DITHA BRICKWELL: Engeltreiber

Ditha Brickwell, die unter anderem bereits mit dem Bruno-Kreisky-Preis ausgezeichnete Schriftstellerin, holt mit ihrem neuen Roman “Engeltreiber” die Welt des gebeutelten 20. Jahrhunderts auf die literarische Bühne.

Mit ihrem neuen Roman „Engeltreiber“ holt Schriftstellerin Ditha Brickwell das Welttheater des 20. Jahrhunderts auf die Bühne. Anhand zweier Lebensgeschichten spannt Brickwell einen weiten Bogen über Jahrzehnte der Weltgeschichte, die von Krieg, Not und den Härten der Nachkriegszeit geprägt waren, ihre Figuren treibt es durch die Hauptstädte Europas, Wien, Paris, Berlin… von den Umständen bedrängt, nehmen sie doch ihr Leben in die Hand…

Mit ihrer bildreichen Sprache erzeugt Ditha Brickwell bei den Lesern Empathie für ihre Figuren, sie durchbricht den düsteren Hintergrund der geschilderten Zeit mit komischen Momenten und warmherzigem Humor. „Engeltreiber“ erzählt von der Perlenfädlerin Genoveva, Tochter zugewanderter mährischer Bauern, denen in Oberösterreich Missachtung und Ausgrenzung entgegenschlägt. Und von Leo, dem alleingelassenen Sohn reicher Eltern, der in Künstlerkreise, die Abhängigkeit von einer Frau und materielle Not gerät. Die Wege der beiden kreuzen sich, sie schildern einander Episoden vom tapferen Überleben und geben sich Halt. Entlang der Wirklichkeit erzählt hören wir Stimmen im Originalton – aus dem Milieu der Armut und aus den Wiener Künstlerkreisen der kreativen Sechziger Jahre, deren Mitglied Ditha Brickwell war. Als Leser dieser Lebensgeschichten erahnt man den Ursprung unserer heutigen Krisen – wie die apokalyptischen Reiter brechen sie hervor: Pandemie, Hunger, Krieg.

Engeltreiber ist der erste Band der Trilogie Dunkelreise – drei Bücher über drei Epochen  und deren Charaktere –starke Frauen und fantasievolle Jugendliche, jüdische Familien und ihre widerständigen Helfer, Künstler und Weltwanderer…sie alle sind unterwegs auf der Suche nach besserem Leben.


Zur Autorin:

1941 in Wien geboren, studierte Architektur, Städtebau und Bildungsökonomie in Wien, Berlin und New York. Sie arbeitete in Helsinki, Tel Aviv und Paris sowie für den Berliner Senat und die EU in Brüssel, um neue Perspektiven für verarmte Stadtregionen zu entwickeln. Seit 1987 schreibt sie Romane, Essays und Erzählungen. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Wien und Berlin.

Publikationen (Auswahl): 
Die Welt unter meinen Zehen, Zwölf Geschichten aus hundert Jahren. Drava 2019; 
Fedjas Flucht, Roman, Drava 2018; 
Die Akte Europa – eine Utopie geht verloren, Essay-Roman,
Wieser 2010 (ausgezeichnet mit dem Bruno-Kreisky-Preis); 
7 Leben – Frauen biographien, Freimut & Selbst 2005; 
Der Kinderdieb, Roman,Deuticke 2001; 
Angstsommer, Roman, Mandelbaum Wien 1999. 


Stimmen zum Buch:

Der ORF veröffentliche ein ausführliches Portrait und Interview mit Ditha Brickwell in der Sendung “da capo” (4. August 2023)

Ditha Brickwell im Interview mit Joachim Scholl im Deutschlandfunk Kultur.

“Konzeption, Umfang und Detailfülle des Romans sind gewaltig, aber auch Brickwells Sprachgewalt imponiert. Die Autorin stattet ihr Erzählen mit ständig neuen Wortschöpfungen aus, wechselt mühelos Tonarten und Perspektiven. Sie gewährt ihren Geschichten großzügig Raum, um sie mit sprachlicher Virtuosität auszustatten.” – Britta Röder bei den booknerds

“Eine Lektüre-Perle, die Geschichten und Stimmungen kunstvoll aneinanderreiht, wie die weibliche Hauptfigur im Buch.” – Barbara Pfeiffer bei Kulturbowle


Informationen zum Buch:

Ditha Brickwell

Engeltreiber
Roman
Drava Verlag, 2023
Hardcover, 474 Seiten
ISBN: 978-3-99138-021-4

Drava Verlag:
8.-Mai-Straße 12
A-9020 Klagenfurt / Celovec
https://www.drava.at/


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für die Autorin.

Isabella Krainer: Vom Kaputtgehen

Die Biographie eines österreichischen “Jedermenschen”, von der Wiege bis zur Bahre, durchschreitet Isabella Krainer mit ihrem Gedichtzyklus “Vom Kaputtgehen”.

Bild: Michael Flötotto

lebenswahrheit

freunde
die menschen
unter den
leuten

Isabella Krainer, “Vom Kaputtgehen”


Die Biographie eines österreichischen “Jedermenschen”, von der Wiege bis zur Bahre, durchschreitet Isabella Krainer mit ihrem Gedichtzyklus, der im Innsbrucker Verlag Limbus erschienen ist. Dort bietet die Reihe “Limbus Lyrik” zeitgenössische Poesie in schöner Optik – die Bücher bestechen durch ihr Äußeres und die Reihe hält etliche Entdeckungen bereit.

“Vom Kaputtgehen” ist der erste Lyrikband der 1974 geborenen Kärtnerin Isabella Krainer, deren Texte nach Selbstauskunft zwischen “Politsprech und Dialektlandschaft” pendeln. Und der Titel ist Programm: Ein glückliches Leben ist dem Jedermann, der Jederfrau, deren Lebenslauf in den vier Kapiteln “gehschule”, “marschbefehl”, “laufpass” und “endspurt” beschrieben wird, nicht beschieden.

Das verdeutlichen schon die Anfänge:

freiheit wäre übertrieben

neun monate
fluchtwasser

und plötzlich
auf bewährung
draußen

Man muss aufmerksam lesen, um den Witz, die Wortspielereien wahrzunehmen. Die Gedichte, meist kurz, knapp und pointiert, wären manches Mal eher als Aphorismen zu bezeichnen, manches Mal sind sie allzu plakativ. Doch hinter dem manchmal all zu Offensichtlichen tun sich weitere Ebenen und tiefe Abgründe auf – Krainers Gedichte sind auch “gradmesser” eines gesellschaftlichen Zustands. Durch den Ansatz, entlang eines Lebens zu schreiben, bekommt der Band in sich etwas Rundes, Geschlossenes, das nicht von ungefähr mit den mahnenden Worten einer Seherin endet: schau so gern beim leben zu – anstatt ein eigenes Leben zu leben.

Richtig stark ist die Lyrikerin dort, wo sie zur Mundart greift:

söba schuid

wennst es nimma
aushoitst
weilst di damit
aufhoitst
dass dir olles
aufhoist
bis dann amoi
umfoist


Informationen zum Buch:

Isabella Krainer
Vom Kaputtgehen
Limbus Verlag Innsbruck, 2020
Gebunden mit Lesebändchen, 96 Seiten, 15,00 Euro
ISBN 978-3-99039-170-9

Homepage der Autorin: https://isabellakrainer.com/

Marlene Streeruwitz: Verführungen

Der erste Roman der österreichischen Autorin Marlene Steeruwitz handelt von weiblicher Selbstbehauptung. Unterhaltsam zu lesen, bitterböse und realitätsnah.

Steeruwitz
Bild: (c) Michael Flötotto

„Helene ging zu ihm. Er breitete die Arme aus. Während der drei Schritte auf ihn zu dachte Helene, sie müsse mit ihm reden. Über die letzte Nacht. Das Geld. Und das Telefonieren. Henryk schloß die Arme um sie. Helene lehnte ihre Stirn gegen seine Schultern. Ihr fiel ein, daß sie mit jedem Mann in ihrem Leben dieselben Themen zu besprechen hatte. Helene war müde.“

Marlene Streeruwitz, „Verführungen“


Helene, die Protagonistin dieses Debütromans der österreichischen Autorin, ist meistens müde. Nicht lebensmüde, auch wenn dieser Gedanke ab und an aufschimmert (und dann allein schon der Kinder wegen vehement weggeschoben wird), auch wenn andere Frauen sich im Verlauf der geschilderten Monate aufgeben, nein lebensmüde ist Helene nicht. Aber völlig erschöpft. Kein Wunder: Vom Ehemann sitzengelassen, der für die Frauen und die beiden Töchter keinen Pfennig erübrigt, in einer Wohnung Tür an Tür mit der wehleidig-jammernden Schwiegermutter, von den Eltern verurteilt, in einem seltsamen PR-Job gefangen, in dem sie, die talentierte Teilzeitkraft, gnadenlos unterbezahlt den Job des Chefs macht. Die kapriziöse Freundin – ein wenig klischeehaft „Püppi“ genannt – ruft meist nur an, wenn sie in Beziehungskatastrophen steckt und von der Männerwelt ist eh wenig Unterstützung zu erwarten: Kaum hat sich Henryk, der mittellose Musiker, bei ihr eingenistet, führt er sich auf wie die Made im Speck.

Ein feministisches Werk

Marlene Streeruwitz ist eine politische und feministische Autorin – und insofern ist kaum eines ihrer Theaterstücke, mit denen sie zunächst bekannt wurde, oder einer ihrer Romane unumstritten. Dabei – und dies zeigte bereits ihr erste Roman – beschreibt sie nur das, was ist: Zugespitzt zwar, wie bei Helenes Situation, aber eben auch kein außergewöhnliches Frauenleben, eine, die „ins Leben gepreßt“ ist, die müde davon ist, funktionieren zu müssen: Als Frau. So realitätsnah einerseits, mit so viel „galligem Humor“ (eine Beschreibung, die im Feuilleton gerne für die Werke von Streeruwitz verwendet wird) andererseits und eben offen auf der Seite der Frauen positioniert: Diese Art des Schreibens ruft naturgemäß mehr oder weniger qualifizierte Kritiker hervor.

Dabei gäbe es gerade an diesem Debütroman wenig bis nichts zu mäkeln: Wie Helene sich trotz aller Widrigkeiten durch das Leben hangelt, das ist unterhaltsam zu lesen und spannend, bisweilen bitterböse, schreiend komisch, aber auch voller Wärme, vor allem in den Beschreibungen des Mütter-Töchter-Gespanns. Die Sprache, ein, wie sich an späteren Werken zeigte, Streeruwitz-Merkmal, ein Stakkato, kurze, oftmals unvollständige Sätze, ein Stil, an den man sich schnell gewöhnt, der einen in den Fluss dieser Frauengeschichte hineinreißt.

Sabine Harenberg stellt in einer Besprechung bei „literaturkritik.de“ einen Zusammenhang zwischen Sprache und weiblicher Erotik her:

Marlene Streeruwitz´ Prosatext “Verführungen” läßt sich nicht einfach dem Genre “Erotische Literatur” subsumieren. Der bereits erwähnte, durchgängig beibehaltene Gleichklang des Erzählens scheint ein Hinweis darauf zu sein, daß der Text keine erotisierende Wirkung auf die Leser ausüben will. Es wäre aber auch verfehlt, “Verführungen” als anti-erotische Literatur zu charakterisieren, weil der Text nicht jede Form von Erotik verneint. Es finden sich Ansätze erotischer Momente, die jedoch sofort aufgehoben und wieder zerstört werden. Diese Zerstörung spiegelt sich auch in der Syntax wider. So zeigt sich, daß durch die deutlich beschädigte Sprache auch auf der Ebene des Erzählens Helenes beschädigte Sexualität zum Ausdruck gebracht wird. Das Bewußtsein dieser Beschädigung in Verbindung mit einer grundlegenden Sehnsucht nach mehr als nur einer erfüllten Sexualität evoziert in der Protagonistin unlösbare Widersprüche, die sie immer wieder fast am Leben verzweifeln lassen: “Sie hatte keine Sehnsucht mehr. Nicht einmal danach. Es machte sie traurig. Zermürbt, dachte sie. Bist Du endlich zermürbt.”

Diese Interpretation greift einen Aspekt heraus, dabei aber auch zu kurz: Natürlich geht es in „Verführungen“ auch um Lust, Liebe und Begehren. Dafür ist nur wenig Platz, wenn man den geerbten Schmuck zum Pfandleiher bringen muss, um ein Essen für die Kinder auf den Tisch zu bekommen. Die „Verführungen“, die sich der müden Helene eröffnen, sind weniger erotischer denn seelischer Natur: Die Erwartungen der anderen zu erfüllen. Zu funktionieren. Muttertag zu feiern, das Fremdgehen des Gatten zu dulden, die Kapriolen der Busenfreundin lächelnd zur Kenntnis zu nehmen. Die Altersgeilheit des Chefs zu akzeptieren, das Gejammere der Kollegin zu schlucken. Die eigenen Grenzen Tag für Tag überschritten zu sehen.

Weibliche Selbstbehauptung

Es geht in diesem Roman meiner Meinung um das Thema weiblicher Selbstbehauptung, weit über die Grenzen der Erotik hinaus. Es geht um die Befreiung aus Rollenmustern in jeglicher Hinsicht. Es geht darum, ob Helene weiterkämpft oder müde liegenbleibt. Am Ende siegt die Energie: Helene schmeißt den Schmuddeljob hin, den Schmuddelmusiker raus, geht gegen den verlogenen Ehemann rechtliche Schritte an und macht vor allem eines, sie nimmt ihr Leben in die eigene Hand. Den „Verführungen“ widersteht sie, auch wenn ihr Weg sie am Ende des Buches erst einmal ins Arbeitsamt führt:

„Helene lehnte den Kopf gegen die Wand hinter sich. Zuerst würde sie den Computerkurs machen. Und dann war Weihnachten. Und dann. Im nächsten Jahr würde alles besser werden. Helene wurde aufgerufen.“

Wer noch mehr von Marlene Streeruwitz lesen möchte, dem sei ihr Roman „Nachkommen“ empfohlen, eine 2014 erschienene kritische Abrechnung mit dem Literaturbetrieb. Zum Einlesen empfehle ich die Rezension beim grauen Sofa.

Karl Kraus – Man frage nicht

Jede Diktatur missbraucht die Sprache für ihre politischen Lügen. Wo gegen Lügen nicht mehr anzugehen ist, droht das Verstummen.

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Bild von TheoLeo auf Pixabay

Man frage nicht

Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.

Karl Kraus (1874-1936)

Als im Januar 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, verstummte Karl Kraus: Der Sprachgewaltige, der Sprachmächtige, er verlor anscheinend vorübergehend die Sprache angesichts jener, die sie vergewaltigten für ihre Hetze, die mit ihren Worten ein ganzes Volk manipulierten.

Erst im Oktober 1933 meldete Karl Kraus sich wieder zu Wort: Erst dann erschien erneut eine, die 888. Ausgabe der Zeitschrift „Die Fackel“. Das Heft umfasste gerade einmal vier Seiten – einen Nachruf auf den Architekten Alfred Loos und jenes Gedicht. Die dünnste Fackel, die es je gab – und wenige Worte genügen, um das Dilemma und Verzweiflung dessen sichtbar zu machen, der nicht nur an die Kraft der Sprache glaubte, sondern auch an ihre moralische Wirksamkeit. Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte…
Die von ihm 1899 gegründete Fackel hatte er auch geschaffen, um gegen Sprachverhunzung, die zumeist auch Wahrheitsverschleierung ist, anzukämpfen. Um die Rhetorik der Machthabenden zu entblößen. Kraus schreibt der Fackel in das Programm: “Das politische Programm dieser Zeitung scheint somit dürftig; kein tönendes ‘Was wir bringen’, aber ein ehrliches ‘Was wir umbringen’ hat sie sich als Leitwort gewählt.”

1914 noch schreibt er vehement gegen den Missbrauch der Sprache und die öffentliche Kriegstreiberei an. Hat ihn, zwanzig Jahre später, die Kraft verlassen, auch das Vertrauen in das Wort verlassen?

Intensiver mit den Hintergründen setzt sich Richard Schuberth, offenbar ein leidenschaftlicher Kraus-Anhänger, auseinander – man beachte insbesondere Teil 23 bis 25 seiner “Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus”:

“Und so tat Kraus, was er schon bei Ausbruch des I. Weltkriegs getan hatte: Er entzog sich der Kakophonie lauter Parolen und vorschneller Meinungen und recherchierte und reflektierte unermüdlich. Zeit seiner letzten drei Lebensjahre würde eine Öffentlichkeit, die ihm Indifferenz, Feigheit und Faschismus vorwarf, nicht ahnen, dass er Frühling und Sommer 33 nichts anderes getan hatte als an einer 400-seitigen Fackel-Ausgabe mit dem Titel Dritte Walpurgisnacht zu arbeiten, der ersten profunden Kritik des Nationalsozialismus, denen die Faschismusanalysen der kommenden Jahre, wie Friedrich Dürrenmatt meinte, nur noch Quantitatives beifügen konnten. Das Heft war größtenteils schon gesetzt, als sich Karl Kraus entschied, es zurückzuziehen.
Die Dritte Walpurgisnacht, welche 1952 posthum als Buch erschien, beginnt mit jenen berüchtigten Worten Mir fällt zu Hitler nichts ein , deren Zitat vor allem der böswilligen Unterschlagung dessen dienen sollte, was dem Satz folgte, und zwar der scharfsinnigen Erörterung, warum es gegenüber dem Phänomen der Gewalt keine Polemik geben kann und vor dem des Irrsinns keine Satire sowie mehr Einfällen zu Hitler, seinen Schergen, Mitläufern und schwachbrüstigen Gegnern, als irgendeinem seiner Zeitgenossen einfielen.”

Statt der Walpurgisnacht also das öffentlich bekundete Verstummen: Es brachte Karl Kraus viel Kritik (unter anderem die “Grabreden”), bis heute überdeckt es für manchen den Blick auf die  Haltung dieses Schriftstellers, der sich der Schrift im wahrsten Sinn des Wortes stellte. Andere konnten Kraus` Haltung nachvollziehen: “In einem zehnzeiligen Gedicht/Erhob sich seine Stimme, einzig um zu klagen/Daß sie nicht ausreiche” schrieb Bertolt Brecht in seiner berühmten Replik. 1934 kündigte Brecht jedoch Kraus die Freundschaft aufgrund der Kraus-Äußerungen zur Unterdrückung der sogenannten “Februaraufstände” in Österreich.

1934 erschien keine normale Ausgabe der Fackel, sondern die Erklärung Warum die Fackel nicht erscheint. Karl Kraus hatte den Druck der Nummer mit dem 300 Seiten-Torso “Die Dritte Walpurgisnacht” gestoppt. Stattdessen erläuterte er auf beinahe ebenso viel Seiten seine Haltung: Er sei an eine Grenze geraten, weil “Gewalt kein Objekt der Polemik, Irrsinn kein Gegenstand der Satire” sein kann.

Die letzte Nummer erschien 1936, vier Monate vor seinem Tod, diese Ausgabe endete mit dem Wort: Trottel.

Persönliche Anmerkung:
Chemnitz. Ein Beispiel, wenn auch ein Eklatantes, dafür, was gärt und herausbricht. Noch ist es Zeit, ganz laut die Stimme zu erheben gegen den um sich greifenden Rechtsextremismus. Nicht länger stumm bleiben, sondern lauter werden!

Helmut Böttiger: Wir sagen uns Dunkles

“Wir sagen uns Dunkles” ist die erste umfassende Arbeit über die komplizierte Beziehung von Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Ein Stück Literaturgeschichte.

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Bild von Erika Varga auf Pixabay

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Paul Celan, aus „Corona“.

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

(…)

Sie dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!
Es kommen härtere Tage.

Ingeborg Bachmann, aus „Die gestundete Zeit“.

„Schon in frühen Versuchen, aus der Zeit mit Celan in Wien und danach, fallen Celan-Anklänge auf, das Aufsaugen seines spezifischen Tons, der schwungvollen Daktylen, des verzaubernden Genitivs, der suggestiven Wie-Vergleiche (…). Aber auch in ihrer berühmten Lyrik aus den fünfziger Jahren greift Bachmann Celan` sche Bilder auf und entwickelt sie in ihrem Sinn weiter. Die gestundete Zeit ist ohne Celan nicht zu denken.“

Helmut Böttiger, „Wir sagen uns Dunkles“

Immer schon bewegte mich die geistige Verwandtschaft, die aus den Gedichten Ingeborg Bachmanns und Paul Celans spricht. Auch ohne viel über ihre Verbundenheit zu wissen – eine Verbindung ist spürbar, eine Seelen-Verwandtschaft zu erlesen, die weit über die Tatsache hinausgeht, dass beide zur selben Zeit zu ihren Worten fanden, dass sie, Kinder ihrer Zeit, versuchten, die Lyrik nach der dunklen Zäsur des Nationalsozialismus  neu zu definieren.

Ihre Sprache: Jeweils einzigartig, solitär, aus dem lyrischen Aufbruch der Nachkriegsdichtung herausragend und doch so miteinander verwandt. Inzwischen meint man viel auch über die komplizierte Liebesbeziehung dieser beiden Sprachkünstler zu wissen. Der 2009 beim Suhrkamp Verlag unter dem Titel „Herzzeit“ erschienene Briefwechsel gab eine Ahnung.

Wie sehr das Paar, das die meiste Zeit seit dem Kennenlernen im Wiener Frühling 1948 eigentlich kein Paar im klassischen Sinne war, zeitlebens im Denken, Arbeiten und Fühlen miteinander verbunden war, das arbeitet nun der Schriftsteller und Kritiker Helmut Böttiger in seinem jüngsten Buch kongenial heraus.

Der Geheimcode einer Liebe

„Wir sagen uns Dunkles“: Jene Zeile aus Celans Gedicht „Corona“ wird zum Leitmotiv dieser Liebe, die für beide tragisch endet. Sie wurde auch treffend zum Titel von Böttigers Annäherung an „Die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan“. Der Autor entziffert diesen „Geheimcode der Liebe“ zwischen den beiden Lyrikern nah an den Quellen, den Gedichten, Texten und Briefen der beiden, an Aussagen von Zeitzeugen und Freunden. Niemals nur im Ungefähren psychologisierend und im Dunkeln stochernd, immer zurückhaltend interpretierend und doch so aufschlussreich gerade auch über Ungesagtes, das sich zuweilen nur über eine enge, sich am Biographischen orientierende Gedichtinterpretation erschließt.

„Im Windschatten, tausendfach: du./Du und der Arm,/mit dem ich nackt zu dir hinwuchs,/Verlorne.“

Paul Celan, aus „Weiß und Leicht“.

Das Gedicht entstand nach einer Wiederbegegnung 1957, beide erlebten und lebten – obwohl Celan, in Paris nicht länger „unbehaust“ und schon längst mit Gisèle Lestrange verheiratet war – eine kurze Zeit der „Liebeseuphorie“. Böttiger schreibt:

„Verbannt“ und „Verloren“: Es war die Vision, dass die beiden Dichter, die sich „aus dämonischen Gründen“, wie Ingeborg Bachmann einige Jahre zuvor erkannt hatte, gegenseitig ausschlossen, dass diese Solitäre zusammengedacht werden konnten. Und dazu gehörte auch eine neue Form von Gelassenheit: Es konnte gesprochen und geschwiegen werden, und „einiges ging seiner Wege“, unbehelligt. Das Gedicht Celans hat einen hymnischen Ton, es zeugt von einem Augenblicksglück. Das so unterschiedliche, aber doch auch gemeinsame Schicksal hatte zwei Versprengte zusammengeführt.“

Helmut Böttiger zeichnet die Verbindung der beiden chronologisch nach, von der ersten Begegnung 1948 über das belastete und belastende Wiedersehen bei der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf (1952) bis zum Bruch, den Celan, schon gezeichnet von seiner psychischen Erkrankung, herbeiführte. Mit viel Gespür arbeitet Böttiger die Konflikte heraus, die eine erfüllende Liebesbeziehung verhinderten, angefangen von den unterschiedlichen Lebenserfahrungen – Celan, Jude, KZ-Überlebender, ein Flüchtender, Bachmann, aufgewachsen in der sie einengenden Klagenfurter Provinz, Tochter eines Lehrers und NSDAP-Mitglieds – bis hin zu der so unterschiedlichen Aufnahme in der literarischen Welt.

Austausch über die Philosophie Heideggers

Ingeborg Bachmann, in der Gruppe 47 auch als „Fräuleinwunder“ bestaunt, Celan, der nach wie vor Erfahrungen mit einem latenten Antisemitismus in der Literaturwelt machen muss. So sehr die beiden ein intellektueller Austausch, beispielsweise über die Philosophie Heideggers, über die Entwicklung der Literatur und ähnliche Fragen verband, so sehr trennte sie auch der unterschiedliche Erfolg. Die öffentliche Anerkennung der Lyrikerin Bachmann: Paul Celan empfand dies als Verletzung, sah die Konkurrenz, wie Helmut Böttiger herausarbeitet.

Bezüglich der Gruppe 47, der Auseinandersetzungen in der Literatur in jenen Jahren, ihren Tendenzen und Strömungen kann Helmut Böttiger natürlich aus dem Vollen schöpfen: Sein zuletzt veröffentlichtes Buch, „Die Gruppe 47“ warf bereits einen erhellenden Blick auf diese literarischen Netzwerker. Wie sehr sich sowohl Bachmann als auch Celan hier als „Fremde“ fühlen mussten, machen gut platzierte Zitate deutlich.

Anpassungsfähigkeit an den Literaturbetrieb fehlte

Dies macht auch deutlich: „Wir sagen uns Dunkles“ will eben nicht den voyeuristischen Blick auf die Liebesleiden zweier traumatisierter Menschen bedienen. Das Buch ordnet diese Beziehung in eine Literatur- und Personengeschichte ein, die, wenn man sich für diese Lyriker und die Literatur jener Jahre interessiert, ein Stück Literaturgeschichte ist. Zudem gibt das Buch Aufschluss gibt darüber, wie entscheidend auch im Literaturbetrieb Anpassungsfähigkeit und ein Stück Aktivismus sind. Beides brachten Bachmann und Celan nicht mit. Helmut Böttiger schreibt flüssig, einfühlsam, klug und gibt nicht zuletzt auch Interpretationshilfen für die hermetische Lyrik dieser beiden poetischen Sterne.

Zugleich macht das Buch auch offensichtlich, dass vor allem Ingeborg Bachmann jene war, die – obwohl auch sie diese Liebe nicht leben konnte – anhaltend um sie, um Paul Celan rang. Vielleicht war sie unter diesen beiden Menschen, beide nicht besonders „lebenstüchtig“, beide immer auch dem Dunklen, der Schwermut und Melancholie zugeneigt, denn doch die Leidensfähigere, wer weiß?

Helmut Böttiger versucht beiden gerecht zu werden:

„Am 27. September 1961 setzte Ingeborg Bachmann noch einmal zu einem langen Brief an, den sie nicht abgeschickt hat. Es ist ein bewegender Brief, der ihre ganze Verzweiflung über eine Beziehung zu ihm ausdrückt, und gleichzeitig spricht er vollkommen klar aus, dass sie mit Celans psychischem Zustand, seiner Erkrankung überfordert war.“

„weil ich mich nicht schützen kann dagegen, weil mein Gefühl für Dich immer zu stark bleibt und mich wehrlos macht.“

Im April 1970 nimmt Paul Celan sich das Leben. Ingeborg Bachmann stirbt drei Jahre später.

Helmut Böttiger beendet sein Buch mit einer Interpretation von Ingeborg Bachmanns Erzählung „Drei Wege zum See“:

Vor allem aber ist Trotta der unerreichbare, ferne Geliebte – „die einzige und große Liebe“. Sie war nur in der Literatur zu verorten. In der Literatur, in der Legende und im Märchen, wo auch die berühmten zwei Königskinder aufzufinden sind, die nicht zueinanderkommen konnte.

Informationen zum Buch:

Helmut Böttiger
Wir sagen uns Dunkles
Die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan
DVA, München 2017
ISBN: 978-3-570-55416-6