In einem Hörsaal des Brechtbaus der Universität Tübingen wird eine Studentin tot aufgefunden. Die Todesursache ist unklar, die Polizei tappt noch ein halbes Jahr danach im Dunkeln. In den Unterlagen der Toten findet sich eine rätselhafte Botschaft, die einerseits ihre Studieninteressen verrät, andererseits eine versteckte Drohung enthält. Durch Zufall fällt die Notiz Max Kersting, einem jungen Maler, in die Hände, den das Geheimnis und die Tote zu interessieren beginnen. Als auf ihn ein Anschlag verübt wird, beißt er sich erst recht an dem Fall fest. Was steckt hinter dem mysteriösen »Herbarium«, von dem da die Rede ist? Warum will man Kersting am Recherchieren hindern? Kommissar Neunzig nimmt den »Hobby-Detektiv« zunächst nicht ernst, da passiert ein neuer Mord: Im Parkhaus der Universität wird eine Professorin, Dozentin der toten Studentin, erschlagen aufgefunden. Gehören die beiden Fälle zusammen? Die Spuren, die Zeichen, die Kersting hartnäckig und erfindungsreich verfolgt, führen tief in die so gelehrte wie geschlossene Gesellschaft der schwäbischen Alma mater hinein – und weit über Tübingen hinaus nach Frankfurt und Konstanz.
Gert Ueding, 1942 geboren, lebt bei Heidelberg, bis 2009 Ordinarius für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen, bis 2012 Gastprofessor an der Universität St. Gallen. Essayist, Literaturkritiker verschiedener großer Zeitungen, u. a. der FAZ und der Welt. Mitglied zahlreicher literarischer Jurys, u. a. der Jury zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels sowie zur Bücherbestenliste des SWR. Bei Klöpfer & Meyer hat er über viele Jahre die renommierte Essayreihe ›Promenade‹ herausgegeben. 2016 erschien, hoch gelobt, in drei Auflagen: Wo noch niemand war. Erinnerungen an Ernst Bloch.
Stimmen zum Buch:
„Einen solchen Roman kann nur jemand schreiben, der den Universitätsbetrieb von innen kennt. Kann das Ueding? Auf jeden Fall.“ – Lothar Schöne, Die Rheinpfalz
„Eine unterhaltsame und darüber hinaus bereichernde Lektüre.“ – Claus-Peter Clostermeyer, Schwäbische Heimat
“Uedings brandmarkende Erzählung liest sich spannend und unterhaltsam, und gerade dies scheint ihre Anklage noch zu verschärfen.” – Stefan Nienhaus, Am Erker, Nr. 82
„Ein kurioses Herbarium der Germanistik, ein spannender Debütroman, ein Lesevergnügen.“ – Michael Braun, Forschung & Lehre
„Gert Ueding hat einen bemerkenswerten Roman geschrieben.“ – Otto A. Böhmer, Wiener Zeitung
“Ich hoffe, dass Gert Ueding Lust auf Krimis bekommen hat und vielleicht weitere Fälle mit Kersting schreibt. Ich würde sie gerne lesen.” – Esthers Bücher
Gastautor Florian Pittroff bringt heute wieder einmal etwas für die Freundinnen und Freunde der Spannungsliteratur. Obacht!
„Tote Hand” ist bereits der achte Teil der genialen oberbayerischen Krimi-Reihe mit dem sachlichen Kommissar Wallner und dem etwas unbeständigen Polizisten Kreuthner. Wie alle andern Teile auch spannend, reizvoll und wunderbar amüsant geschrieben. Dabei bleiben witzige Dialoge niemals auf der Strecke.
(…) Und in dem Moment spannt der Fuchs, dass mir hinschauen, und haut ab.« Kreuthner hob die Hände, und die Geste besagte in etwa: Was es nicht alles gibt. »Schöne Geschichte. Und was ist wirklich passiert?« »Ja, glaubst am Polizeikollegen vielleicht net? Jetzt wird’s aber hint höher wie vorn.« (…)
Mich überzeugt der Schreibstil von Andreas Föhr. Ich bin ein Fan der kurzen Kapitel, die immer wieder zum Weiterlesen animieren, so dass man fast versucht ist, das Buch bis zum Ende nicht mehr aus der Hand zu legen.
Darum geht’s:
„Kommissar Clemens Wallner von der Kripo Miesbach und Polizeiobermeister Leonhardt Kreuthner, liebevoll “Leichen-Leo” genannt, bekommen alle Hände voll zu tun, als ausgerechnet der Schafkopf-Held Johann Lintinger durch eine Schrottschere seiner rechten Hand beraubt wird. Ein würdiges Begräbnis muss her für diese legendäre Rechte, beschließt Polizeiobermeister Leonhardt Kreuthner, und so wird gleich neben einer alten Kapelle, die hinter dem Garten der Mangfall-Mühle steht, ein Grab ausgehoben. Dabei macht »Leichen-Leo« seinem Spitznamen mal wieder alle Ehre, denn der Ruheplatz ist bereits belegt: von einer männlichen Leiche“…
Die „Tote Hand“ ist auf den ersten Blick sehr komplex und vielschichtig. Aufbau, Entwicklungen und Verknüpfungen an den verschiedensten Orten – ausgehend von Berlin, über Miesbach, Waakirchen, Rottach-Egern und zurück nach Berlin – sind vortrefflich. Der gelernte Jurist Föhr schreibt seine Story mit Handlungen in der Gegenwart und in der Vergangenheit blitzgescheit und zum Schluss wird logisch aufgelöst.
Nicht zu vergessen die Geschichte in der Geschichte über die schrulligen und sonderbaren Zusammenhänge im Privatleben von Wallner mit Großvater Manfred.
(…) Wallners Großvater hatte sich verändert. (…) Zum Beispiel rasierte er sich jeden Tag. Bis vor einem halben Jahr hatte einmal die Woche genügt. Und er setzte sich in die Sonne. Der letzte Sommer hatte viel Sonne gebracht, und Manfreds faltiges Gesicht hatte eine sportliche Bräune bekommen. (…)
Andreas Föhr braucht keine blutigen Gewaltszenarien, Kommissar Wallner und der Polizist Kreuthner müssen keine coolen Cops mit aalglatter Uniform und überheblichem Gehabe sein, um beim Leser zu punkten. Die beiden leben durch ihren herrlich ehrlichen Charakter, den Andreas Föhr ihnen angeschrieben hat und das nun schon zum achten Mal.
Ich bin ein wahrer Hardcore-Fan von Andreas Föhr und seinen Wallner und Kreuthner Krimis!
„Darren dachte an den blonden Jungen auf dem Foto, versuchte sich die Moral eines Kindes vorzustellen, das die Erwachsenen um sich herum lediglich imitierte. Das war es doch, oder? Er verabscheute die Vorstellung, in einem Land zu leben, das Rassisten heranzüchtete, voller Bosheit und Hass und, noch bevor sie erwachsen waren, hart wie die Erde ihrer Heimat.“
Attica Locke, „Heaven, My Home“.
Wer dieser Tage die Bildern von waffenstarrenden Menschen in Tarnanzügen sah, die das Parlament in Michigan stürmten, der sah eindrucksvoll und auf eine beängstigende Art und Weise, wie gespalten das Land unter der Präsidentschaft Trumps bereits ist, wie gewaltbereit seine Anhänger ihren durchaus fragwürdigen Begriff von individueller Freiheit verteidigen wollen. Vieles, was in den USA in den letzten Jahren geschah, ist scheinbar für uns in good old Europe nicht nachvollziehbar – aber wer weiß, welche Zeiten uns nun erwarten?
Wie das Land sich wendete, welche uralten Ressentiments und Vorurteile in der Zeit zwischen der Präsidentschaftswahl und der „Inauguration“ hochkochten, was da an Rassismus nur darauf lauerte, wieder aus der Deckung kriechen zu dürfen: Auch das ist Thema von „Heaven, my home“, dem zweiten Kriminalfall der Schriftstellerin Attica Locke um ihren afroamerikanischen Ermittler Darren Mathews.
Der Titel ist nicht bar der Ironie: Denn sowohl Darrens eigene, urinnerste Heimat ist bedroht als auch die der Nachfahren entflohener Sklaven und indianischer Ureinwohner in Hopetown, eine Enklave im Osten von Texas. Weder dort, in den ärmlichen Häusern Hopetowns, noch in den White-Trash-Trailern der Anhänger der Arischen Bruderschaft, die sich illegal auf dem Gelände breitgemacht haben, herrscht der Himmel auf Erden. Beide Gruppen stehen sich unversöhnlich gegenüber, verteidigen ihr Anrecht auf das Land, eine Situation, die sich zuspitzt, als ein Kind der Arischen Bruderschaft über Nacht verschwindet.
Die Unmöglichkeit der Versöhnung ist ein Kernthema dieses Romans, in dem auch die Hauptfigur Darren Mathews vor die Herausforderung gestellt wird, seine Koordinaten neu auszurichten: Es ist nicht alles schwarz oder weiß, „Black And White, Unite! Unite!“ eine Illusion in der Trump-Ärä.
„Vergebung als kollektives Bedürfnis verlangt, den Zorn über die Abwertung und Verletzung zu unterdrücken: Morde, Gewalt und Ungerechtigkeiten hinzunehmen, Loyalität gegenüber den Unterdrückern zu bekunden. Deshalb kann sie helfen, sich der Kriminalität und Grausamkeit systemischer Unterdrückung und Gewalt zu stellen, mit der Vergangenheit abzuschließen. Aber sie kann auch zu einem rituellen Vergessen führen; sie beseitigt die Unterdrückung nicht, fordert keine Reue oder Wiedergutmachung, bringt keine radikalen sozialen Veränderungen“, schreibt Sonja Hartl im Nachwort zu dem Roman.
Dass das Recht nicht Gerechtigkeit schafft, dass es Grauzonen gibt, dass Versöhnung die Bereitschaft beider Seiten anbelangt: Dies alles lernt Mathews sowohl in privaten als auch in beruflichen Belangen schmerzhaft.
„Das war der Teil, der wehtat, der Schmerz, der bis ins Mark ging. Nachdem er jahrelang von dem Glauben an eine universelle Neigung zur Gerechtigkeit eingelullt worden war, sah er, wie wenig Freunde und Nachbar an sein Leben dachten, an sein Anrecht auf dieses Land. Nach Obama war es Verrat an der Versöhnung.“
Die Gemengelage ist schwierig: Mathews selbst ist privat in einem Mord an einem Mitglieder der arischen Bruderschaft verstrickt, will einen alten Freund der Familie, in dem er den Täter vermutet, beschützen. Seine Mutter, bestes Beispiel für das, was in dysfunktionalen Familien geschieht, nutzt ihr Wissen, um Geld und Zuneigung zu erpressen. Sein Vorgesetzter macht Druck, um den Nazis noch vor der Einsetzung von Trump-Beamten einen Schlag zu versetzen. Das FBI wiederum, verkörpert durch Darrens engen Freund Greg, der vermutlich eine Beziehung zu Darrens Frau hat, will im Fall der Kindesentführung unbedingt ein Mitglied der schwarzen Gemeinde dingfest machen – im vorauseilenden Gehorsam und als Nachweis an die Trump-Beamten, dass man bei den Ermittlungen auf keinem Auge blind ist.
Das alles ist klug konstruiert und spannend aufgebaut bis zum überraschenden Ende. Ein erstklassig geschriebener Pageturner, der tief blicken lässt in den rassistischen Morast, in dem sich die Menschen in Trumps Amerika bewegen. Das Ende zumindest ist für den aus dem Gleichgewicht gebrachten Texas Ranger in einer Hinsicht versöhnlich. Wenn auch auf einer fragilen Ebene. Der Himmel, er muss warten.
Informationen zum Buch:
Attica Locke Heaven, My Home
Aus dem Amerikanischen von Susanne Mende
Polar Verlag, 2020
Gebunden mit Schutzumschlag, 322 Seiten, EUR (D) 22,00 / EUR (A) 22,50
ISBN 978-3-945133-91-0
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„Dies war die schönste Zeit des Tages, wenn er aus tiefer Nacht erwachte und erkannte, dass alles in Ordnung war. Die Welt der Träume, der er dann manchmal entstieg, war ganz und gar nicht in Ordnung. Er wusste das, obwohl er sich beim Erwachen kaum je an einen genau umrissenen, erzählbaren Traum erinnern konnte. Bloß an beängstigende Unordnung, in der alles Vernünftige aus den Fugen geraten war.“
Hansjörg Schneider, „Hunkeler in der Wildnis“.
Es hat etwas Beruhigendes, den Hunkeler zu lesen.
Beruhigungsfaktor Nummer eins: In seiner Bärbeißigkeit, seiner Misanthropie ist der Hunkeler eine Konstante. In seinem zehnten Fall nun zwar im Ruhestand, bleibt er immer noch genervt von den Kollegen, den Mitmenschen, den Umständen des Lebens überhaupt. Das Granteln und Grummeln deutet jedoch auf eine besondere Feinfühligkeit hin, die nur ausgeglichen werden kann durch weitläufiges Spazierengehen, stundenlanges Sitzen bei einem Wein vor dem Haus, durch Steingeschosse in die Fenster der laut feiernden Nachbarn (dass das Geschoss versehentlich das Fenster eines verschreckten alten Ehepaares zertrümmert, bringt die seelische Konstruktion wieder gefährlich ins Wanken).
Beruhigungsfaktor Nummer zwei: Manchmal schielt man neidvoll auf die eidgenössischen Nachbarn, bei denen so manches anders, aber nach außen hin immer so proper erscheint. Der Hunkeler mit seinem großen Verständnis für die Abgehängten, Abseitigen, Verwirrten, er nimmt einen mit hinter die Fassaden. Beispielsweise ins Basler „Milchhüsli“, eine Kneipe, wo schon einmal ein Betrunkener auf dem Boden pennt. Man lernt mit dem Alt-68er Hunkeler: Die Schweiz hat ihren Reiz, aber eben nicht für jeden. Jede Gesellschaftsordnung, die auf Konsum und Kapital basiert, produziert auch ihre Opfer. Um die sich der Hunkeler dann, Ruhestand hin oder her, kümmert.
Beruhigungsfaktor Nummer drei: Hunkeler-Krimis zu lesen, das ist immer mehr, als „nur“ einen Krimi zu lesen. Das „literarische Gewissen“ darf sich beruhigend einlassen – das ist mehr als bloße Spannungsliteratur (das ist es im Grunde sogar am wenigsten), sondern immer auch Gesellschaftskritik, Philosophie, Lebenskunst. Meist rutscht der Kriminalfall nach hinten, in diesem, dem zehnten Fall sogar ein bisschen zu sehr: Der Tod eines Kritikers (das löst bei Walser-Lesern zunächst einen Schreckmoment aus) wird beinahe linker Hand aufgelöst, ist im Grunde nur der Rahmen. Hansjörg Schneider lässt seinen brummigen Ermittler diesmal mäandern durch Stadt (Basel), Land (Elsass) und Fluss (eine Runde im Rhein zu schwimmen, gehört da einfach dazu) und führt seine Leser somit in ganz verschiedene Lebenswelten, die von obdachlosen Ex-Kommunisten, streunenden Stadt-Indianerinnen, von Alkoholikerinnen und ätherisch scheinenden Künstlerinnen bewohnt werden. Geschickt verknüpft Schneider Gegenwart und Vergangenheit, zeigt auf, wie die Verstrickungen der Menschen während des Nationalsozialismus auch heute noch im Drei-Länder-Eck nachwirken.
Hunkeler zu lesen, das ist auch eine Übung in Entschleunigung. So unzulänglich einem die Welt da draußen auch erscheint, nach einigen Stunden mit dem philosophierenden Ex-Kommissar kommt man wieder in seine Mitte. Ohm. Ein Fazit, das auch Sylvia Staude von der Frankfurter Rundschauzieht:
„Allemal geht es bei Hansjörg Schneider mehr um Lebensphilosophie in schweizerischer Gelassenheit und leiser Melancholie, als um einen Whodunnit. Die Sache mit dem toten Kritiker ist bald nur ein Nebenbei. Und es stimmt schon, dass Hunkeler auch aufbrausend sein kann. Aber als Leserin kommt man mit ihm zur Ruhe, wird trotzdem nicht im Seichten unterhalten.“
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„Als ich an einem Sonntagnachmittag Anfang September nach Hause kam, stolperte ich auf der Treppe über eine scharfe Rothaarige. Ich hatte am Freitag ein misslungenes Casting bei Hal Roach gehabt, danach auf dem Nachhauseweg einen oder drei auf das Labor-Day-Wochenende getrunken und dachte zuerst, ich würde sie nur träumen. Aber sie saß da wirklich, auf der Treppe vor meinem Zimmer im ersten Stock im Halbdunkel, und rauchte eine Zigarette. Nachdem ich das Gaslicht im Flur aufgedreht hatte – obwohl das laut meiner Vermieterin Mrs. Balzheimer tagsüber strikt verboten war – vergaß ich zunächst sogar, mich zu entschuldigen und meinen Hut zu lüften. Sie war Anfang Zwanzig, und über ihren Körper war ein knappes Kleid gespannt, so eng wie eine zweite, nachtblaue Haut.“
Christof Weigold, „Der Mann, der nicht mitspielt“, Kiepenheuer & Witsch Verlag Köln, 2018.
Das eigentlich Schlimme am Skandal um Harvey Weinstein fand ich: Es war ja nichts Neues. Da die Filmindustrie ein System ist, in dem es um sehr viel Geld, Karrieren und Schönheit geht, konnte man sich an allen Fingern ausrechnen, dass dort systematisch das geschieht, was geschieht, wenn korrumpierte Männer Macht ausüben. Das eigentlich Schlimme an diesem Skandal ist es, dass es mehr als ein Jahrhundert dauerte, dass mit #MeToo eine Protestbewegung begann, die es vielleicht erreicht, die Strukturen von „Hollywood Babylon“ wirklich zu ändern.
1965 brachte der avantgardistische Filmregisseur Kenneth Anger unter dem Titel „Hollywood Babylon“ einen voluminösen Schinken heraus, der all die Skandale der Traumfabrik seit ihrem Start in den sonnigen Hügeln Kaliforniens auflistete. Das Buch: Eine knallige und dramatische Abfolge von Drogenexzessen, Sexorgien, Suiziden und Mordfällen. Ein Schmökerstoff auch für Voyeure, ist das Buch zwar auf Krawall angelegt und nicht unbedingt sorgfältig recherchiert, aber es zeigt eines – in Hollywood ging es hinter den Kulissen immer schon weitaus heftiger zu als auf der Leinwand. Das Buch wurde selbst zum Skandal, war jahrelang verboten und durfte erst 1975 wieder veröffentlicht werden. Wenn es darum geht, den schönen Schein zu wahren, ist den Mächtigen von Hollywood jedes Mittel recht.
So auch im Fall des Stummfilm-Komikers Fatty Arbuckle, dem Anger ebenfalls ein großes Kapitel widmete: War es doch das erste Mal, dass einer der Schauspiel-Götter vor Gericht landete. 1921 wird der Filmstar wegen der Vergewaltigung mit tödlicher Folge an einer jungen Schauspielerin, Virginia Rappe, angeklagt.
Die Suche nach den wirklichen Hintergründen – Fatty Arbuckle wurde übrigens freigesprochen, aber seine Karriere war zerstört – dies ist der erste Fall von Hardy Engel, einem Deutschen, der der durch den Weltkrieg zerstörten Heimat gen Hollywood entfloh, hoffte, dort als Schauspieler Fuß zu fassen versucht und sich schließlich als Privatdetektiv durchschlägt. Ein Kriminalroman, der in der Stadt der gefallenen Engel spielt, das hat Potential – leider kann es „Der Mann, der nicht mitspielt“ nicht ganz erfüllen.
Der Kriminalroman war der Auftakt zu einer neuen Reihe bei Kiepenheuer & Witsch und der erste Roman des Theater- und Drehbuchautors Christof Weigold. Die Filmerfahrung des Autoren macht sich bei diesem Roman, der immerhin rund 630 Seiten braucht, um sich zu entfalten, positiv bemerkbar: Verfolgungsjagden in finsteren Vierteln, Recherchen in Opiumhöllen, erotische Zwischenspiele mit seiner schönen Auftraggeberin Pepper – der Krimi bietet eine Menge an filmreifer Szenen. Durchaus originell und intelligent ist zudem die Lösung des Falls: Virginia Rappe starb tatsächlich an einer Bauchfellentzündung, Weigold konstruiert daraus ein finsteres Geflecht aus Promiskuität, Schwangerschaftsabbrüchen und Vergewaltigung. Und zeigt die Filmmogule – im Mittelpunkt dabei der in meiner Heimatstadt geborene Carl Laemmle – als zynische Geldmacher, die sich eine Moralinstanz kaufen, um Hollywoods Glanz wieder aufzupolieren. Tatsächlich wurde nach Virginia Rappes Tod 1922 die „Motion Picture Association of America“ gegründet, die das Image der Filmindustrie reinwaschen und eine Art freiwilliger Selbstzensur einführen sollte. Schöner Schein.
Dass Weigold sich ganz offensichtlich in die Geschichte der Filmindustrie reingekniet hat und eine ganze Menge dieses Wissens in seinen Roman packt, das ist zugleich auch dessen Manko: Der Arbuckle-Fall wäre die perfekte Vorlage für einen hard-boiled-Thriller im Stile James Ellroys, er könnte ähnlich konstruiert sein wie „Die schwarze Dahlie“ oder „Stadt der Teufel“. Dazu aber ist das Buch stellenweise zu langatmig, die Geschichte zu konstruiert, zu vollgepackt mit Playern und Namedropping – fast ein Lexikon der Stummfilmzeit.
„Der Mann, der nicht mitspielt“ ist solide Unterhaltung, glänzt durch gute Recherche und durch hollywoodreife Szenen. Inzwischen ist bereits der zweite Fall, “Der blutrote Teppich”, erschienen, in dem sich Weigold einer Tat widmet, die bis heute ungeklärt ist: Dem Mord an Regisseur William Desmond Taylor. Fall 3 ist für den Herbst 2020 angekündigt – Stoff für den Privatermittler Hardy Engel bietet „Hollywood Babylon“ also zur Genüge.
Informationen zum Buch:
Christof Weigold Der Mann, der nicht mitspielt
Kiepenheuer & Witsch, 2018
Hardcover, 640 Seiten, 22,00 Euro (Taschenbuch 10,00 Euro)
ISBN: 978-3-462-05103-2
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In dem Thriller „Wahrheit gegen Wahrheit“ weiß irgendwann niemand mehr, wer die Wahrheit sagt und wer welche Wahrheit meint. Ein gutes Debüt der amerikanischen Autorin Karen Cleveland – diese Wahrheit steht jedenfalls fest, meint Florian Pittroff:
Tja, was soll ich sagen: Volltreffer! Spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Ein Thriller ohne Blut, dafür mit viel Empfindung.
Darum geht`s: Vivian Miller ist Spionageabwehr-Analystin bei der CIA. Mit ihrem Mann Matt, einem IT-Spezialisten, und ihren Kindern lebt sie in einem Vorort von Washington D.C. Auf diesen Tag hat sie seit zwei Jahren hingearbeitet: Mithilfe eines speziellen Algorithmus will Vivian ein Netzwerk russischer Spione in den USA enttarnen. Ihr gelingt der Zugriff auf den Computer eines russischen Agentenbetreuers. Sie stößt auf eine Datei mit fünf Fotos – allesamt „Schläfer“, die auf amerikanischem Boden operieren. Doch was sie entdeckt, bringt alles, was ihr wichtig ist, in Gefahr. Ist es den Russen gelungen, sie an ihrer einzigen Schwachstelle zu treffen? Ist Matt nicht nur ein perfekter Mann und ein perfekter Vater. Sondern am Ende auch ein perfekter Lügner?
Der Plot ist gut durchdacht, die Protagonisten gut beschrieben, mit der nötigen Präsenz und Tiefe. Die wechselnde Gefühlslage von Vivian Miller wird sehr klar herausgearbeitet.
Dazu wird die Beziehung von Vivian und Matt in Rückblicken erklärt: „Ein glücklicher, unmöglicher Zufall. So habe ich unser Kennenlernen damals erlebt“. (…) Wie es nach ihrer Hochzeit weiterging: “Unseren ersten Hochzeitstag haben wir auf den Bahamas verbracht“. Und wie sich die Situation in der Gegenwart darstellt: „Mir schwirrte der Kopf, als ich zu Hause in die Garage fahre. Was ich getan habe, war doch richtig, oder?”
Vivian kann nicht mehr zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden. Der Leser schwankt und zweifelt förmlich mit ihr mit, als sie beginnt, alles zu hinterfragen.
Vivian pendelt zwischen Beruf und Familie. Oft hat sie das Gefühl, dass ihre Kinder zu kurz kommen – aber ihr Mann Matt ist ihr ein wunderbarer Partner, der ihr hilft, der sich um die Kinder kümmert und der sie unterstützt. Einmal Himmelhoch jauchzend, dann zu Tode betrübt und niedergeschlagen. Kann Vivian Miller ihrem Mann trauen? Es ist der Autorin auf 352 Seiten hervorragend gelungen, diesen Zweispalt in immer neuen Varianten zu beschreiben und darzustellen. Was tun, wie raegieren, was sagen die Kinder, was sagt mein Arbeitgeber, wem soll ich mich anvertrauen und vor allem: was sagt mein Mann.
Das Buch hat mich von Anfang an in seinen Bann gezogen. Mein Lieblingsthema, der Cliffhanger, trägt erneut zu einem außergewöhnlichen Lesevergnügen bei. Auch bei „Wahrheit gegen Wahrheit“ ist der Cliffhanger so gewählt, dass ein Weiterlesen quasi zwingend erforderlich ist: „Fassungslos starre ich in das Gesicht meinen Ehemannes“ – Kapitel Ende!
Der Thriller wird übrigens von Universal Pictures mit Charlize Theron in der Hauptrolle verfilmt.
Der neue Krimi „Eifersucht“ von Andreas Föhr hat echtes Suchtpotential!
„Eifersucht“ ist der zweite Fall mit der Münchner Anwältin Rachel Eisenberg. Und ich lege mich fest: „Eifersucht“ ist noch besser, noch ausgereifter als der erste „Eisenberg Krimi“. Echtes Suchtpotential!
Mit geschickten Kniffen und Tricks baut Andreas Föhr die Story auf. Der Roman beginnt mit einem Prolog, genauer gesagt mit einer Geschichte, die fünf Jahre zurückliegt. Diese eingeschobenen Rückblenden ziehen sich durch die gesamten 427 Seiten des Buches und geben interessante Einblicke und immer wieder auch neue Erkenntnisse für den eigentlichen Fortgang des Falles. Zwischen Rückblenden und der Gegenwart entspinnt sich so eine hochspannende Geschichte.
Was ich an Andreas Föhr besonders schätze, sind zum einen die kurzen Kapitel, die einem das Lesen ungemein erleichtern und zum anderen die spannungsfördernden Cliffhanger, die den Leser neugierig auf das weitere Geschehen machen: „Auf dem iPad blinkte eine Nachricht“. Welche Nachricht hat die Protagonistin bekommen, was steht drin, gibt es Aufklärung. Ende des Kapitels. Umblättern und weiter geht es im Text.
Wie auch schon bei den Wallner & Kreuthner-Krimis zieht einen das Buch sofort in seinen Bann. Ich habe selten Krimis gelesen bei denen man so schnell mitten drin ist im Geschehen und nicht nur dabei: Zwei Seiten gelesen und man kann eigentlich nicht mehr aufhören. Ein gewitzter Handlungsablauf und eine starke und sympathische Protagonistin bescheren dem Leser ein uneingeschränktes Lese-Vergnügen.
Und darum geht`s: Judith Kellermann, die Mandantin von Anwältin Rachel Eisenberg, soll ihren Lebensgefährten Eike Sandner aus Eifersucht in die Luft gesprengt haben. Als Reste des verwendeten Sprengstoffs bei ihr gefunden werden, liefert Kellermann eine abenteuerliche Erklärung: Ein geheimnisvoller Ex-Soldat soll den Mord begangen und die Beweise manipuliert haben. Doch der Mann ist seit der Tat verschwunden. Niemand scheint ihn zu kennen. Existiert er nur in Kellermanns Phantasie? Falls nicht: Wer ist der Unbekannte und was treibt ihn an?
Auch der Schreibstil des Autors ist präzise beschreibend und nicht ohne Humor: „Wittmann war regelrecht aufgekratzt. Die Vorfreude auf die Vernehmung der Zeugen oder genauer gesagt über Rachels bevorstehende Niederlage in dieser Haftprüfung umgab sie wie ein Mückenschwarm“.
Das Ende ist dann auch nicht zwingend vorhersehbar. Und so steht einer spannenden (Urlaubs)Lektüre nichts im Weg. Ich habe mir das Buch eigentlich als Urlaubslektüre vorgemerkt, wollte nur kurz reinlesen und war in zwei Tagen durch – vor dem Urlaub.
„Wie ein Boot, dachte sie, das sacht an den Strand glitt, trat sie näher an den Arbeitstisch und setzte sich. Aber so war es gar nicht. Wenn schon auf dem Wasser, dann war sie eher wie ein Schiff ohne Ruder, ohne Anker, das auf dem dunklen Meer umherirrte, das die Richtung verloren hatte und unfähig war, sie einzuhalten, selbst wenn sie es wüßte.“
Patricia Highsmith, „Ediths Tagebuch“, OA 1977, in deutscher Übersetzung beim Diogenes Verlag.
Typische Kriminalromane schrieb sie nie. Schon in ihrem ersten Roman, „Zwei Fremde im Zug“ (1950), ist angelegt, was viele ihrer Bücher ausmacht – jemand wird zum Mörder wider Willen. Die Spannung liegt nicht eigentlich im Plot, sondern in der Psychologie, in der Entwicklung der Figur. Bezeichnenderweise wurde ihr Debüt zunächst von sechs Verlagen abgelehnt, zu ungewöhnlich das Manuskript, zu sehr brach es mit den Regeln des Genres. Hitchcock erkannte das Potential – und mit seiner Verfilmung wird dann auch die Autorin schlagartig berühmt.
In der Folge variiert Patricia Highsmith (1921 – 1995) dieses Thema des „murder by accident“ immer wieder: Ihr charmanter Held Ripley tötet „nur“, wenn es „unbedingt notwendig“ ist, sie erzählt in „Tiefe Wasser“ und „Der süße Wahn“ von psychisch anfälligen Männern, die nicht mehr zwischen Realität und Wahnvorstellungen unterscheiden können und in „Der Stümper“ und „Die gläserne Zelle“ von Unschuldigen, die in Verdacht geraten – und dadurch erst schuldig werden.
„Ich bin keine Kriminalschriftstellerin, weil mich weder Spannung noch Geheimnisse interessieren; und noch weniger die Bullen. Aber die Entwicklung eines Gelegenheitsverbrechers (was wir alle potentiell sind) fasziniert mich. Sein Motiv und seine Reaktionen sind es, die mich fesseln“, gab die Amerikanerin einmal Auskunft über ihren Antrieb zum Schreiben.
Trotz einer Reihe ungewöhnlicher Romane zuvor – 1977 erschien ihr wohl außergewöhnlichstes, auch ihr reifstes Buch: „Ediths Tagebuch“ schildert den psychischen Zerfall einer Frau. In der Reihe ihrer Werke nimmt dieser – durchaus auch spannende und geheimnisvolle Roman – eine Ausnahmestellung ein, erzählt Highsmith doch ausnahmsweise aus der Perspektive einer Frau, aus Sicht einer scheinbar ganz durchschnittlichen amerikanischen Vorort-Hausfrau und Mutter.
Zu Beginn dieses Psychogramms verpasst Patricia Highsmith den Lesern eine Portion heile Welt: Die Familie Howland – Ehemann Brett, ambitionierter Journalist, Edith, freie Journalistin, Sohn Cliffie und die Katze – sind im Aufbruch, im Umzug von New York in das ländliche Pennsylvania, nach „Brunswick Corner“.
„Cliffie war jetzt zehn, und Brett lag wegen des Jungen sehr an dem Umzug.“
Schon in diesen Zeilen ist das ganze Drama angelegt: Ediths Welt wird von den sie umgebenden Männern – später kommt noch ein pflegebedürftiger Onkel Bretts hinzu – geprägt. Trotz ihrer nach außen hin selbstbestimmt erscheinenden Lebensweise als freie Autorin ist sie vor allem eines: Ehefrau, Mutter, Pflegerin dreier höchst egozentrischen männlichen Wesen.
Bereits in der Eingangsszene hat aber auch ihr eigentlicher „Freund“, ihr Seelenverwandter, ihr intimster Ansprechpartner seinen Auftritt: Ein in Leder gebundenes Tagebuch.
„Sie bewahrte es immer bei ihren eigenen Sachen auf, dem Schreibmaschinenpapier, dem Wörterbuch und dem Weltalmanach, wenn sie – wie in dieser Wohnung – ein eigenes Arbeitszimmer hatte, und sonst bei ihren Sachen in einer Ecke des Wohnzimmers.“
Ediths Platz ist damit auch räumlich definiert, er ist nachgeordnet in dieser kleinen Männerwelt – auch später, wenn sie in Brunswick einen eigenen Arbeitsraum hat, werden dessen Grenzen immer wieder gegen ihren Willen überschritten, sei es von Brett, sei es von Ärzten: Ein eigener Bereich steht ihr nicht zu, wird damit verdeutlicht.
Das Tagebuch dagegen ist der eigentliche „room for her own“ und wird eine immer zentralere Rolle in Ediths (Wahn-)Leben spielen. Schon zu Beginn gibt Patricia Highsmith einen ihrer kleinen, raffinierten Hinweise, die dem Bild von der heilen Welt kleine Sprünge verpassen:
„Vor einem Jahr hatte sie das Buch zufällig einmal aufgeschlagen und war peinlich berührt gewesen, als sie etwas las, das sie mit zweiundzwanzig geschrieben hatte. In jüngerer Zeit ging es mehr um Stimmungen und Gedanken; zum Beispiel erinnerte sie sich gut an eine Eintragung von vor acht Jahren: »Ist es nicht besser, vielleicht sogar klüger, zu glauben, dass das Leben ohne wirklichen Sinn ist?« Sie war erleichtert, als sie das hingeschrieben hatte. Diese Haltung, dachte sie, war nicht etwa ein falscher Schutzschild. Es war eine Tatsache, dass das Leben keinen Sinn hatte. Man machte einfach immer weiter, man arbeitete und tat eben, was man konnte und so gut es ging.“
Ediths Schutzschild – eine bestimmte gelassene, im Grunde resignative Haltung zum Leben – wird den folgenden zwanzig Jahren nicht Stand halten. Brett wird sie wegen einer jüngeren Frau verlassen, Sohn Cliffie entwickelt sich zum arbeitslosen Alkoholiker mit kleinkriminellen Zügen. Das Haus zerfällt und Onkel George wird mehr und mehr zu geriatrischen Pflegefall. Das eigentlich Grauenhafte daran ist nicht nur der Egoismus der Männer – mit welcher Selbstverständlichkeit Brett seinen Onkel in Ediths Obhut zurücklässt und ihr die Verantwortung aufbürdet, macht beim Lesen fassungslos und wütend -, sondern der Fatalismus, mit dem sich Edith das alles gefallen lässt.
Rolf Becker schrieb nach Erscheinen des Buches 1978 in deutscher Übersetzung im „Spiegel“:
„Edith – und das ist die Pointe, mit der Patricia Highsmith ihre Allerweltsgeschichte scharf und bitter macht -, Edith zerbricht nicht eigentlich am Verlassen werden, an all den Belastungen selbst, sondern mehr an ihrer Anstrengung, diese Lasten immerzu frohgemut zu akzeptieren, ihre Enttäuschungen immer wieder hinter einem freundlichen Lächeln zu verbergen.“ Quelle: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40617598.html
Warum Edith sich selbst so hintanstellt, Selbstaufopferung für die Familie als Lebenskonzept wählt, warum sie – was in einem Kriminalroman nahe läge – nicht irgendein Hackebeil packt und Brett die Meinung geigt, warum sie, obwohl, sie als Journalistin kompetent und klug agiert, ihre privaten Lebensumstände unwidersprochen hinnimmt: Dies alles bleibt unerklärt. Ein Kunstgriff von Patricia Highsmith – jede psychologische Erklärung würde Edith individualisieren, so aber steht sie für einen bestimmten Frauentypus, für ein Frauenschicksal, geprägt von jahrhunderterlanger Entwicklung: Die Hüterin von Heim und Herd, deren Selbstverwirklichung zweitrangig ist.
Beim Aufrechterhalten der Fassade wird das Tagebuch zum Komplizen: Hier erschafft sich Edith eine Traum-, eine Gegenwelt, in der Sohn Cliffie ein erfolgreicher Ingenieur mit Frau und Kind ist, sie eine liebende Großmutter, in der Brett ganz nebenbei und undramatisch stirbt und von der Bildfläche verschwindet, in der alles heil und angenehm erscheint. In der Realität dagegen bröckelt die Fassade – buchstäblich auch an dem zwanzig Jahre zuvor erworbenen Haus – mehr und mehr. Edith wird in ihren Artikeln, die sie in Underground-Magazinen unterbringt, politisch immer schärfer, in ihren Ansichten immer streitbarer und gereizter: Das hat den Verlust von Freunden, Bekannten und der Arbeitsstelle zur Folge, sie isoliert sich mehr und mehr.
Letzten Endes aktiviert eine „wohlmeinende Freundin“ Brett, der – nach Jahren der Gleichgültigkeit und Abwesenheit – Edith einem Psychiater zuführen will. Ein Vorhaben, das in eine Katastrophe mündet.
Die Doppelbödigkeit von „Ediths Tagebuch“ liegt darin, dass Patricia Highsmith hier die Definition von Normalität und Wahnhaftigkeit ganz geschickt hinterfragt und zugleich in der Schilderung dieser „Allerweltsgeschichte“ einen Roman über gesellschaftliche und politische Verhältnisse vorlegte. Das Geschehen umspannt die Ära des Aufbruchs unter John F. Kennedy, die der sozialen Reformen unter Lyndon B. Johnson bis hin zur Rückwärtsrolle amerikanischer Politik unter Nixon – dies alles kommentiert Edith in ihren Artikeln, scharf und unerbittlich. Alltag und Politik treffen zusammen, auch das Private ist politisch, Politik prägt das Private. So sagt Edith zu ihrem Hausarzt, der sie mit kleinen Pillen ruhigstellen will:
„Alle macht ihr schlechte Politik – Ausflüchte, Lügenmärchen, bloß nicht die einfache, nackte Wahrheit.“
Es ist die besondere Pointe dieses Buches, dass, als Edith endlich ihre eigene Stimme findet, als sie beginnt, sich zu äußern, zu empören, aufzubegehren, die Armada aus Exgatten, Hausarzt, Freunden alles daran setzt, sie wieder auf Normalmodus zu schalten. Als Edith aus der Rolle fällt, wird sie für wahnsinnig erklärt. Am Ende stürzt sie, als sie ihr Terrain – ihr Arbeitszimmer – vor dem Eindringen zweier Ärzte verteidigen will, von der Treppe. Und so endet dieser Kriminalroman „angemessen“ für sein Genre mit dem Tod einer Person. Mit einem tödlichen Unfall. Aber im Grunde war es: Mord.
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JP Delaney präsentiert mit „The Girl Before“ einen Thriller, der den Leser nicht mehr loslässt. Es gibt zwei Handlungsstränge. Zuerst erfolgt die Rückblende: „Damals. Emma“. Und dann „Heute: Jane“. Die Idee mit zwei unterschiedlichen Handlungen, die sich dann doch zu einer Geschichte verquicken, gefällt mir sehr gut. Ebenso, dass die einzelnen Kapitel jeweils kurz und knapp gehalten sind. Zum einem wird der Leser dadurch immer wieder zum Weiterlesen animiert und es verleiht dem Buch eine gewisse Dynamik.
Der Plot: Nach einem Schicksalsschlag braucht Jane dringend einen Neuanfang. Daher überlegt sie nicht lange, als sie die Möglichkeit bekommt, in ein hochmodernes Haus in einem schicken Londoner Viertel einzuziehen. Die Miete ist gering, doch der Regelkatalog, den der neue Mieter einhalten muss, ist alles andere als gewöhnlich. Doch bald erfährt Jane, dass ihre Vormieterin im Haus verstarb – und ihr erschreckend ähnlich sah.
Die Story rund um das Architektenhaus überzeugt, denn JP Delaney schafft es, sofort eine beklemmende Atmosphäre zu schaffen. Der Spannungsbogen, der zu Beginn richtig abgeht, hängt dann allerdings durch. Der Mittelteil hatte ziemliche Längen, war zum Teil sehr vorhersehbar und unspannend. Aber, oh Glück, danach zog die Geschichte wieder an. Beim Zusammenfädeln der beiden Erzählstränge und bei der der Auflösung wurde das Tempo deutlich erhöht und man wollte das Buch nicht mehr zur Seite legen.
Die zwei – respektive vier Protagonisten – sind gut dargestellt. Die Story um das kalte Architektenhaus und die beiden Frauen Jane und Emma ist mit einer dicken Portion Sex aufgehübscht. “Ernsthaft spannend wird „The Girl before“, als sich herausstellt, dass die beiden Frauen Jane und Emma keineswegs nur bemitleidenswerte Opfer sind, sondern auch ihre kleinen, schmutzigen Geheimnisse haben – und nicht nur sie.”, schreibt Lukas Jenkner in der Stuttgarter Zeitung.
Seinem Fazit schließe ich mich an: Mit „The Girl Before“, seinem ersten Psychothriller, ist JP Delaney “perfekte Thrillerkost auf hohem Niveau” gelungen. Die Verfilmung ist bereits in Planung. Und beim Lesen fiel mir unter anderem ein berühmtes Vorbild ein: „Rebecca“ von Alfred Hitchcock.
Gut zu unterhalten ist keine leichte Kunst – das zeigt sich spätestens dann, wenn sich nach dem Studieren der Vorschauen die Spreu vom Weizen trennt. Schmökerstoff wird zwar zur Genüge geboten, vieles jedoch trieft schon beim ersten Aufblättern vor Seichtigkeit oder vor Blut, je nach Genre.
Dabei gibt es genügend Bedarf (und das Recht) an guter Unterhaltungsliteratur – es kann ja nicht immer der Zauberberg oder Ulysses sein. „Denn nicht nur der Buchmarkt, auch die breite Leserschaft benötigt anspruchsvolle Unterhaltungsliteratur – und das ist keineswegs ein Paradox“, schrieb Ursula März 2014 in der „Zeit“ in einem engagierten Plädoyer für Literatur, die vor allem eines darf und soll – gut unterhalten. Aber der Begriff der Unterhaltungsliteratur „besitzt im Deutschen einen Beigeschmack von Trivialität, von populistischem Qualitätsmangel, der sich schwer verleugnen lässt. Die kulturelle Hierarchie zwischen hoher und niederer, zwischen seriöser und eben nur unterhaltender Literatur ist hierzulande um einiges distinktiver und schärfer als im amerikanischen und generell im angelsächsischen Raum.“
Dabei gibt es sie, diese Perlen, die einem das Leseleben intelligent und unterhaltend versüßen, ohne dass man ein philosophisches Seminar über den Zeitbegriff bei Thomas Mann oder ein halbes Anglistikstudium besuchen muss. Drei Bücher dieser Art hatte ich in meinem Urlaubskoffer (um nochmals Ursula März zu zitieren) – und der ebenfalls mitgeführte „Zauberberg“ wurde nochmals hintangestellt, so gut fühlte ich mich unterhalten, war amüsiert, vor Spannung gepackt, musste laut lachen, leise schmunzeln und habe mich sogar in einen der „Helden“ ein kleines Stück verguckt.
Nämlich in Knoppke:
„Dann geschah etwas, das Knoppke selbst nicht erklären konnte, er machte etwas zum ersten Mal. Der Mann mit dem kaputten Knie und dem kaputten Leben legte sich mit dem Rücken auf die Reste der Markierung im Mittelkreis, das hätten die Götter des Surrealen nicht besser inszenieren können. Arme und Beine streckte er von sich, als wollte er Leonardo da Vincis Zeichnung vom vitruvianischen Menschen nachstellen oder einfach nur einen Hampelmann geben. Eine spannende Frage war das ja schon: Entsprach Knoppke dem idealen Menschen, oder war er nur ein Hampelmann?“
Auch in seinem zweiten Roman stellt Bernhard Blöchl einen Mann in einer Lebenskrise in den Mittelpunkt. Wollte sich Juli in „Für immer Juli“ (2013, Maro Verlag) aus Trennungstrotz noch zu einem ausgewachsenen Macho entwickeln, so hat der über 40jährige Knoppke solcherlei Ambitionen schon lange hinter sich gelassen. Der Mann mit einer gescheiterten Fußballerkarriere und dem gebrochenen Herzen will eigentlich nur noch eines: Seine Ruhe. Und die sucht er, nachdem er München fluchtartig hinter sich gelassen hat, in den schottischen Highlands – dort, wo das Wetter garantiert nicht zur guten Laune zwingt, wo keiner von einem erwartet, dass die Sonne auch noch aus dem Hintern scheint …
Allerdings durchkreuzt eine quirlige 21jährige mit Dreadlocks die Pläne des wortkargen Muffels in der Midlife-Crisis. Sam hat sich in den Ford Transit Knoppkes geschmuggelt. Aus der (nur scheinbaren) Zufallsbekanntschaft wird während der ereignisreichen Reise ein eingeschworenes Team: Sam, die den wortkargen Muffel mit ihren Fragen nervt und herausfordert, gelingt es, die Nuss namens Knoppke zu knacken. Und am Ende scheint nicht nur die Sonne, sondern wartet auch eine Überraschung in (ausgerechnet!) WUPPERTAL.
Ein höchst unterhaltsames Road Movie mit einem knorrigen Helden, den man mit seinem Bierbauch und seiner Tapsigkeit einfach mögen muss. Blöchl schreibt mit viel Wortwitz, ohne platt zu sein, und zeichnet seine Charaktere mit Wärme & Humor. Zudem wirft das Buch mit leichter Hand die großen Fragen auf: Was heißt Lebensmut? Gibt es immer nur das Glück der anderen? Und: Gibt es zweite Chancen? Aber ja!
„Knoppke wollte wieder was. Er wollte Dinge tun, die ihm Freude bereiteten. Sich wieder einlassen, auf das, was ihm das Leben vor den Latz knallte respektive was er sich selbst vor den Latz knallte. „Carpe that fucking Dingeldangeldongdong“, wie er sagte, als sie in einer Herde Highland-Cows feststeckten.“
Bernhard Blöchl, „Im Regen erwartet niemand, dass dir die Sonne aus dem Hintern scheint“, 2017, Piper Verlag.
So eine zweite Chance hat Carolin Höller nicht. Die Managerin eines Online-Unternehmens, das kurz vor dem Börsengang steht, liegt just nach der Party zur Neueröffnung der Münchner Filiale zerschmettert in deren Innenhof. Der Fenstersturz ein Selbstmord? Unwahrscheinlich. Obwohl selbst von privaten Angelegenheiten niedergeschlagen, beißt sich die bayerisch-irische Ermittlerin Patsy Logan in dem Fall fest, auch gegen politische und interne Widerstände.
„Die Preisfrage ist, ob jemand ernsthaft einen Selbstmord über zwei Stockwerke plant. Sechs Meter können zwar reichen, aber nicht mit Sicherheit. Wenn Carolin Höller sich wirklich das Leben nehmen wollte, stellt sich die Frage, warum sie so ein Risiko überhaupt eingeht.“
„Vielleicht wollte sie sich gar nicht umbringen und nur eine Botschaft an die Geschäftsleitung schicken?“, versuchte es Kris.
„Weil es zu wenig frische Brotsorten fürs Frühstück gab?“
Sowohl die makellose Fassade des innovativen Online-Unternehmens „Skiller“, das sich im Bereich der Sharing-Economy bewegt, als auch die scheinbar heile Familienwelt der Höllers zeigt schnell erste Risse. So entfaltet sich das ganze Drama an Leistungsdruck und Dauerstress, unter dem die scheinbar so hippen „Skillers“ leiden. Und während in der schicken Kantine Edel-Mineralwasser und Energieriegel angeboten werden, ziehen sich die Mitarbeiter hinter den Kulissen lustig Lines zur Leistungssteigerung in die Nase oder steigen vom Burn-out geschädigt aus dem Geschäft aus.
Nicht nur die authentischen Schilderungen aus der schönen, neuen Online-Geschäftswelt machen diesen Krimi zu einem intelligenten Vergnügen. Es ist vor allem auch die differenzierte Zeichnung der Figuren mit all ihren Stärken und ihren Schattenseiten, die zur Spannung beiträgt – in der ganzen Gemengelage hat jeder der „Skillers“ seinen moralischen Knacks, könnte jeder eine „Mordswut“, eine Mordslust auf die Managerin haben…
Zudem bringt Ellen Dunne, die selbst inzwischen in Irland lebt, nicht nur entsprechendes Lokalkolorit ein – die Ermittlungen führen auch nach Dublin und dessen „Silicon Docks“ – sondern sie hat mit Patsy Logan eine Kommissarin geschaffen, die insbesondere bei den weiblichen Leserinnen viele Sympathiepunkte sammeln wird: Schlagfertig und direkt und sich zudem mit all den Themen herumschlagend, die Frauen aus der Berufswelt kennen.
„Und jetzt wollen Sie was von mir wissen, Frau Logan?“
„Wie viel von dem, was ich Ihnen gerade erzählt habe, haben Sie gestern schon gewusst?“
In seinen Augen Enttäuschung, Vorwürfe. Ich kannte das. Professionelles Verhalten nahmen Trauernde oft persönlich. Erst recht, wenn man lange Haare und Brüste hat.
Ein interessantes Setting, spannende Wendungen und der trockene Humor, der sich immer wieder Bahn bricht – „Harte Landung“ war für mich ein echter Pageturner. Vom Verlag ist er als Auftakt für eine neue Krimireihe angekündigt. Gut zu wissen, denn trotz des geklärten Mordfalls- zumindest zum turbulenten Privatleben von Patsy Logan bleiben noch viele Fragen offen…
Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr – insbesondere wohl, wenn man wie Anselm Maria Sellen geballter Weiblichkeit entgegensteht. Der vierfache Familienvater – darunter drei Töchter – erzählt mit viel schwarzem Humor in seinem ersten Buch von den Freuden und Fallen familiären Zusammenlebens. Seine kurzen Texte: Schwarzhumorig, brüllend komisch und doch eigentlich „nur“ den ganz normalen Wahnsinn abbildend, den Eltern täglich erleben: Mädchengeburtstage in rosa und pink, Elternabende mit überengagierten Müttern, Sprechstunden mit sprachapathischen Deutschlehrerinnen und ähnlich Absurdes aus dem Alltag mehr.
Mehr als einmal musste ich bei „Vater!“ schallend und schadenfroh (ich bin siebenfache Tante!) lachen. Kam mir doch vieles so wohl bekannt vor. Beispielsweise „Kindermusikantenstadl“:
„Unsere Kinder spielen Instrumente. Nein. Unsere Kinder lernen Instrumente. Der Unterschied ist weder klein noch fein. Unsere Kinder lernen Instrumente, weil wir es nie konnten. Dieser urelterliche Ehrgeiz, der dazu führt, dass unsere Kinder für unsere Versäumnisse büßen müssen.“
Es kommt, wie es kommen muss:
„Mittlerweile bezahlen wir unsere elterlichen Kulturphantasien mit dem Verlust von Wohnqualität. Unser Lebensraum wird von unhandlichen Instrumenten annektiert. Ein Akkordeon, ein Klavier, zwei Gitarren und diverse Objekte, die ich als „Müll“ klassifizieren würde, die aber von meinen Kindern als „Instrumente“ deklariert wurden, um ihren Erhalt zu sichern. Wir sammeln gemeinsam Kulturkapital, um die finale elterliche Selbstverwirklichung finanzieren zu können.“
Man fühlt sich an die Kolumnen von Axel Hacke erinnert – nur eine Spur bissiger, flapsiger, moderner. Ein Lesevergnügen und das nicht nur für Eltern, weil „Vater!“ durchaus auch auf allgemeingültig Abwegiges unserer Lebensführung hinweist.
Anselm Maria Sellen, „Vater!“, 2017, edition dreiklein.
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