Karl Kraus – Man frage nicht

Jede Diktatur missbraucht die Sprache für ihre politischen Lügen. Wo gegen Lügen nicht mehr anzugehen ist, droht das Verstummen.

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Man frage nicht

Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.

Karl Kraus (1874-1936)

Als im Januar 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, verstummte Karl Kraus: Der Sprachgewaltige, der Sprachmächtige, er verlor anscheinend vorübergehend die Sprache angesichts jener, die sie vergewaltigten für ihre Hetze, die mit ihren Worten ein ganzes Volk manipulierten.

Erst im Oktober 1933 meldete Karl Kraus sich wieder zu Wort: Erst dann erschien erneut eine, die 888. Ausgabe der Zeitschrift „Die Fackel“. Das Heft umfasste gerade einmal vier Seiten – einen Nachruf auf den Architekten Alfred Loos und jenes Gedicht. Die dünnste Fackel, die es je gab – und wenige Worte genügen, um das Dilemma und Verzweiflung dessen sichtbar zu machen, der nicht nur an die Kraft der Sprache glaubte, sondern auch an ihre moralische Wirksamkeit. Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte…
Die von ihm 1899 gegründete Fackel hatte er auch geschaffen, um gegen Sprachverhunzung, die zumeist auch Wahrheitsverschleierung ist, anzukämpfen. Um die Rhetorik der Machthabenden zu entblößen. Kraus schreibt der Fackel in das Programm: “Das politische Programm dieser Zeitung scheint somit dürftig; kein tönendes ‘Was wir bringen’, aber ein ehrliches ‘Was wir umbringen’ hat sie sich als Leitwort gewählt.”

1914 noch schreibt er vehement gegen den Missbrauch der Sprache und die öffentliche Kriegstreiberei an. Hat ihn, zwanzig Jahre später, die Kraft verlassen, auch das Vertrauen in das Wort verlassen?

Intensiver mit den Hintergründen setzt sich Richard Schuberth, offenbar ein leidenschaftlicher Kraus-Anhänger, auseinander – man beachte insbesondere Teil 23 bis 25 seiner “Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus”:

“Und so tat Kraus, was er schon bei Ausbruch des I. Weltkriegs getan hatte: Er entzog sich der Kakophonie lauter Parolen und vorschneller Meinungen und recherchierte und reflektierte unermüdlich. Zeit seiner letzten drei Lebensjahre würde eine Öffentlichkeit, die ihm Indifferenz, Feigheit und Faschismus vorwarf, nicht ahnen, dass er Frühling und Sommer 33 nichts anderes getan hatte als an einer 400-seitigen Fackel-Ausgabe mit dem Titel Dritte Walpurgisnacht zu arbeiten, der ersten profunden Kritik des Nationalsozialismus, denen die Faschismusanalysen der kommenden Jahre, wie Friedrich Dürrenmatt meinte, nur noch Quantitatives beifügen konnten. Das Heft war größtenteils schon gesetzt, als sich Karl Kraus entschied, es zurückzuziehen.
Die Dritte Walpurgisnacht, welche 1952 posthum als Buch erschien, beginnt mit jenen berüchtigten Worten Mir fällt zu Hitler nichts ein , deren Zitat vor allem der böswilligen Unterschlagung dessen dienen sollte, was dem Satz folgte, und zwar der scharfsinnigen Erörterung, warum es gegenüber dem Phänomen der Gewalt keine Polemik geben kann und vor dem des Irrsinns keine Satire sowie mehr Einfällen zu Hitler, seinen Schergen, Mitläufern und schwachbrüstigen Gegnern, als irgendeinem seiner Zeitgenossen einfielen.”

Statt der Walpurgisnacht also das öffentlich bekundete Verstummen: Es brachte Karl Kraus viel Kritik (unter anderem die “Grabreden”), bis heute überdeckt es für manchen den Blick auf die  Haltung dieses Schriftstellers, der sich der Schrift im wahrsten Sinn des Wortes stellte. Andere konnten Kraus` Haltung nachvollziehen: “In einem zehnzeiligen Gedicht/Erhob sich seine Stimme, einzig um zu klagen/Daß sie nicht ausreiche” schrieb Bertolt Brecht in seiner berühmten Replik. 1934 kündigte Brecht jedoch Kraus die Freundschaft aufgrund der Kraus-Äußerungen zur Unterdrückung der sogenannten “Februaraufstände” in Österreich.

1934 erschien keine normale Ausgabe der Fackel, sondern die Erklärung Warum die Fackel nicht erscheint. Karl Kraus hatte den Druck der Nummer mit dem 300 Seiten-Torso “Die Dritte Walpurgisnacht” gestoppt. Stattdessen erläuterte er auf beinahe ebenso viel Seiten seine Haltung: Er sei an eine Grenze geraten, weil “Gewalt kein Objekt der Polemik, Irrsinn kein Gegenstand der Satire” sein kann.

Die letzte Nummer erschien 1936, vier Monate vor seinem Tod, diese Ausgabe endete mit dem Wort: Trottel.

Persönliche Anmerkung:
Chemnitz. Ein Beispiel, wenn auch ein Eklatantes, dafür, was gärt und herausbricht. Noch ist es Zeit, ganz laut die Stimme zu erheben gegen den um sich greifenden Rechtsextremismus. Nicht länger stumm bleiben, sondern lauter werden!

Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten

Die Erinnerungsbände von Hans Sahl sind mit das Beste, was man an autobiografischer Exilliteratur über das 20. Jahrhundert lesen kann.

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Unser Schicksal steht unter Denkmalschutz.
Unser bester Kunde
ist das schlechte Gewissen der Nachwelt.
Greift zu, bedient euch.
Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus.
Wir sind zuständig.

Aus: „Die Letzten“ von Hans Sahl


In den „Memoiren eines Moralisten“ und dem Erinnerungsband „Exil im Exil“ (beide zum Auftakt der Werkausgabe vom Luchterhand Verlag 2008 wiederaufgelegt) schildert der deutsche Schriftsteller und Journalist Hans Sahl, wie es ist, einer der Letzten zu sein. Einer jener, die von einer bedeutsamen Epoche der Geschichte berichten konnten, die sogar mittendrin standen in den kulturellen Umbrüchen und politischen Wirrnissen, die man dann im Nachkriegsdeutschland zwar als Gast (auch bei der Gruppe 47) duldete, aber eigentlich nicht mehr hören wollte.

„Wie kann ich über die zwanziger Jahre sprechen, ohne an ihr Ende zu denken, wie über jene Epoche, ohne das Bewußtsein, einer der Letzten zu sein, der noch über sie berichten kann. Diese Epoche hatte einen eigenen Zungenschlag, einen Verständigungs-Volapük, der zur Voraussetzung hatte, daß man das letzte Stück von Brecht, die letzte Inszenierung von Piscator, Jessner, Reinhardt gesehen, die letzte Kritik von Kerr oder Ihering gelesen hatte, daß man auf dem laufenden war über die Konzerte von Furtwängler, Toscanini, Klemperer, Kleiber, Bruno Walter, über Tairows „Entfesseltes Theater“, den „Dybbuk“ der Habima und Meyerholds letztes Gastspiel in Deutschland, über die Negertänzerin Josephine Baker und den flüsternden Bariton Jack Smith, über Eisensteins „Potemkin“ und Chaplins „Goldrausch“, über Gershwins „Rhapsody in Blue“ und den „Zauberberg“ von Thomas Mann und Hermann Hesses „Steppenwolf“ (…)“

Allein dieser kurze Ausschnitt lässt erahnen, wie sehr Sahl selbst Teil dieser Kultur war. Und wie unermesslich groß die kulturelle Lücke war und ist, die die braunen Diktatoren schließlich schlugen. Berlin in der Weimarer Republik: Es waren ideell reiche, manchmal überreiche Zeiten, in denen alles möglich schien. Hans Sahl sieht den Menschen jener Zeit prototypisch in Tucholskys Herrn Wendriner verkörpert:

„Diese Neugier auf das Neueste eines überraschend schnell zum Weltbürger gewordenen Berliners, dem es nur um eins ging: dabeizusein. Und als das Neueste vom Neuen kam, nämlich Hitler, mußte er auf die grausamste Weise mit dabeisein, entweder als Opfer oder als Opfernder.“

Es lohnt sich, diese Erinnerungen zu lesen. Nicht nur, weil Hans Sahl sie alle kannte und ebenso klug und lebendig über sie zu berichten weiß: Bert Brecht, Joseph Roth, Alfred Döblin, Erich Kästner, Kisch und Konsorten, alle die berühmten Literaten der Weimarer Jahre, später auch Thornton Wilder, Arthur Miller und Tennessee Williams, deren Werke er ins Deutsche übersetzte.

Das schlechte Gewissen der Nachwelt

Es lohnt sich diese Memoiren zu lesen. Und dies nicht nur, weil viele der Geschehnisse der Weimarer Republik, die schließlich in den Nationalsozialismus mündeten, gerade heute als aktuelle Warnung dienen könnten. Nicht deshalb, weil uns als Leser „das schlechte Gewissen der Nachwelt“ schlägt – sondern weil wir Hilfestellung suchen für die Welt von morgen. Wo es rechts außerhalb gewisser Parteien nichts mehr geben darf, wo alles, was nicht links ist, sich als rechts verdächtig macht, kurzum, wo politisches Kastendenken und Populismus um sich greifen, da tut so eine Ermahnung aus der Vergangenheit not.

Es lohnt sich vor allem, diese Bücher zu lesen, weil dieser Hans Sahl einfach ein ganz großartiger Mensch gewesen sein muss, der klug von vergangenen Zeiten berichtet, liberal, weltoffen, witzig, nachdenklich, gut reflektierend.

Selbst in eine gutbürgerliche, deutschnational angepasste jüdische Familie hineingeboren, sucht Sahl (1902 – 1933) einen Gegenpol zum Bürgertum der Eltern, indem er sich politisch links engagiert.

„An dem Tage, da der deutsche Außenminister Walther Rathenau in der Königsallee von politischen Fanatikern ermordet wurde, begann der Religionsphilosoph Ernst Troeltsch, bei dem ich hörte, seine Vorlesung: „Der Feind steht rechts!“ Nichts ging mehr zusammen. Rechts war a priori schlecht, und links a priori gut. Dazwischen gab es ein bürgerliches Niemandsland, in dem Kellner mit serviler Geschäftigkeit eine Gans über die Teller verteilten und die Geige zum Maronenpüree spielte. Die Bürgertugenden unserer Eltern sagten uns nichts mehr, wir waren gegen das Eigentum und für eine freie Verteilung der Güter, was uns jedoch nicht daran hinderte, von den Vorteilen, die uns die „Profitwirtschaft“ bot, entsprechend Gebrauch zu machen. Der Riß ging mitten durch das Elternhaus und führte zu öffentlichen Konfrontationen, da in den Straßen Berlins die Parteien demonstrierten. Ich marschierte mit den Kommunisten, mein Vater mit den Demokraten.“

Später, nach dem Hitler-Stalin-Pakt, als Sahl auch gute Freunde, wie beispielsweise die Schauspielerin Carola Neher, bei den Moskauer Schauprozessen und in den Untiefen der Gulags verliert, rückt er immer weiter von den Kommunisten ab. Und gerät dadurch – ähnlich wie der in einem anderen Beitrag hier portraitierte Gustav Regler – im Exil ins Exil: 1933 noch mit knapper Not vor den Nationalsozialisten über Prag und Zürich nach Paris geflüchtet, kommt Sahl in die USA, wird dort aber vom linksgerichteten Kreis anderer europäischer Exilanten aufgrund seiner kritischen Stalin-Haltung geächtet. Er lebt im Exil im Exil – so erklärt sich der Titel seines zweiten Erinnerungsbandes.

Isoliert im Exil

Sahl sieht die Zwischentöne, während viele andere in diesen erhitzten Zeiten nur noch schwarz oder weiß gelten lassen. Doch nicht von ungefähr betitelt der Autor seinen ersten  Erinnerungsband auch als „Memoiren eines Moralisten“: Da schreibt ein Mann, der vieles durchlebt hat. Und alles durchdacht. Auch das eigene Tun und Wirken:

„Warum begann ich zu schreiben? Sicher nicht aus Eitelkeit, auch nicht nur aus Geltungsbedürfnis oder dem Wunsch, mich mitteilen zu können, auch nicht nur aus der Freude am Wort und der Sprache als Selbstgenuß, ich schrieb, weil ich beschlossen hatte, ein Schriftsteller zu werden. Schriftsteller waren bessere Menschen, ich wollte ein besserer Mensch werden, wie alle die anderen besseren Menschen, die Söhne aus gutem Hause; die jetzt auf den Tribünen, in Büchern und Zeitschriften, für eine neue Gesellschaft eintraten, für Freiheit und Gerechtigkeit hienieden.“

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erwägt Sahl vorübergehend, aus den USA nach Deutschland zurückzukehren. Nach einem längeren Aufenthalt zieht er eine nüchterne Bilanz:

„Ich blieb fünf Jahre in Deutschland, schrieb für Zeitungen, sprach im Rundfunk und suchte nach einem Ansatzpunkt, um die politische Entfremdung von dem Land meiner Geburt zu überwinden. Ich war ein exterritorialer Mensch geworden, ein „Gast in fremden Kulturen“, wie ich es für Hermann Kestens Sammelband „Ich lebe nicht in der Bundesrepublik“ formuliert habe. Ich versuchte, der Alternative zwischen zwei Provisorien ein Ende zu machen, indem ich mich für das entschied, was mir vertrauter geworden war. Ich ging also nach Amerika zurück, nicht mehr als Flüchtling, sondern als Berichterstatter deutscher Zeitungen. Erst als ich mich entschlossen hatte, nicht mehr von Amerika zu leben, schloß ich Frieden mit Amerika.“

Zumal man in der „alten Heimat“ noch nicht allzu viel von den Emigranten wissen will. 1991 sagt Hans Sahl anlässlich der Verleihung des Internationalen Exil-Preises:

„Ich war zum ersten Mal 1949 mit einem Haufen von Manuskripten, mit Gedrucktem und Ungedrucktem, mit Gedichten, Essays, Erzählungen und Einaktern aus dem Exil gekommen sowie mit einem Roman „Die Wenigen und die Vielen“, der jedoch von fast allen Verlegern abgelehnt wurde, bis er schließlich doch noch bei S. Fischer erscheinen konnte. Die einen sagten, es sei zu früh, die anderen, es sei zu spät, und die dritten sagten, es sei zu früh oder zu spät …“

Aber er sagt auch:

„…als Antwort auf Ludwig Marcuse, der von der Exilliteratur nichts anderes verlangte, als zu überleben, schrieb ich unter anderem den Satz: „Exil ist nicht nur ein von Hitler aufgezwungener Verlagswechsel, Exil ist eine Verpflichtung.“

Erst spät, „zu spät“ nach seinem Empfinden, wird Hans Sahl in der Bundesrepublik wahrgenommen und gehört. 1989 kehrt er zurück, um hier seine letzten Jahre zu verbringen. Zum 90. Geburtstag des Autoren schreibt Michael Rohrwasser im „Tagesspiegel“ von einer „späten verlegerischen Wiedereinbürgerung“, als auf Initiative der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung Sahls Texte wiederaufgelegt werden.

Besser jedoch spät als nie, denn:

„Das gefährliche Wort von der Wiedergutmachung an einem Autor sollte man, auf Sahls Werk bezogen, tunlichst vermeiden. Welcher Leser möchte schon aus Pflichtschuldigkeit lesen? Es gibt freilich einen legitimen Grund, zu Hans Sahls Büchern zu greifen: Der liegt in ihrer Qualität.“

Und damit hat Rohrwasser einfach recht: Die Erinnerungsbände von Hans Sahl sind mit das Beste, was man an autobiografischer Exilliteratur zu jener Epoche lesen kann.


Weiterführende Quellen:
Zum 25. Todestag erschien im Deutschlanfunk dieses Portrait:
http://www.deutschlandfunk.de/25-todestag-der-exilschriftsteller-hans-sahl.871.de.html?dram:article_id=416497
Eine umfassende Einordnung in der Trans:
http://www.inst.at/trans/15Nr/05_02/reiter15.htm
Informationen beim Verlag:
https://www.randomhouse.de/Autor/Hans-Sahl/p74339.rhd#publication


Bibliographische Angaben:

Hans Sahl
Memoiren eines Moralisten
Luchterhand Verlag, 2008
ISBN: 978-3-630-87278-0

Trude Krakauer: Niewiederland

Trude Krakauer floh aus dem besetzten Österreich in das Exil nach Kolumbien. Sie teilt das Schicksal vieler Exilanten: Vertrieben, verloren, vergessen.

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Lichten Traum

Hofft, ihr werdet in der Heimat nisten,
Tröstlich winkt sie nach den Trennungsjahren.
Elend, wißt ihr, werdet ihr dort finden (…)

Trude Krakauer, “Niewiederland”

Trude Krakauer sah die „alte Heimat“, das „Niewiederland“, nur einmal wieder, 1981 bei einer Reise nach Österreich. Vom „Rückwärts gehen“ erwartete sie nicht viel, wie auch ihr beinahe trotzig klingendes Gedicht, datiert auf den 5. Februar 1948, vom “Lichten Traum” erkennen lässt. Jedoch: Auch das Exil, Kolumbien, war nicht zur Heimat geworden, es gelang ihr in ihrem langen Leben nicht, hier vollständig Wurzeln zu fassen, nur Luftwurzeln blieben ihr, Wurzeln, die keine Erde fanden. Zum Ausdruck kommt dies in einem ihrer späteren Gedichte, „Luftwurzeln“ (Auszug):

Ich hab meinen Halt in der Erde verloren.
Luftwurzeln treib ich, blasse Gedichte,
Die zittern und schwanken und tasten ins Leere.

„Ich habe gerne hier gelebt, aber nie habe ich dieses Land als meine „zweite“ Heimat betrachtet. Man hat nur eine Heimat, so wie man nur eine Mutter hat“, schreibt sie 1993. Dabei verbrachte Trude Krakauer (nicht zu verwechseln mit Trude Dothan, geborene Krakauer) mehr Lebensjahre im kolumbianischen Exil als in der österreichischen Heimat. Am 30. Mai 1902 in Wien geboren, flieht sie nach dem „Anschluss“ Ende 1938 nach Lateinamerika. Hochbetagt, im Alter von 93 Jahren, stirbt sie am 25. Dezember 1995 in Bogotá. Die Heimat hat sie nie vergessen – aber im Gegenzug vergaß die Heimat beinahe sie. Es ist der österreichischen Exilforscherin und Lyrikerin Siglinde Bolbecher (1952-2012) zu verdanken, dass Trude Krakauer nicht vollständig aus dem Bewusstsein geriet – und dass ihre Gedichte erhalten blieben und überhaupt veröffentlicht wurden.

Ballade vom Niewiederland

Wer seinen Weg im Niewiederland sucht,
der kommt nirgends an und kehrt nimmermehr heim;
er geht nur und geht, um zu gehen.
Er geht durch die Straßen der Nimmermehrstadt (…)

Das Schicksal der Exilanten

Trude Krakauer teilt – nicht nur in der Zerrissenheit zwischen zwei Welten – das Schicksal vieler Exilanten: Vertrieben, verloren, vergessen. Ihr Name erscheint heute nur marginal in der Literatur, meist in Fachbüchern über die Literatur im Exil. Zu Lebzeiten wurden die Gedichte Trude Krakauers, die bis zu ihrem Lebensende in ihrer Muttersprache schrieb, nur dreimal in österreichischen Publikationen veröffentlicht. Dabei hätte ihr schmales, dafür aber umso intensiveres Werk mehr Aufmerksamkeit verdient. Sicher liegt ihr geringer Bekanntheitsgrad aber auch an der Zurückhaltung und Bescheidenheit, die Trude Krakauer prägten. Siglinde Bolbecher, die 1993 die verbliebene österreichische Exilgemeinde in Kolumbien aufsuchte, lernte die Dichterin dort persönlich kennen. In ihrem Nachwort zur einzigen bislang veröffentlichten Sammlung ausschließlich mit Gedichten von Krakauer, „Niewiederland“, erschienen 2013 in der Reihe „Nadelstiche“ der Theodor Kramer Gesellschaft, zeichnet Bolbecher ein feines Portrait der Dame, die sie in Bogotá kennenlernte:

„Es mangle ihrer Biographie an Leistungen – meint Trude Krakauer mit feiner Ironie -, an denen sich der Lebensfaden festknoten läßt und zugleich ist „Leben“ immer viel mehr als wir erzählen können. „Meine Biographie ist eigentlich in meinen Gedichten enthalten.“ In ihnen nimmt sie die schwierige Kommunikation mit Herkunft, der beglückenden, aber auch tödlichen Mühle der Kindheit und Jugend auf.“.

So zurückhaltend wie sie als Person durch diese wenigen Zeilen anmutet, so präzis- unprätentiös ist die Sprache ihrer Lyrik. Oftmals mit einer Spur von Bitterkeit angereichert. „Die Zeit heilt alles“ – so der Titel eines Gedichtes – nur die „pochend-wunden Herzen“ nicht. Ein Auszug:

Die Zeit heilt alles. Über Massengräber
Weht grünes Gras. Wir halten sie für gütig,
Wenn ihren Schleier unfühlbar und fühllos
Sie über Tote zieht, die uns noch leben,
Und über unsre schmerzhaft wachen Augen
Und unsre wehen, pochend-wunden Herzen.
(…)
Der Tod heilt alles, doch solang ich lebe
Will ich unheilbar sein.

Woher kam die Frau, die später einige der wichtigsten spanischsprachigen Literaten übersetzte (unter anderem Jorge Guillén, Rubén Darío, Blas de Otero) und doch nie viel Aufhebens um sich machte? Die mit anderen Dichtern im Exil befreundet war, aber kaum über ihre eigene Dichtung sprach?

Aufgewachsen in einem liberalen Umfeld

Aufgewachsen war sie in einem liberalen Elternhaus: Ihr Vater, Dr. Heinrich Keller, war nicht nur ein bekannter Kinderarzt, sondern hatte auch mehrere sozialkritische Romane und ein Buch über Pädagogik geschrieben. „Er war sozialdemokratischer Bezirksrat und verstand sich als „Revolutionär“: Freigeist, antiklerikal, dem Fortschritt und dem Humanismus verbunden“, so Siglinde Bolbecher. Eine Haltung, die die Tochter übernahm – doch nicht nur dieses sollte für sie später, im Nationalsozialismus, zur Gefährdung werden. Keller war zwar konvertierter Protestant – dies schützte ihn jedoch vor dem Rassenwahn der Nazis nicht. Der Kinderarzt erzog seine Kinder religionslos. Später, 1938, löst sich Trude Krakauer von ihrem Taufbekenntnis, vollzieht die Aufnahme in die jüdische Gemeinschaft – als Bekenntnis und Zeichen der Zugehörigkeit zu ihrem verfolgten Volk. Man sieht an ihrer Biographie – da hat eine bereits in jungen Jahren ihren eigenen Kopf, sucht ihren Weg, will etwas bewegen. Einfach macht sie es ihrer Mutter Nelly, die in ihrer Jugend selbst Gedichte schrieb, nicht. Ein ganz anrührend zartes Gedicht ist dazu zwischen den zuweilen nüchtern bis trotzigen Tönen in ihrer Lyrik zu finden:

Meiner Mutter

Und oft, wenn ich`s zu arg getrieben,
Mein ich, mir sei kein Weg geblieben,
Und alles sei zu Ende.
Und dann kommst du und sprichst ein gutes Wort,
Wie du`s nur kannst und deine lieben Hände
Sie streicheln jedes Leid mir fort.

Vielleicht klingt in diesem undatierten Gedicht auch die Sehnsucht nach dem „Mutterland“, der „Muttersprache“, nach der vergangenen, einigermaßen in Takt gewesen Welt zurück. Doch Trude Krakauer weiß: Es gibt keine Umkehr.

Vorlesungen von Karl Kraus

Auch nicht in dieses Wien, in dem sie als junge Frau sich in der sozialistischen Jugendbewegung engagierte, an der Universität ausprobierte – zunächst auf Wunsch der Eltern im Studium der Medizin, dem folgten Staatswissenschaften, zugleich hörte sie Vorlesungen für Karl Kraus, für dessen Sprache sie sich begeisterte und dem ebenfalls Gedichte gewidmet sind. Bereits neben dem Studium arbeitet sie als Englischkorrespondentin für sozialdemokratische Stellen, ist von 1934 an aber für die Kommunisten illegal politisch tätig – ihr Verbleib in Österreich wird lebensgefährlich, bis sie durch ihre Jugendfreundin Thea Weiss ein kolumbianisches Arbeitsvisum erhält.

Dort dann der Aufbau einer neuen Existenz: Sie heiratet den mährischen Chemiker Dr. Emil Krakauer, arbeitet als Übersetzerin und Sekretärin in Bogotá, ist aktiv im “Comité de los Austríacos Libres”, für das sie zusammen mit der deutschen Schriftstellerin Margot Neumann-Hermer Literaturlesungen und andere Vorträge vorbereitet. Ab 1952 bis 1977 ist sie dann in der deutschen Handelsvertretung beschäftigt. Das ist der nüchterne Rahmen eines Lebens in der „neuen“, der anderen Welt. Die Bezüge zur Heimat werden immer weniger. Und klarsichtig erkennt sie wohl: Das ist Vergangenheit, sie warnt vor „Sehnsuchts-Vergoldungen der alten Heimat“ heißt es in dem Exilliteratur-Buch „Ferne Heimat, nahe Fremde“, herausgegeben von Eduard Beutner:

“Bei der im kolumbianischen Exil gelandeten Lyrikerin Trude Krakauer ist ebenfalls das Realitätsprinzip am Werk: „Erwürge endlich/das Kind in dir,/das spielen will. (…)/Lern`s mit verwandelten Zeichen zu rechnen:/plus ist gleich minus,/ Freude ist Schmerz.(…)/Lerne, dass Schönheit brennendes Leid ist,/lerne die Sprache, die nicht verbindet/lern`s mit verwandelten Zeichen zu rechnen“, heißt es, vergleichbar mit Jean Amérys bedrängenden Reflexionen über das schwierige Entziffern von Zeichen in der Fremde, bei Krakauer freilich aber zwecks lebensbewältigender Perspektive.”

Lebensbewältigung, nicht zurückschauen, nicht werden zu „Loths Weib“, wie eines ihrer Gedichte heißt. Es gelingt ihr einigermaßen. Und so trägt ihr vermutlich letztes Gedicht vom 12. Jänner 1987 den Titel „Zuletzt“ (Auszug):

Ich gehe mit mir jetzt sehr nachsichtig um,
Eine uralte Frau muß man schonen,
(…)
Der Weg war so kurz – oder war er so weit? –
Ich ging durch so viele Geschichten.

Informationen zum Buch:

Trude Krakauer · Theodor Kramer Gesellschaft (Hg.)
Niewiederland
Mit einem Nachwort von Siglinde Bolbecher
Theodor – Kramer – Gesellschaft, Wien
2013 · 96 Seiten · 12,00 Euro
ISBN: 978-3-901602-49-8

Erschienen ist der Gedichtband „Niewiederland“ bei der Theodor Kramer Gesellschaft: http://theodorkramer.at/

 

Friedrich Torberg: Die Tante Jolesch

„Die Tante Jolesch“ ein Buch der Wehmut, aber auch ein Buch, das zum Schmunzeln bringt: Anekdoten aus einer versunkenen Zeit.

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„Vom Kaffeehaus war schon so oft und ausgiebig die Rede, daß es sich fast erübrigt, ihm ein eigenes Kapitel zu widmen. Im Grunde ist ja dieses ganze Buch ein Buch vom Kaffeehaus. Kaum eine der auftretenden Personen wäre ohne das Kaffeehaus denkbar. Kaum eine der von ihnen handelnden Geschichten, auch wenn sie anderswo spielen, wäre ohne das Kaffeehaus entstanden. Kaum einer der hier verzeichnenden Aussprüche wäre getan worden, wenn es das Kaffeehaus nicht gegeben hätte. Für die auftretenden Personen war es der Nährboden, aus dem sie ihre geheimen Lebenssäfte sogen.“ 

Friedrich Torberg, „Die Tante Jolesch“


Wer sich ein wenig mit der spezifischen Form der Kaffeehausliteratur beschäftigt, der kommt an der Tante Jolesch nicht vorbei. Als Friedrich Torberg 1975 diese Anekdotensammlung veröffentlichte, bezeichnete der Schriftsteller und Journalist es als „ein Buch der Wehmut“ und sich selbst als einen der letzten, der aus eigener Kenntnis von einer verschwundenen Welt berichten konnte.

Anekdoten aus dem Wiener Kaffeehaus

Der Tante Jolesch gab er einen eindeutigen Untertitel: „Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten“. In der Tante Jolesch schrieb Torberg über die Menschen, die er gekannt und erlebt hatte – wie die Tante alle weiteren auch bestimmte Typen aus dem schwarzgelben Kulturkreis: Die tatkräftigen, oft bissigen Damen seines familiären Umfelds, die Kaffeehausliteraten, die Halbweltkünstler, die Schriftsteller und Journalisten und – nicht zu vergessen – die Kellner und Gastwirte, die eine ganz eigene Lebens- und Geistesart personifizierten.

Dies seien Käuze und Originale, so meinte Torberg (1908 – 1979), wie sie speziell diese Mischung aus k.u.k. Monarchie und jüdischem Bürgertum hervorbracht habe: Ausgestattet mit einem Witz, der mehr vom gesprochenen Wort denn vom geschriebenen Wort lebte, ein Witz, dem die Nationalsozialisten den Garaus machten. Nach dem „Anschluss“ ans Reich starb auch die österreichische Kaffeehausliteratur, ihre berühmtesten Vertreter wurden vertrieben, verjagt, ermordet.

Einblick in die Redaktion des Prager Tagblatts

Die Geschichten entführen den Leser an die Stammtische in Wien, Prag und Budapest, nehmen in mit zur Sommerfrische („Was die Natur betrifft, genügt mir der Schnittlauch auf der Suppe“), in die Redaktion des berühmten Prager Tagblatts, später aber führen sie auch in das Exil, wo sich die Versprengten unter anderem in der „Festung Europa“, einem Treffpunkt im Emigrantenviertel Hollywoods, sehen.

Kurz nach Erscheinen des Buches schrieb Dieter Hildebrandt darüber in der „Zeit“ unter dem Titel “Erinnerungsbrunnen auf Flaschen gefüllt”

“Torberg ist, wie Karl Kraus, „einer von den Epigonen, die in dem alten Haus der Sprache wohnen“, und was er mit der „Tante Jolesch“ und uns unternimmt, ist eine Wanderung durch dieses alte Haus der Sprache, eine ebenso einladende wie distanzierende Begehung, bei der Türen aufgemacht werden in Trauer und Respekt. Dies alte Haus ist aber bei Torberg kein linguistisches Abstraktum, keine ungewöhnliche Metapher; es liegt irgendwo in Kakanien, in einem Altösterreich, das immer weit über dessen Horizont ging, in einer Landschaft, in der, bei aller Sprachvielfalt, ein geniales gemeinsames Idiom sich ausgebildet hatte: die dialektische Weisheit der Juden, alttestamentarische Pointiertheit. Daß diese Sprache nicht nur das Privileg der Großen, der Vorzug der Schreiber – eines Kraus, eines Joseph Roth, eines Molnar –, sondern daß sie überall zu Haus war, auch bei Tante Jolesch und den ihren, an Kartentischen und in Wirtshäusern, in Redaktionszimmern und auf der Straße, will Torberg uns lehren. Daß dieses alte Haus nun leer steht, zeigt er uns mit einer Strenge, die eigentlich den Spaß nicht recht verstehen will, den der Anekdotenerzähler doch auch wieder gern herbeiführt.” 

Und so ist also  „Die Tante Jolesch“ ein Buch der Wehmut, aber auch ein Buch, das mich jedes Mal, wenn ich darin schmökere, zum Schmunzeln oder gar zum Lachen bringt. Für literarisch Interessierte ist es zudem eine herrliche Fundgrube – unter anderem setzt Friedrich Torberg all den namhaften Schriftstellern seiner Zeit ein anekdotenhaftes Denkmal: Egon Friedell, Karl Kraus, Peter Altenberg, Anton Kuh, Joseph Roth, Alfred Polgar, Egon Erwin Kisch, Karl Tschuppig und viele andere geben sich hier die Kaffeehausklinke förmlich in die Hand – so sehr, dass Hildebrandt schrieb:

„Nur manchmal hat der Leser das Gefühl, daß er, wie das Abendland, in Anekdoten untergeht.“

Doch der Geschichtenerzähler Torberg hatte und hätte noch mehr auf Lager gehabt – auf die Tante folgte ein weiterer Jolesch-Band sowie „Tante Jolesch und ihre Enkel“, das von ihm aber nicht mehr vollendet werden konnte. Und die Zeit der großen Kaffeehausliteraten: Sie ist vorbei. Grausam beendet. Friedrich Torberg zieht in seinem Vorwort diesen Schluss:

„Dies ist – ich sag`s zum Abschluß noch einmal – ein Buch der Wehmut. Vielleicht hätte ich ein Buch der Trauer schreiben sollen, aber die möchte ich doch lieber mit mir allein abmachen. Wehmut kann lächeln, Trauer kann es nicht. Und Lächeln ist das Erbteil meines Stammes.“


Informationen zum Buch:

Friedrich Torberg
Die Tante Jolesch
dtv Verlag
ISBN: 978-3-423-01266-9

Lina Loos: Das Buch ohne Titel

Sie war Autorin und Feuilletonistin, probierte sich auch in anderen Künsten aus, war aber vor allem eines: Die silberne Dame der Kaffeehausliteratur.

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Bild: Birgit Böllinger

„Ich bin Österreicherin durch und durch; im Zentrum der Stadt Wien geboren und in der Stephanskirche getauft. Das Leben hat mich später etwas an die Peripherie der Stadt abgedrängt, aber sonst geht es mir ganz gut. Ich hatte die Ehre, viele berühmte Wiener während meines schon etwas länger dauernden Lebens kennenzulernen, ja, es gab sogar eine Zeit, in der ich selbst etwas von solcher Berühmtheit besaß. Mein Bruder war Präsident des Bühnenvereines, meine Schwägerin Burgschauspielerin, und meine Eltern waren Besitzer eines der größten und bestgehenden Kaffeehäuser.

Ich war „mitberühmt“, einer der angenehmsten Zustände, die es gibt, aber damals war ich noch dumm – kurz, es stach mich der Hafer, und ich schrieb ein Theaterstück. Es wurde trotz meinen guten Beziehungen für Wien angenommen und wider jede bessere Erfahrung sogar gespielt.

Mein Sturz war jäh!

Die Bevölkerung brachte mir von nun an ein gewisses bürgerliches Misstrauen entgegen:
„Möcht` wissen, wozu dö dös nötig hat.“ Aber das Leben heilt alle Wunden, und nichts wird so rasch vergessen als ein Theaterstück, das nicht einmal aufsehenerregend durchgefallen ist.“ 

Lina Loos, „Das Buch ohne Titel“


Im Oktober 1882 erblickte sie das Licht der Welt, zunächst ausgestattet mit dem ganz und gar unglamourösen Namen „Karoline Obertimpfler“. Und doch avancierte sie in der Blütezeit der Wiener Kaffeehausliteratur zur „silbernen Dame“ – eine Bezeichnung, die der abgründig in sie verliebte Peter Altenberg ihr auf den Leib schrieb.

Beim Fräulein Obertimpfler, die sich später „Lina Loos“ nannte, kamen vorzügliche Eigenschaften zusammen: Ein wacher Geist, eine hohe Intelligenz, eine durchaus auch spitze Zunge, Humor und Herzenswärme und dies alles vereint in einer Frau von außerordentlicher Schönheit.

Begegnung mit Adolf Loos

Die Schauspielschülerin lernt, kaum in die Welt der Wiener Boheme eingeführt, am Peter-Altenberg-Stammtisch im „Löwenbräu“ den Architekten Adolf Loos kennen: Er sieht sie und macht ihr praktisch stante pede einen Heiratsantrag. Die 1902 geschlossene Ehe scheitert jedoch unter tragischen Umständen: Lina lässt sich auf ein Liebesverhältnis mit einem jüngeren Mann ein. Loos, weitaus weniger liberal, als er sich gibt, besteht auf einer Beendigung der Affäre – der junge Mann nimmt sich das Leben, der Skandal ist perfekt, 1905 wird die Ehe geschieden.

An Verehrern leidet Lina Loos auch in der Folge keinen Mangel: Peter Altenberg und Egon Friedell konkurrieren um sie, Männer wie Frauen sind fasziniert von ihrer Ausstrahlung. Zu ihrem weitgefächerten Bekanntenkreis zählt das „Who is who“ der österreichischen Literatur- und Kunstszene jener Epoche. In einem ebenfalls bei Edition Atelier ganz aktuell erschienenen Band mit Briefen („Du silberne Dame Du“, Edition Atelier, 2016) finden sich Briefe von und an Lina Loos mit ihrem geschiedenen Mann, mit Peter Altenberg, Egon Friedell, ihrem engen geistigen Freund Franz Theodor Csokor, mit Alfred Polgar, Joseph Roth, Karl Kraus, Vicki Baum, Else Lasker-Schüler und vielen anderen.

Femme fatale und Künstlerin

Wer war diese Frau? Eine attraktive „femme fatale“, schmückendes Beiwerk für schreibende Männer? Oder doch eine eigenständige Persönlichkeit, die sich sowohl als Schauspielerin, Kabarettsängerin und als Schriftstellerin verwirklichte?

Die beiden, von Adolf Opel herausgegebenen Bücher, geben Antwort: Lina Loos, so wird anhand der beiden Bücher deutlich, war eine mutige und außergewöhnliche Person, die sich, geprägt durch die Erfahrung zweier Weltkriege und die nationalsozialistische Diktatur, auch zunehmend dezidiert politisch engagierte und außerordentlich viel Zivilcourage besaß.

Ihre ganze Biographie kann bei fembio nachgelesen werden.

Das einzige Buch von ihr, das zu ihren Lebzeiten veröffentlicht wurde, ist „Das Buch ohne Titel“: Ab 1927 hatte sie im Feuilleton des „Neuen Wiener Wochenblattes“ kleine Geschichten, Skizzen, oft fast schon Aphoristisches aus ihrem Leben und ihrer Lebenswelt veröffentlicht – sie schreibt über ihre Familie, ihre berühmten Bekanntschaften, über das Theaterleben, ebenso aber auch über die „einfachen Leute“ in ihren Sieveringer Geschichten. Das sind meist liebevolle und unbeschwerte Petitessen, die bei ihrer Erstveröffentlichung 1947 den Zeitgeist wohl gut treffen – man sehnt sich nach den Jahren des „Anschlusses“ zurück nach der „Welt von gestern“.

Briefwechsel mit Egon Friedell

Weit eindrucksvoller kommt ihre gescheite Persönlichkeit in den Briefwechseln insbesondere mit Friedell und Csokor zum Ausdruck, auch wenn ihre eigenen Briefe nicht vollständig erhalten sind, man vieles aus den Antworten der schreibenden Herren „erlesen“ muss. Doch man erahnt, welch wachen Geist diese Frau hatte, die alles in Frage stellt, allem nachgeht, wissen und lernen will.

So schreibt sie am 5. August 1933 an Egon Friedell – privat und dringend!:

 „Lieber Egon, 

Glaubst Du, daß, wenn es gelänge, einen Gottesbeweis zu erbringen, die Menschen das Leben verantwortungsvoller leben würden?
ich denke an die Ungläubigen, die durch einen Verstandesbeweis überzeugt werden müßten.
Ist so ein Beweis denkbar? Was denkbar ist, wäre doch durchführbar! Hat Kant nur einen „gefühlsmäßigen“ Beweis erbracht?

Eben fällt mir ein: Leben die Gläubigen gar so verantwortungsvoll?

Das Dringend! entfällt somit!

Antworte mir, als hätte Dir ein Fremder geschrieben – dann hältst Du es für geboten, ausführlich und ernst zu antworten! 

Lina 

Nach 1945 schreibt die schwerkranke Lina Loos, die den Verlust zahlreicher Freunde durch den Krieg, Suizid und Exil zu beklagen hat, weiter Beiträge für Zeitschriften, sie engagiert sich im Österreichischen Friedensrat und beim Bund demokratischer Frauen. Sie stirbt, körperlich sehr entkräftet, 1950.

Die beiden beim Verlag „Edition Atelier“ herausgegebenen Bände über Lina Loos sind als Zeitzeugnisse beachtenswert, vor allem aber als Mosaiksteine zum Portrait einer leidenschaftlichen und klugen Frau. Die Bücher bezaubern auch durch ihre liebevolle Ausstattung. So sind zahlreiche Fotografien beigefügt, ein Lebenslauf mit den wichtigsten Daten und die Briefpartner von Lina Loos werden mit kurzen Portraits vorgestellt.


 Bibliographische Angaben:

Lina Loos
Das Buch ohne Titel
Edition Atelier, 2013
ISBN: 978-3-902498-70-0