Steffen Kopetzky: Risiko

„Risiko“ ist ein umfangreiches Wüsten-Abenteuer: Mit Schmökerqualitäten, aber auch mit Längen. Ein spannender, wenn auch konventioneller Roman.

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Bild von ErikaWittlieb auf Pixabay

„Das erste große Geschäft, das die Welt revolutioniert hat, war …nun?“
Zickler dachte nach, was Helphand zuvor gesagt hatte. Religion – Zucker fürs Volk.
(…)
„Aber Zucker wurde immer billiger. Das nächste große Geschäft musste her.“
Jetzt wusste Zickler natürlich schon, worauf es hinauslief: Opium. (…)
Mittlerweile, so führte Helphand aus, habe sich die Industrie tatsächlich gegenüber der agrarischen Produktion und den Genussmitteln, mit denen einst das große Geld verdient worden war, einen Vorrang erarbeitet. Das Genussmittel der Gegenwart sei etwas anderes: Energie.

Steffen Kopetzky, „Risiko“


Wenn Putin und Obama dieser Tage um die Deutungshoheit im Anti-Terrorkrieg rangeln, so glauben vermutlich nur noch hoffnungslose Romantiker, hier ginge es allein um humanitäre Hilfe für die syrische Bevölkerung und den Schutz westlicher demokratischer Werte. Es geht vor allem um die Stoffe, die das Weltgetriebe schmieren: Macht und Öl.

Wer Wind sät, wird Sturm ernten: Seit mehr als anderthalb Jahrhunderten werden der Nahe Osten und die Arabische Welt vom Westen als eine Art riesiges Depot betrachtet. Die Erdölvorkommen und andere Rohstoffe weckten und wecken Begehrlichkeiten. Die Kriege der jüngsten Zeit – wesentlich von wirtschaftlichen Motiven angetrieben – sie sind der Boden, auf denen der Terror wächst. Öl und Macht sind sowohl Motiv und Ziel aller machtstrategischen Planspiele, die die sogenannten Großmächte steuern. Das ist heute so, das war vor einem Jahrhundert so.

Ein wahnwitziges Unterfangen

Der Krieg ist die Mutter fast allen Wahnsinns: Und so erinnert Steffen Kopetzky in seinem über 700 Seiten starken Roman „Risiko“ an ein wahnwitziges deutsch-türkisches Unternehmen, das einige deutsche Soldaten mitten in das „great heartland“ imperialistischer russischer und britischer Politik führen sollte. Noch nie hatten zuvor Deutsche Afghanistan betreten – doch 1914 machte sich ein von Berlin gesteuerter Trupp nach Kabul auf, um von dort aus in einem deutsch-türkischen Bündnis die Völker des zerfallenden Osmanischen Reiches in einem „Dschihad“ gegen die Russen und Briten aufzuwiegeln. Was Lawrence of Arabia wenig später gelang – die zerstrittenen Stämme und Völker zu vereinen – endet bei dem deutschen Unternehmen in einem Fiasko.

Die Realität holt die Berliner Planspiele ein: Die Wirklichkeit am Tigris, in der siechenden Stadt Isfahan, in der Salzwüste Kewir und im harschen afghanischen Gebirge ist eben eine andere als das, was sich die Strategen in der wilhelminischen Hauptstadt zusammenträumten. Wobei der Motor dieser wahnwitzigen Operation ein durchaus erfahrener Orientalist war: Max von Oppenheim, der sich unter anderem als Archäologe einen Namen gemacht hatte.

Der Krieg als Stategiespiel

Nicht von ungefähr nannte Kopetzky seinen Roman jedoch auch nach einem Brettspiel, das, wie sich der Kaffeehaussitzer auch in seiner Besprechung erinnert, Mitte der 80er-Jahre vor allem von der männlichen Jugend begeistert gespielt wurde: „Risiko“ taucht im Buch als „Großes Spiel“ auf, das deutsche und türkische Offiziere fesselt. Der Krieg als Spiel – die Menschen und Einheiten werden zu Figuren, die strategischen Gesichtspunkten geopfert werden.

Geschickt treibt Kopetzky dieses Spielmotiv immer wieder voran, verknüpft die Erzählebene mit historischen Hintergründen, zeigt die politischen und militärischen Verwerfungen auf. Daneben führt er neben seinen fiktiven Hauptfiguren – unter anderem wird das Buch getragen von einem jungen bayerischen Marinefunker und dessen Gegenspieler, einem englischen Spion (der in die Rolle eines indischen muslimischen Prinzen schlüpft, zunehmend Identität sowie Verstand verliert und dabei nicht von ungefähr an den oben genannten Lawrence of Arabia erinnert) – auch historische Personen ein, unter anderem Max von Oppenheim als Stratege ohne Fortune. Der Vater von Albert Camus als algerisch-französischer Soldat hat ebenso einen Auftritt wie ein Verwandter von Robert Musil.

Zehn Jahre Recherche gingen dem Schreiben voraus

Für Kopetzky spricht, dass er besser als seine Strategen im Buch die Fäden in der Hand behält, die Nebenstränge der Erzählungen gut verknüpft und zusammenführt. Rund zehn Jahre soll der Autor für dieses Buch recherchiert haben – diese akribische Kenntnis über ein Einzelunternehmen in diesem „Großunternehmen“ des Ersten Weltkriegs geht allerdings manches Mal auch zu Lasten des Erzählflusses: „Risiko“ ist, wie es im Deutschlandradio hieß, ein „pompöses Orient-Abenteuer“, manche „Troddel“ an diesem Faktenteppich ist denn aber auch ein wenig zuviel.  An einigen wenigen Stellen braucht man als Leser durchaus langem Atem oder die Geduld eines Wüstenbewohners, um im Bild zu bleiben.

Dennoch: „Risiko“ ist ein gut lesbarer Abenteuerroman, hat seine Schmökerqualitäten und bietet einen Einblick in ein politisches Unterfangen, das uns heute wieder berührt – die Namen Damaskus, Aleppo, Kabul, sie prägen wieder unsere Nachrichten. Dass das Buch allerdings nicht von der Long- auf die Shortlist gelangte, ist in meinen Augen verständlich: Bis auf einige Längen durchaus flüssig erzählt, bleibt es sprachlich jedoch auf einer konventionellen Ebene. Und die Deutungsebene hinkt hinter dem Erzählen hinterher – die Figuren bleiben stellenweise eindimensional und blass, die eingebaute Liebesgeschichte ein wenig seicht (und ist im Grunde auch überflüssig), manchmal greift Kopetzky auch stilistisch etwas daneben. Dazu mehr in der Besprechung der „Zeit“, deren Tenor ich jedoch nicht teile: So trocken wie die Wüste ist „Risiko“ durchaus nicht – aber eben auch kein Roman, der Leser mitreißen wird, die wenig Affinität zu solchen Themen haben.


 Bibliographische Angaben:

Steffen Kopetzky
Risiko
Klett-Cotta Verlag, 2015
ISBN: 978-3-608-93991-0

Inger-Maria Mahlke: Wie ihr wollt

Inger-Maria Mahlke hat sich eine der turbulentesten Epochen der englischen Geschichte für „Wie ihr wollt“ herausgepickt. Ein moderner und frischer Roman.

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Bild: (c) Michael Flötotto

Alles ist faul im Staate Heinrich Blaubarts und seiner Nachkommen. Da wird am Hofe Elisabeths I. antichambriert, hofiert, intrigiert, um Leib, Leben und Status gekämpft und dennoch ist aufgrund verwickelter Verwandtschaftsverhältnisse, unüberschaubarer Machtspiele und unüberbrückbarer Religionsfragen kein Kopf vor dem Rollen sicher. Und über alledem thront die Queen – die die Fäden in harter Hand hält, die die Puppen tanzen lässt.

Düstere Atmosphäre eines Kammerspiels

Inger-Maria Mahlke hat sich eine der turbulentesten Epochen der englischen Geschichte für ihren Roman „Wie ihr wollt“ herausgepickt. Und legt damit ein Buch vor, das kräftig gegen die allgemeinen Klischees und gegen den Strich in Sachen Historienroman gebürstet ist: Die Heldin, das ist keine strahlende, liebreizende, holde Jungfer, ein positiver Held fällt komplett aus, und überhaupt mangelt es an echten Sympathieträgern in diesem Roman, in dem alles Verwicklung ist bis hin zur überaus verschachtelten Erzählstruktur und seiner düsteren, ausweglosen Kammerspiel-Atmosphäre. Zudem wird der historische Stoff, der eine interessante Figur des elisabethanischen Zeitalters in den Mittelpunkt rückt, durch eine moderne, frische Sprache konterkariert.

Also die Warnung gleich vorneweg: Das ist kein Roman fürs „easy reading“. Wer sich die englische Geschichte und Shakespeare-Dramen nicht bereits schon verinnerlicht hat, wird sich zunächst bei der Lektüre dieser „literarischen Aneignung eines historischen Stoffes“ (so die Autorin über ihren Roman) schwer tun. Und auch der vorangestellte Stammbaum sowie Kurzcharakteristika der Figuren am Ende des Buches erleichtern den Lesefluss nicht – das Buch ist beinahe aufgebaut wie ein Puzzlespiel, mit Sprüngen vor- und rückwärts durch die Chronologie und Familiengeschichte, so sprunghaft wie der Gedankenfluss der Anti-Heldin.

Mary Grey ist die Hauptfigur

Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Mary Grey, einer kleinwüchsigen Adeligen mit entfernten Thronansprüchen und einer unstatthaften Heirat. Wer Elisabeths ehernen Willen zuwider handelte, wurde kurzerhand verbannt (die gesündere Variante), in den Tower verfrachtet oder geköpft. Nicht wenige aus Mary Greys Verwandtschaft ereilte dieses Schicksal – getowert und geköpft. Für letzteres schien jedoch auch die echte Mary Grey nicht wichtig oder gefährlich genug – jahrelang wurde sie bei königlichen Gewährsleuten gefangen und vom Hofe fern gehalten. Der Roman setzt dort an, als die frisch verwitwete Mary sich um eine Rehabilitierung bemüht – erlebtes Erzählen, Tagebuchnotizen der Protagonistin, Erinnerungsfetzen und kleine dramatische Szenen mit ihrer Dienstmagd fügen sich nur allmählich zu einem Gesamtbild zusammen.

Im Grunde ist der Roman ein düsteres Kammerspiel mit zwei Personen – ein Beziehungsdrama zwischen einer eingesperrten Kleinwüchsigen, die trotz innerer Opposition und Rebellion auch die Träume von Anerkennung und Aufstieg nicht unterdrücken kann und ihrer sperrigen, wortkargen Dienerin, die Reibungsfigur, Gefangenenwärterin und Verbindungsperson zur Außenwelt zugleich ist.

Sprunghafte Erzählweise

Wer die Lesekonzentration für die sprunghafte Erzählweise aufbringt, der kommt in den Genuss eines durchaus unterhaltsamen Psychogramms: An den bissigen Ergüssen des „Giftzwergs“ Mary Grey, die in inneren Monologen zunehmend deutlicher ihre Verbitterung und Bosheit über Intriganten, Karrieristen und Wendehälse ausschüttet, kann man sich ergötzen.

Ans Herz wächst einem die arme Gefangene dennoch nicht. Mary Grey ist letzten Endes keine Identifikationsfigur – ist sie doch nicht nur in den Ketten ihrer körperlichen Behinderung gefangen, sondern auch in den Ketten ihrer eigenen (Macht-)Ansprüche. Ihr Käfig ist – trotz allem Willen zur Selbstbehauptung – auch ein Selbstgewählter. Sie bleibt eine Getriebene, eine, die nach öffentlicher Anerkennung als Mitglied des Hofes hungert. Zwar könnte man Mary Grey trotz ihrer Widersprüchlichkeit und äußerlichen Machtlosigkeit auch als moderne Frauenfigur interpretieren – in ihren Tagebucheinträgen wird der kritische, distanzierte Blick auf Ränkespiele und Neurosen deutlich, analysiert sie das Geschehen klar und begehrt dagegen zumindest in ihren Notizen auf, auch wenn sie selbst Gefangene ihrer eigenen Herkunft bleibt. Dennoch bleibt sie als Figur ambivalent, zweideutig.

Ein Anti-Shakespeare-Stück

Das trotzige „Wie ihr wollt“ des Titels bezeichnet ein Anti-Programm zum shakespearianischen Illyrien in „Was ihr wollt“: Wer mich (Mary Grey) nicht will, der hat halt schon gehabt…eine Trotzreaktion, weil die Hauptfigur nur zu deutlich erfährt, wie es ist, wenn man in mehrfacher Hinsicht nicht dazugehört, wenn man ausgeschlossen bleibt.

Der Roman ist konzeptionell eine Herausforderung – man könnte auch sagen: streckenweise etwas mühsam in seiner Verklitterung. Doch Inger-Maria Mahlke punktet (bei mir zumindest) mit einer lakonischen, teils bissigen, teils knochentrockenen Sprache. Dennoch war ich über die Platzierung auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis überrascht – aber so ist es eben mit Jury-Entscheidungen: Wie es Euch gefällt.


Bibliographische Angaben:

Inger-Maria Mahlke
Wie ihr wollt
Berlin Verlag, 2016
ISBN: 978-3-8333-1077-5

Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf

Melinda Nadj Abonji: Die in Serbien geborene Schriftstellerin, die heute in der Schweiz lebt, gewann mit diesem Roman den Deutschen und den Schweizer Buchpreis

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Dragana dreht sich von mir weg, packt den Sparschäler, rüstet Kartoffeln und Karotten, die einfachsten Tätigkeiten, die nicht mehr für sich stehen, nur davon zeugen, dass wir hier nichts tun, denke ich, sagt sie, und ich sehe es plötzlich klar vor mir, die beiden Welten, die einander gegenüberstehen und sich nicht vereinbaren lassen, wir hier in der Schweiz und unsere Familien in Jugoslawien, im ehemaligen Jugoslawien, wie man sagt, das sind meine Feinde, und Dragana zeigt auf die Kartoffelschalen, fährt sich mit dem Handrücken über die Augen, ja, wir leben hier, die Schweizer, im Zuschauerraum, denke ich, das ist zumindest eine Wahrheit.“

Melinda Nadj Abonji, „Tauben fliegen auf“


Die 1968 in Serbien geborene Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji. , die heute in der Schweiz lebt, gewann mit „Tauben fliegen auf“ 2010 den Deutschen und den Schweizer Buchpreis.

Die Küche eines kleinen Schweizer Cafés als Mikrokosmos, als Abbild des jugoslawischen Völkergemisches, in dem die verschiedenen Nationalitäten aufeinanderprallen – Serben, Kroaten, Bosnier. Melinda Nadja Abonji erhielt für ihren Roman 2010 den Deutschen Buchpreis. Zu Recht. Nadj Abonji, selbst aus der Vojvodina stammend, dieser serbischen Region mit hohem ungarischen Anteil, beschreibt hier ihre Familiengeschichte. „Papierschweizer“, die sich ihr „menschliches Schicksal“ in der Eidgenossenschaft erst noch erarbeiten müssen. Die Eltern sind aus wirtschaftlicher Not in die Schweiz gekommen, lange, bevor der Bürgerkrieg die Nation Jugoslawien ein für alle mal verändert.

Zwischen zwei Welten

Dieser Krieg holt die Familie in der neuen Heimat ein und trennt sie zugleich von der alten, kappt die Wurzeln: Im Ungewissen bleibt, was mit den Familienangehörigen dort geschieht. In der neuen Welt, bei den „Käsigen“, noch nicht richtig angekommen, vielleicht auch immer „Mischwesen“ bleibend, ist der Zugang zur Herkunft gekappt.
Aber auch dort, in dieser Kultur, waren sie bereits „die Schweizer“. „Mein Land liegt im Sterbebett“, sagt einer der Flüchtlinge. Und die neue Heimat ist keine Geburtswiege, keine Gemeinschaft, die Fremde ohne weiteres aufnimmt.

Abonji erzählt dies nicht anklagend, nicht lamentierend. Im vordergründigen Sinne ist das Buch zudem eher ein Entwicklungsroman: Wie sich eine junge Frau auch aus dem Korsett der Familie löst, wie sie, hineingeworfen in die neue Welt, anfängt, eigene Wege zu gehen. Das gibt am Ende auch Hoffnung, dass Ankommen – zumindest in der zweiten Generation – doch möglich ist.


Bibliographische Angaben:

Melinda Nadj Abonji
Tauben fliegen auf
Jung und Jung Verlag, 2010
ISBN: [978-3-99027-120-9]

Ippolito Nievo: Am Ufer des Varmo

Die Dorfgeschichten von Ippolito Nievo erinnern an ein altes, ländliches Italien, an eine versunkene Welt.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Das Titschen war allerdings der angenehmste Zeitvertreib, dem sie am häufigsten frönten, und leider würde ich dem urtümlichen bäuerlichen Ausdruck jede Anmut rauben, wenn ich Euch sagte, er bedeute, flache Kieselsteine mit einer kräftigen Armbewegung so über das Wasser zu werfen, dass sie merkwürdige Sprünge und Rutschpartien vollführen. Dennoch möchte ich den Unglücklichen, die sich noch nie an diesem poetischem Zeitvertreib ergötzt haben, gerne erklären, worin er besteht; und die Kundigen möchte ich beschwören, den anderen zu beweisen, dass das Beobachten der hüpfenden Kieselsteine, die zuerst die Oberfläche des Baches berühren, dann wie reuig oder widerspenstig in die Höhe fliegen, um darauf wie verliebte Kobolde zu einem zweiten und längeren Kuss zurückzukehren, und schließlich zierlich über die flüssige Oberfläche rollen und eine Furche wie aus festem Silber graben, dass, wie gesagt, die Beobachtung all dessen der unschuldigste und schönste Zeitvertreib ist.“

Ippolito Nievo, „Am Ufer des Varmo“


Er beschrieb die einfachen Freuden der einfachen Leute (wenn auch nicht immer in einfachen Sätzen – die Verschachtelungen erfordern ebenso viel Aufmerksamkeit wie das Titschen): Ippolito Nievo. Obwohl 1831 in Padua geboren und dann durch das Studium lange Zeit ein „Städter“, widmete sich Nievo in seinen Erzählungen den sogenannten „kleinen Leuten“ auf dem Lande.

Dem früh verstorbenen Schriftsteller blieb nicht viel Zeit für seine Werke: Nievo, der sich für einen italienischen Nationalstaat einsetzte und an der Seite Garibaldis kämpfte, kam bereits 1861 bei einem Schiffsunglück ums Leben. In dieser kurzen Lebensspanne hatte er zwei Romane verfasst, darunter die berühmten „Bekenntnisse eines Italieners“. Sowie etliche Novellen, Dorfgeschichten, die vom täglichen Leben der Kleinbauern und Tagelöhner im Friaul erzählen, vom Niedergang des Landadels, von Menschen, die sich um ihr tägliches Brot abrackern und sich dabei doch Herzensgüte bewahren (bis auf einige verschrollene und verdorbene Charaktere, die die Geschichten beleben).

Von Umberto Eco und Italo Calvino hochgeschätzt

Vielleicht liegt es an dem der Romantik verpflichteten Stil, vielleicht an der Darstellung einer längst versunkenen Welt, die uns fern erscheint, dass Nievos Erzählungen bislang nicht in das Deutsche übersetzt wurden. Der Folio Verlag (Wien/Bozen) hat in einer schönen gebundenen Ausgabe drei dieser Dorfgeschichten herausgebracht, übersetzt von Karin Fleischanderl. Und weckt so verdienstvollerweise erneut die Erinnerung an Ippolito Nievo, der von italienischen Schriftstellern späterer Generationen wie Umberto Eco und Italo Calvino hochgeschätzt wurde.

Sicher grenzen die Figuren Nievos manches Mal an das Klischeehafte: Der herzensgute, aber verarmte Adelige, die sich aufopfernde Magd, der treue Bräutigam, der hinterlistige Stutzer, die böse Alte…doch zugleich legt er auch feine psychologische Studien vor, beispielsweise in der Beschreibung einer verwöhnten, ungebärdigen Müllerstochter, die als Kind und junge Frau ihrer zerrissenen Gefühle nicht Herr wird – bis die Erkenntnis dämmert. Und auch wenn manche Sätze so wirken, als verklärten sie die Armut der Landbevölkerung

„Die Küche, deren einziger Schmuck der Ruß war und die sich für gewöhnlich durch eine gewisse Sauberkeit auszeichnete, wodurch selbst die Armut ein wenig schöner erscheint (…),

so sind die Darstellungen an anderer Stelle lebensecht und von durchaus historischem Wert: Sie sprechen von einem Italien, das damals das Armenhaus Europas war. Die romantischen Elemente der drei übersetzten Erzählungen „Am Ufer des Varmo“, „Die Heilige aus Arra“ und „Der kleine Anwalt“ liegen darin, dass die „moralisch guten“ Menschen immer ein glückliches Ende und ein Ausgang aus einer Notsituation erwartet, dass es das Schicksal denn doch gut mit ihnen meint und daher- neben der eigenen Aufrichtigkeit und Integrität – oft eine unerwartete Fügung alles zum guten Ende führt.

Nachdenken über moralisches Handeln

Manche mögen dies überholt finden, andere naiv: Doch Nievo wollte, wie Karin Fleischanderl, die Übersetzerin schreibt, „seine Zeitgenossen mithilfe von Literatur zu moralischem Denken und Handeln“ anhalten. Es gibt schlimmere Ziele, würde ich meinen, und es gibt weit weniger erbauliche Wege, dies zu tun: Denn insgesamt überwiegt ein feiner, literarischer Stil, der Humor Nievos und seine Beschreibungskraft jeden missionarischen-moralischen Eifer.

Allein die Beschreibung des Titschen ist ein wunderbares Kapitel, das auch davon spricht, wie sehr sich wohl auch Nievo selbst noch diesen einfachen, kindlichen Freuden hingeben konnte. Wenn man heute durch Italien fährt, trifft man ab und an in Bergdörfern oder an abgelegenen Orten alte Menschen auf dem Dorfplatz, die wahre Geschichtenerzähler sind: In ihnen findet sich ein Stück von Nievo wieder. Und wer beispielsweise „Die Verlobten“ von Manzoni mag, der wird auch diese Erzählungen goutieren.


Bibliographische Angaben:

Ippolito Nievo
Am Ufer des Varmo
Übersetzt von Karin Fleischanderl
Folio Verlag
ISBN 978-3-85256-578-1

Alfred Polgar: Marlene. Bild einer berühmten Zeitgenossin

Das Portrait der Dietrich, das Alfred Polgar zwischen 1937 und 1938 verfasst hatte, wurde Jahrzehnte später erst entdeckt und erschien erstmals 2015.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Es war die zweite von links, die, im kritischen Augenblick, den Revolver hob und die Kanaille niederschoss. Sie schoss von einer Treppe herab, die im Hintergrund sich wendelte, sie blieb dort stehen, als die Tat getan war, und sah auf das Opfer mit einem Blick, in dem Uninteressiertheit, kindliche Neugier, Müdigkeit und Gefühl schicksalhaften Unvermögens zu verstehen (wie es aus dem Tier-Auge trauert) sich mengten.“

Das war Mitte der zwanziger Jahre in Wien, und „die Dietrich“, damals noch ein kleines Sternchen, schoss nicht nur die Kanaille ab, sondern auch einen Amor-Pfeil mitten in das Herz eines Kritikers: Alfred Polgar. Ein Liebespaar wurden sie zwar nie, aber Polgar behielt sie im Augen und den Pfeil im Herzen – davon zeugt ein Text, der fast 80 Jahre brauchte, um an die Öffentlichkeit zu gelangen:

„Marlene. Bild einer berühmten Zeitgenossin“


Insgeheim dachte ich mir das immer schon: Die Wiener Kaffeehausliteraten um Karl Kraus – Egon Friedell, Peter Altenberg, Anton Kuh, um nur einige zu nennen – saßen nicht nur im Café Central und schrieben vor sich hin, feilten an ihrem Sprachwitz und debattierten über Politik. Denn selbstverständlich ging es wohl häufig auch um ein zentrales „Stammtisch“-Thema: Frauen. So muss es gewesen sein, als Alfred Polgar erstmals die junge Schauspielerin in Wien auf der Bühne saß. Sie wurde sofort Gesprächsstoff, ein Dietrich-Club wurde gegründet, und die Herren verzückten sich in juveniler Schwärmerei.

Ein literarisches Zeugnis davon wurde von dem Feuilletonisten Ulrich Weinzierl – gemeinsam bereits mit Marcel Reich-Ranicki Herausgeber der Werke von Alfred Polgar – wiederentdeckt: Die Auftragsarbeit „Marlene. Bild einer berühmten Zeitgenossin“. Das Portrait der Dietrich, das der ganz offensichtlich entflammte Polgar zwischen 1937 und 1938 verfasst hatte, wurde von Weinzierl Jahrzehnte später erst entdeckt und erschien nun, 2015, erstmals beim Zsolnay Verlag.

Meister der Prosaskizze

Was soll man über Polgars Text heute sagen? Ähnlich wie Peter Altenberg war er ein Meister der Prosaskizze, ähnlich wie Karl Kraus ein Sprachkünstler, ähnlich wie Joseph Roth ein begnadeter Feuilletonist, der über Kultur und Politik weitsichtig, scharfzüngig und offenherzig schrieb. Wer Alfred Polgar in seiner Tiefe und Bandbreite kennenlernen will, der greife besser zu den „Kleinen Schriften“. Denn der Marlene-Text hat zwei Haken: Er ist eine „Auftragsarbeit“ und es fehlt die Distanz zum „Objekt“. Er war halt von Kopf bis Fuß auf Marlene eingestellt:

„Vor allem die Beine, die berühmt hohen, hoch berühmten Beine Marlenes, die seit dem „Blauen Engel“ rechtens Weltpopularität genießen. Es sind Beine, die dem modernen ästhetischen Anspruch an solche vollkommen gerecht werden. Elegante Beine, schlank und fest, überzeugend parallel, sehr zart in der Linie, die über die Kuppe des Knies in kaum merklicher, sanfter Rundung hinüberzieht…(…)“

Immer schön, wenn Beine parallel stehen – da weiß man nicht, ist dies schon Ironie oder immer noch Überschwänglichkeit. Der andere, reflektiertere Polgar kommt bei solchen Zeilen durch:

„Marlene liebt ein zurückgezogenes, stilles Leben im engsten Kreise. Natürlich ist Luxus nichts, woran sie litte; aber Überfluss zu entbehren bedeutet ihr keine Entbehrung. Nun gilt ja gewiss, dass die bescheidene Lebensform für den, der zu ihr nicht genötigt ist, einen anderen Akzent hat als für den, der sich in sie fügen muss; den kleinen Verhältnissen fehlt das Bittere, wenn die großen nur beurlaubt sind und jederzeit einrückend gemacht werden können.“

Solche Sätze entschädigen für jeden stilistischen Beinbruch.

Einer der bekanntesten Essayisten seiner Zeit

Alfred Polgar, in Wien und Berlin der 1920er Jahre einer der bekanntesten Essayisten seiner Zeit, musste als Linksliberaler und Jude ab 1933 um sein Leben fürchten. Zunächst hatte er sich vor den Nazis aus Berlin zurück in die Wiener Heimat gerettet, auch dort war jedoch für ihn und seine Frau nach dem „Anschluss“ kein Bleiben mehr. Die Schweiz, Südfrankreich, Spanien, waren die ersten Stationen der Flucht, bis das Ehepaar 1940 in die USA emigrieren konnte.

Martin Meyer schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung:

„In diesen Jahren entstand – auch im Sinne einer Kompensation verlorener Schreibgründe – das Projekt eines Essays über Marlene Dietrich für den Wiener Verlag von Wilhelm Frick. Marlene und ihr Mann hatten zugestimmt, ein Vertrag wurde unterschrieben, die Arbeit konnte beginnen. Aber wie? Polgar kramte in seinen Erinnerungen, entwarf ein Schema mit Kapiteln und Motiven und wurde von Marlene zu ersten Gesprächen empfangen, als diese im Sommer 1937 mit ihrem Hofstaat am Wolfgangsee ein paar Ferienwochen genoss. Hier der Kritiker in den Nöten seiner Existenz; dort die Diva in der Überfülle der Zuwendungen. Doch man verstand sich gut, einiges Material lief zusammen, auch wenn Polgar bald darauf bekannte, dass er keine «echte Stimmung» mehr empfinde und in eine «ironische Einstellung zum Thema» hineinzurutschen drohe.“

Von dem Abgleiten in das Ironische ist im Text wenig zu spüren. Zum einen fühlte sich Polgar wohl auch der Dietrich verpflichtet, die ihm – wie anderen Emigranten auch – öfter unter die Arme griff. Zum anderen ist er zu „dicht“ dran, das „verliebt in sie war ich schon auch“ ist zu spüren, manches Mal gleitet das Buch, bei aller Eleganz der Sprache, fast schon in jungenhafte Schwärmerei ab. Die Dietrich, deren Gesicht ähnlich wie das der Garbo, in seiner Flächigkeit und Ebenmäßigkeit wie für den Film geschaffen schien, gleicht in meinen Augen beinahe einer Maske. Das Geheimnis hinter der Maske: Polgar lüftet es nicht. Zu dicht dran ist er als Betrachter. Aber das ist vielleicht auch gut so: Man will die Geheimnisse der (Film-) Göttinnen nicht wissen, man will sie nicht von ihrem Sockel des Überirdischen stürzen sehen.

Ein Dokument der Zuneigung

Die Schattenseiten der Diva lüfteten später andere – die Tochter in einer als Buch veröffentlichten Abrechnung, diejenigen, die sich später mit „Enthüllungen“ einen kurzen Platz im Rampenlicht erhofften.

Polgars Text dagegen ist ein Dokument der freundlichen Zuneigung und in der Zeit verhaftet: Die Dietrich erlebte ab Mitte der 1930er-Jahre, was es heißt, als „Kassengift“ abgestempelt zu werden. Vielleicht sollte auch der Text, der dann aufgrund der Kriegswirren nicht erschien, ihren Glanz mitaufpolieren, der Imagepflege dienen. Sie brauchte ihn letztendlich nicht – 1939 gelang ihr mit „Der große Bluff“ das Comeback als Kassenschlager. Polgar dagegen hatte in Europa kein zuhause mehr: Wie viele Emigranten gelangte er in die USA und verdingte sich einige Zeit in den Schreibstuben der Traumfabrik.

So ist dieses Portrait, das Bild einer berühmten Zeitgenossin, eher etwas für ausgesprochene Marlene-Fans, oder für Leser, die sich einfach am Sprachstil Polgars erfreuen möchten. Noch einmal dazu Martin Meyer:

„Im Untertitel zu «Marlene» heisst es: «Bild einer berühmten Zeitgenossin». Ein solches Bild, ganz aus dem Geist der Epoche gezogen, interessierte heute nur noch beschränkt. Was der Essay wirklich leistet, liegt nun ganz im Jenseits der Historien – nämlich in der Art und Weise, wie Polgar die Porträtierte zu einem «Text» erhebt. Es ist seine Prosa, immerfort neugierig nervös nach Wort, Satz und Rhythmus suchend, die die Hauptrolle übernimmt und deren Charme wir erliegen, derweil uns längst egal sein darf, welches Wesen Marlene denn tatsächlich war – oder gewesen sein könnte.“

Knapp die Hälfte des 160 Seiten umfassenden Buches nehmen das Nachwort von Weinzierl und die editorischen Anmerkungen ein. Weinzierls Ausführungen sind eine Anschaffung des Buches wert: Kenntnisreich vollzieht er die Lebenswege der beiden Protagonisten – Polgar und Dietrich – nach, schöpft aus dem Vollen seiner literaturwissenschaftlichen Kenntnisse, spannt knapp und gut lesbar einen Bogen von Wien über Berlin nach Hollywood. Weinzierls Text ist eine Freude sowohl für Polgar-Kenner als auch für Filmfans.

Über seine Zeit in Hollywood schrieb Polgar 1942 in dem Artikel „Leben am Pazifik“ (Quelle: „Musterung, Kleine Schriften, Band 1“, rororo, Ausgabe 2004):

„Die Emigrantengespräche am Pazifik, zumal in Hollywood, wenden sich, nachdem das über globalen Krieg und globales Elend sachlich zu Sagende gesagt und die angehäuften persönlichen Bitterkeiten ausgeschüttet sind, gern dem Film zu. Sie verweilen dort längere Zeit und werden mit sonderbarer Erbitterung geführt. Die Urteile über pictures gehen weit auseinander und sind von unbedingter Entschiedenheit und abschließender Radikalität. Zwischen „begeistert“ und „angewidert“ gibt es da kaum eine mittlere Meinung. Was „begeistert“ anlangt, ist nun allerdings zu erwähnen, daß in picture-Sachen „begeistert“ ein Hollywooder Mindestausdruck der Bejahung ist. Hat z. B. jemand das getan, was am Pazifik weit verbreiteter Brauch ist, nämlich eine Filmstory verfaßt, so sind von ihr zuversichtlich alle – Familie, Freunde, Agenten und sämtliche Instanzen der Studios – begeistert; und nicht begeistert ist am Ende nur der Verfasser, mit dessen jedermann begeisternder Geschichte niemand etwas anzufangen wußte.“


Bibliographische Angaben:

Alfred Polgar
Marlene
Bild einer berühmten Zeitgenossin
Zsolnay Verlag, 2015
ISBN: 978-3-552-05721-0

Peter Altenberg: Im Volksgarten

„Im Volksgarten“ erschien erstmals 1896 in der Sammlung „Wie ich es sehe“, Prosaskizzen, die auf Vermittlung von Karl Kraus beim S. Fischer Verlag erschienen.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Im Volksgarten“ erschien erstmals 1896 in der Sammlung „Wie ich es sehe“.
Karl Kraus hatte die Prosaskizzen Peter Altenbergs (1859 – 1919), den er aus dem Kaffeehaus kannte, kurzerhand an den S. Fischer Verlag geschickt. Nach „Wie ich es sehe“ folgten noch weitere Buchpublikationen, dennoch lebte der Bohemien stets am Rande des Existenzminimums. Hier findet sich ein ausführliches Portrait.

»Ich möchte einen blauen Ballon haben! Einen blauen Ballon möchte ich haben!«

»Da hast du einen blauen Ballon, Rosamunde!«

Man erklärte ihr nun, daß darinnen ein Gas sich befände, leichter als die atmosphärische Luft, infolgedessen etc. etc.

»Ich möchte ihn auslassen – – –«, sagte sie einfach.

»Willst du ihn nicht lieber diesem armen Mäderl dort schenken?!?«

»Nein, ich will ihn auslassen – – –!«

Sie läßt den Ballon aus, sieht ihm nach, bis er verschwindet in den blauen Himmel.

»Tut es dir nun nicht leid, daß du ihn nicht dem armen Mäderl geschenkt hast?!?«

»Ja, ich hätte ihn lieber dem armen Mäderl geschenkt!«

»Da hast du einen andern blauen Ballon, schenke ihr diesen!

»Nein, ich möchte den auch auslassen in den blauen Himmel!« –

Sie tut es.

Man schenkt ihr einen dritten blauen Ballon.

Sie geht von selbst hin zu dem armen Mäderl, schenkt ihr diesen, sagt: »Du lasse ihn aus!«

»Nein«, sagt das arme Mäderl, blickt den Ballon begeistert an.

Im Zimmer flog er an den Plafond, blieb drei Tage lang picken, wurde dunkler, schrumpfte ein, fiel tot herab als ein schwarzes Säckchen.

Da dachte das arme Mäderl: »Ich hätte ihn im Garten auslassen sollen, in den blauen Himmel, ich hätte ihm nachgeschaut, nachgeschaut – – –!«

Währenddessen erhielt das reiche Mäderl noch zehn Ballons, und einmal kaufte ihr der Onkel Karl sogar alle dreißig Ballons auf einmal. Zwanzig ließ sie in den Himmel fliegen und zehn verschenkte sie an arme Kinder. Von da an hatten Ballons für sie überhaupt kein Interesse mehr.

»Die dummen Ballons – – –«, sagte sie.

Und Tante Ida fand infolgedessen, daß sie für ihr Alter ziemlich vorgeschritten sei!

Das arme Mäderl träumte: »Ich hätte ihn auslassen sollen, in den blauen Himmel, ich hätte ihm nachgeschaut und nachgeschaut – – –!«

Peter Altenberg

„Im Volksgarten“ ist einer der Sprechtitel auf André Hellers wunderbarer Schallplatte „Bei lebendigem Leib“. Beim Zuhören sieht man die Ballons förmlich in den Himmel verschwinden…eigentlich müssten all die wienerisch-federleicht-melancholischen Skizzen, die Altenberg mit Worten malte, gesprochen gehört werden. Weil man dann auch versteht: Auslassen, loslassen, ist immer schwieriger für den, der von vornherein wenig hat…

Joseph Mitchell: Old Mr. Flood – Vom Fischessen, Whiskey, Tod und Wiedergeburt

Joseph Mitchell, der Chefreporter des New Yorker, war schon zu Lebzeiten legendär. Seine Reportagen waren mehr als das, waren Literatur.

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Bild: (c) Michael Flötotto

Mein Bekannter Mr. Hugh. G. Flood, ein zäher, dreiundneunzigjähriger ehemaliger Abbruchunternehmer mit schottisch-irischen Wurzeln, erklärt gerne, dass er felsenfest entschlossen ist, bis zum Nachmittag des 27. Juli 1965 zu leben, wenn er hundertfünfzehn Jahre alt wird. „Mehr will ich gar nicht“, sagt er. „Ich will nur hundertfünfzehn werden. Das reicht mir.“

Joseph Mitchell. „Old Mr. Flood. Von Fischessen, Whiskey, Tod und Wiedergeburt“


Das nenne ich Glück. Zumindest Leserglück. Ein Glückstreffer: Die Reportagen des Joseph Mitchell, die der Diaphanes Verlag seit einiger Zeit in einer Reihe herausgibt. Erstmals sind dadurch die Texte dieses journalistischen Urgesteins der USA in Deutsch zu lesen. Das jüngste Buch in dieser Reihe, „Old Mr. Flood“ versammelt drei Reportagen aus den 1940er Jahren. Diese gehen schon stilistisch weit über das hinaus, was bei uns gewöhnlich als Reportage gewertet wird – sie sind literarische Erzählungen. Zudem ist die Titelfigur, Old Mr. Flood, fiktiv: Eine Type, angelehnt an die Originale, die der Reporter bei seinen Streifzügen in New York kennenlernte.

Herrscher des Fischmarkts in Manhattan

Old Mr. Flood ist „klein und runzlig“, hat wachsame, eisblaue Augen und ist stets überaus korrekt, wenn auch altmodisch gekleidet. Und er ist der heimliche Herrscher des Fulton Fish Markets in Manhattan. Obwohl selbst nicht im Fischhandel tätig gewesen, weiß keiner so viel über Fische und Muscheln wie er. Man kann gut und gern behaupten: Sein ganzes Leben dreht sich um nichts anderes als Fische. Er wohnt in einem „verschlafenen Hafenhotel“, wo er abends mit seinen Kumpels, mehr oder weniger noch knackig und auf den Beinen, über Fische spricht. Tagsüber treibt er sich auf dem Markt herum, kontrolliert die Ware, führt Pläuschchen mit den Händlern, hält sich auf dem neuesten Stand über Fischfanggebiete und die jüngsten Fänge, testet die Fischlokale der Gegend und setzt – vor allem wenn er mit seinem Reporter-Freund zusammenkommt – die phänomenalsten Fischlegenden in die Welt.

Vorbild für Generationen amerikanischer Reporter

Das alles ist so lebendig und bildhaft geschildert, man wähnt sich beim Lesen mittendrin im Geschehen. Wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film mit einem Walter Matthau als brummiger, aber liebenswerter Hauptfigur. Der Geruch des Marktes, der Geschmack von Salzwasser, die Geräusche des Hafens – sie bilden den sinnlichen Hintergrund beim Lesen. Das bewirkt vor allem die direkte, schwungvolle und bildliche Sprache, die Joseph Mitchell, Vorbild für Generationen amerikanischer Reporter, eindrucksvoll beherrschte. Er erweckte Wörter zum Leben, ließ aus Sätzen Bilder werden und würzte dies noch unnachahmlich mit einer guten Dosis Humor:

Mr. Flood warf einen Blick darauf und sagte: „Oh Gott, was ist das? Ist das einer von diesen Schreiberlingen, die sich in den Zeitungen über Restaurants ausbreiten und vor Begeisterung nicht mehr einkriegen, egal was man ihnen vorsetzt? Jede Zeitung hat inzwischen einen, der über Restaurants schreibt, einen Experten, der seine Meinung zum Besten gibt, und wenn er arbeitslos wär und in ein Restaurant gehen und um eine Stelle bitten würde, dieser Kochexperte, dieser Alleswisser mit seiner ganzen Erfahrung, dann würden sie ihn nicht mal die Kartoffeln für den Eintopf schälen lassen.“

„Der Herr ist eben ein Gurmet“, sagte Mr. Murchison. „Komm schon, lies vor, was er schreibt.“
Mr. Flood las ein, zwei Absätze. Dann grunzte er und reichte mir den Artikel. „Gott helf uns mein Sohn“, sagte er. „Lesen Sie.“

Mr. Beebe beschrieb in der Kolumne eine Mahlzeit, die von Edmond Berger, dem Chef de cuisine des Colony Restaurant, für ihn und einen Freund „aufgefahren“ worden war. Ausführlich erging er sich über das Menü. Ein Gang, der Fischgang, war „Filet de Sole en Bateau Beebe“. „Die Seezunge, von Chef Berger anlässlich unseres Mahls ersonnen und liebenswürdigerweise auf den Namen des Verfassers dieser Zeilen getauft“, schrieb Mr. Beebe, „war ein delikates Filet, angerichtet auf einer halben gebackenen Banane, ein Trick, den man sich merken sollte.“
„Grundgütiger!“, sagte Mr. Flood.

„Hört sich gut an, was?“, fragte Mr. Murchison. „Ne halbe gebackene Bannaneh mit nem delikaten Stück Flunder drauf. Warum hat er nicht gleich noch ne rote Schleife drumgebunden, wenn er schon dabei war?“

„Als Nächstes legen sie noch eine Kirsche auf gekochten Kabeljau“, sagte Mr. Flood. „Wie wär`s damit, ein delikates Stück Kabeljau, auf dem eine Kirsche angerichtet ist?“
Die beiden Männer gackerten.

Zumal Mr. Flood eine fiktive Figur war, werden wir nie erfahren, ob er sein Ziel, den 115. Geburtstag zu feiern, mittels der von ihm propagierten Fischdiät erreichte. Doch zuzutrauen wäre es dieser Figur, wäre sie denn leibhaftig gewesen, durchaus: Soviel Lebensfreude und Lebenskraft strahlen diese Menschen aus, von denen der Reporter Mitchell erzählte. Es sind, so schrieb Jörg Häntzschel in einer Besprechung in der Süddeutschen Zeitung, „Lebensreportagen“.

Kraftvolle Reportagen aus New York

Zwar handeln sie von einer Welt, die so inzwischen nicht mehr existiert – nicht mehr das Alte-Männer-Hotel, nicht mehr der Fischmarkt. Und sie handeln von Menschen, die nicht mehr leben. Aber die Erzählungen, diese selbst, sie bleiben lebendig. Und das ist der Kraft des Erzählers zu verdanken. Ein wenig neidisch schielt man da schon über den großen Teich auf diese journalistische Kultur der kraftvollen, erzählerischen Reportage, die bei uns im Grunde mit den großen Namen der Weimarer Republik – Kisch und Roth, um nur zwei zu nennen – untergegangen ist.

„Old Mr. Flood“ kann ich getrost jedem empfehlen, der seine Freude hat an hervorragend geschriebenen Reportagen UND Erzählungen. Mitchell führt einfach vor, wie man eine Geschichte schreibt, wie man Erzählungen vorantreibt. Und seinen Lesern damit große Freude bereitet. Dazu muss man nicht einmal unbedingt Fischliebhaber sein.

Joseph Mitchell selbst war wohl auch so ein Original wie die von ihm beschriebene Gang der alten Männer: Er war Mitbegründer des New Journalism, Chefreporter des New Yorker und wurde dabei zur lebenden Legende. 1964 schrieb er mit „Joe Gold`s Secret“ seine letzte Reportage. Danach veröffentlichte er keine einzige Zeile mehr, ging aber trotzdem bis zu seinem Tod 1996 jeden Tag in die Redaktion.


Bibliographische Angaben:

Joseph Mitchell
Old Mr. Flood
Geschichten von Fischessen, Whiskey, Tod und Wiedergeburt

Übersetzt von Sven Koch und Andrea Stumpf
Diaphanes Verlag, 2017

Cormac McCarthy: Ein Kind Gottes

Nüchtern, beinahe empathielos erzählt McCarthy von unfassbarer menschlicher Grausamkeit. Gnadenlos, unerbittlich, aber von großer Schönheit in der Sprache.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Ballard, ein kleines Wesen, das mit dem Gewehr in den Armen brütend dort hockte, beobachtete sie vom Bergsattel aus. Es regnete seit drei Tagen. Der Bach weit unter ihm über die Ufer getreten, die Felder überflutet, mit Winterkraut und Futtergewächsen gefleckte, stehende Wasserflächen.“

Cormac McCarthy, Ein Kind Gottes


Mein Einstieg in den harten, düsteren Kosmos des Cormac McCarthy begann, wie vielleicht bei vielen anderen deutschen Lesern auch, mit einem Film: „No Country for Old Men“, natürlich geprägt durch die Handschrift der Coen-Brüder, nachhaltig in Erinnerung durch Javier Bardem in der Rolle des Killers Chigurh. Die wohl seltsamste Frisur eines Serienmörders in der Filmgeschichte. Die Frisur symbolisiert den Unterschied zwischen Film und Buch. Denn natürlich birgt der Film manche ironische Brechung, typisch für die Coens, aber atypisch für McCarthy. Dem ist es todernst mit seinen Aussagen. In dessen Büchern stößt man auf keine Ironie, keinen Witz. Was das Menschliche anbelangt, sind sie von einer harten, nackten, nüchternen Sprache. Sie eröffnen den Blick in eine grausame, menschenfeindliche Welt. Und überraschen mit einer eigenen poetischen Sprache.

Über das Kino also lernte ich diesen Autoren kennen, dessen Romane mittlerweile fast alle in deutscher Übersetzung vorliegen. Nun auch sein dritter Roman, 1974 unter dem Titel „Child of God“ herausgekommen, jetzt in der deutschen Übertragung von Nikolaus Stingl.

Ein Höhlenbewohner in den USA

„Ein Kind Gottes“. Auch Lester Ballard ist ein Kind Gottes, wenn man darunter das Menschsein an sich begreift. Auch wenn er, der schon ganz unten ist, noch weiter herabkommt, unmenschlich erscheint, Unmenschliches tut. Er ist und bleibt ein Kind Gottes, soll wohl auch bedeuten, nichts Menschliches ist uns fremd oder in der Umkehrung, dass alles mögliche, auch das Schlimmste, menschenmöglich ist.

Der schmale Roman beginnt mit der Versteigerung eines Hauses. Ballard, zuvor schon ein Einzelgänger, verliert damit wahrhaftig den Grund und Boden unter den Füßen, zieht sich immer mehr in die Einsamkeit zurück, mutiert zum Höhlenbewohner: Und das in den USA der 60erJahre. Als Ballard eines Tages ein totes Liebespaar in der Ödnis findet, scheint es, als verabschiede er sich dadurch gänzlich aus der menschlichen Gemeinschaft. Der Außenseiter nimmt die weibliche Leiche mit, staffiert sie aus, sie wird, auf Zeit, zu seiner Lebensgefährtin. Eine Metapher für die grenzenlose Einsamkeit dieses Mannes und für seine Unfähigkeit zur Mitteilung, zur Kommunikation, zur Anpassung. Ein tödlicher Kreislauf nimmt mit dieser ersten Leiche seinen Anfang.

Alttestamentarische Grausamkeit

Es braucht starke Nerven, um dieses Buch zu lesen, das so offensichtlich nüchtern, fast schon empathielos von menschlicher Grausamkeit erzählt. Dennoch ist das kein Trash, keine Splatterliteratur. Die Bücher von McCarthy bergen etwas Alttestamentarisches in sich. Man werfe einen Blick in die Bibel und stößt auf eine ganze Bandbreit von Gewalttaten. „Ein Kind Gottes“ muss nicht nach Verantwortung und Schuld fragen, das erklärt sich aus dem Buch selbst. Wie aus den anderen Romanen McCarthys auch: Die Veranlagung zur Gewalt, zum Bösen, zum Dunklen liegt in jedem Menschen begraben.

„Die Hunde querten als dünne, dunkle Linie den Schnee auf dem Hang des Höhenrückens. Weit unter ihnen lief der Eber, den sie verfolgten, mit seinem merkwürdig steifbeinigen Schritt dahin, hochrückig und tiefschwarz vor der Winterlandschaft. Das Geläute der Hunde hallte in dieser riesigen fahlblauen Leere wider wie die Rufe dämonischer Jodler.“

„Schuld“ allerdings liegt nicht nur im Handeln des Einzelnen, zudem ist der „Held“ des Romans intellektuell und moralisch kaum auf der Höhe, seine Handlungen zu bewerten und zu ermessen. „Schuld“, das zeigt auch dieses Buch des Amerikaners, ist ebenso sehr eine Gesellschaft, die erntet, was sie aussät. Es gibt kaum eine zynischere Bezeichnung für Menschen, die außerhalb der gesellschaftlichen Normen stehen bzw. die aus den Rastern der Leistungsgesellschaft gefallen sind, als die vom „white trash“, „weißer Müll“ – als seien sie, die Ausgestoßenen, keine Kinder Gottes mehr.

In der Einsamkeit des amerikanischen Westens

Wenn auch seine Romane – so die Border Trilogie – oft in der Einsamkeit des amerikanischen Westens spielen und aus der Zeit herausgefallen wirken: Cormac McCarthy autopsiert den Zustand einer niedergehenden Gesellschaft. Dazu passen die Bilder von Seph Lawless, die heute beim Bloggerkollegen Gerhard Emmer zu sehen sind, auch wenn sie ein anderes Phänomen amerikanischen Niedergangs zeigen.

Cormac McCarthys Welt – manchmal beinahe unerträglich gnadenlos, unerbittlich, von klirrender Kälte, aber auch von großer Schönheit in der Sprache:

„Ein Wald, alt und tief. Dereinst hatte es auf der Welt Wälder gegeben, die niemanden gehörten, und dieser glich ihnen. Auf dem Hang kam er an einem vom Wind gefällten Tulpenbaum vorbei, der im Griff seiner Wurzeln zwei feldkarrengroße Steinbrocken hochhielt, gewaltige Tafeln, auf denen mit Kameen urzeitlicher Muscheln und im Kalk geätzten Fischen nur eine Geschichte von verschwundenen Meeren geschrieben stand.“


Cormac McCarthy
Ein Kind Gottes
Übersetzt von Nikolaus Stingl
Rowohl Verlag, 2014
ISBN: 978-3-499-26799-4