ‘Be Silent, Recover My Strength, Start Again’: In Conversation with Elena Ferrante
Und jetzt wäre doch eine gute Gelegenheit, mal wieder „Wuthering Heights“ von Kate Bush zu hören.

Anna
https://buchpost.wordpress.com/


Der Musikwunsch wird gern erfüllt:

#MeinKlassiker (1): Petra und ihr zielstrebiger, rachsüchtiger Hamlet

Petra Gust-Kazakos musste als ausgesprochene Shakespeare-Anhängerin nicht lange überlegen: Ihr Klassiker ist natürlich der Hamlet.

augsburg-4554188_1920
Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Dass bei Petra Gust-Kazakos die Klassiker nie zu kurz kamen, stellte sie regelmäßig auf Philea`s Blog regelmäßig unter Beweis. Insbesondere hatte sie ein Herz für Reisende und britische Snobs – da passte ihr größter klassischer Held, den sie in der Reihe #MeinKlassiker vorstellte, gut ins Bild. Petra verlor im April 2020 den Kampf gegen den Krebs. Dieser Beitrag ist auch eine liebevolle Erinnerung an diese kluge, warmherzige Frau.

Petra Gust-Kazakos über ihren Klassiker:

Ich mache jetzt nicht das Fass auf, was ich unter einem Klassiker verstehe oder was man darunter verstehen sollte, ich gehe davon aus, dass das geneigte Lesepublikum von Birgit da selbst gewisse Kriterien zu im Sinn hat. Mein Klassiker ist natürlich nur ein Klassiker von vielen, aber von Shakespeare, einem meiner Favoriten. Außerdem verbinde ich mit Hamlet allerlei Geschichten, weswegen er irgendwie im Laufe von über 25 Jahren zu “meinem” Klassiker wurde.

Hamlet lernte ich im Studium näher kennen. Die Geschichte ist ja weitgehend bekannt. Auch wenn man weder Original noch Übersetzung je las –  Sein oder Nichtsein, to be or not to be, Schlafen! womöglich zu träumen, etc. – das sind längst geflügelte Worte und Verfilmungen gibt es ja auch etliche.

Prinz Hamlet, Student in Wittenberg (hier witzelte mein Professor einst, in Anspielung auf die altersmäßig gelegentlich unpassenden Besetzungen: Ein ewiger Student), kehrt nach Dänemark zurück. Sein Vater ist tot, ermordet und dies wohl von Hamlets Onkel Claudius, der nun der neue König ist und überdies mit der Witwe tändelt, Gertrude sogar heiratet. Der Geist von Hamlets Vater klärt den Prinzen auf und fordert Rache. Und die will auch Hamlet.

Interessanterweise wurde die Tragödie in einer Interpretationslinie für besonders deutsch gehalten, Hamlet, der melancholische Träumer und große Zauderer – sein oder nicht sein, tu ich’s oder lass ich’s lieber … Das wurde politisch auf die Deutschen übertragen, die ihrerseits zu träge oder unentschlossen für eine Revolution wie die französische gewesen seien und irgendwie sei Hamlet da ganz deutsch. Mehr dazu hier: http://www.zeit.de/1964/18/deutschland-ist-hamlet-ii

Ich finde Hamlet eigentlich recht zielstrebig, wenn er auch nicht sofort auf sein Ziel losprescht, so entwickelt er doch einen Plan, um den Mörder seines Vaters zu überführen, geht dabei recht unbekümmert über Leichen, spielt den Narren, stellt sich dumm und alles nur der Rache wegen. Selbst seine Liebste, Ophelia, weiht er nicht ein und nimmt ihr Leid, ihren Tod damit implizit in Kauf. Und der Rest ist Schweigen.

Ein blutiges, rachsüchtiges mitleidloses Drama, bei dem es keine Sieger gibt. Die Wahrheit mag ans Licht gekommen sein, doch der Preis! Verrat, Mord, fast alle tot – meine Güte! Und dabei so spannend wie ein Pageturner.

Meine erste Hamlet-Verfilmung war die mit Mel Gibson, die ich gar nicht übel fand. Meine zweite eine russische, in der Hamlet irritierender-, aber logischerweise “Gamlet” hieß. Die Sichtung der russischen Version geschah absichtslos. Eigentlich waren wir ins Kino gegangen, um die lang verschollene Othello-Version mit Orson Welles zu sehen, die allerdings an jenem Abend erneut verschollen ward, weswegen man dem Shakespeare-geneigten Publikum den Gamlet zeigte. Meine dritte Verfilmung war recht modern, statt um ein Königsreich ging es um einen Konzern, Ethan Hawke gab den Hamlet. Diese Fassung gefiel mir fast am besten, obwohl ich Modernisierungen eigentlich schon grandioser Stücke nicht immer nötig finde.

Die Tragödie im Original zu lesen, ist – wenn es möglich ist – ein Genuss. Den wollte ich auch meinem Liebsten aufschwatzen, doch ich hatte nicht bedacht, dass das elisabethanische Englisch von heute aus gesehen ein bisschen speziell ist. Mit dem Kommentar “zu viel thou, thee, thine” erhielt ich meinen zerlesenen Hamlet zurück. Interessanterweise hatte mein Liebster mit den Filmen im englischen Original kein Problem. Aber Stücke zu lesen ist ja auch nicht jedermanns Fall, der ständige Wechsel – er so, sie so – das liest sich anfangs etwas stockender als ein Roman.

Diese und viele weitere persönliche Geschichtchen und Anekdötchen um diesen Klassiker haben Hamlet zu “meinem” Klassiker gemacht.

Petra Gust-Kazakos