Robert Reuland: Brooklyn Supreme

Die eigentliche Hauptrolle in diesem intelligent konstruierten Roman spielt die Stadt: “Brooklyn Supreme” von Robert Reuland evoziert Kinobilder.

„Wir New Yorker sind gut im Vergessen. Wir haben keine Zeit, uns um irgendjemand zu kümmern, also vergessen wir ihn. Unser kollektives Gedächtnis reicht zwanzig Minuten zurück, deshalb machen wir immer wieder dieselben Fehler. Deshalb unsere blind herumschießende Energie, deshalb ist New York anders als jede andere große Metropole dieser Welt. In London oder Rom lebt man mit seinen Vorfahren, die einen aus jedem alten Gebäude heraus anblicken. In New York reißen wir alles ohne Sinn und Verstand ab und bauen was Neues.“

Robert Reuland, „Brooklyn Supreme“


Und was mitunter auch vergessen wird, wenn einer vor dem Brooklyn Supreme Courthouse landet, das ist die Wahrheit: Etwas, das Gewerkschaftsvertreter Willy Way, ein ehemaliger Cop, eigentlich zur Genüge weiß. Doch als Way, der für die „Patrolmen’s Benevolent Association“ arbeitet, der jungen Polizistin Georgina Reed zur Seite stehen soll, ahnt er noch nicht, dass von da an sein ganzes Leben komplett auf den Kopf gestellt wird. Und er sich selbst einigen Wahrheiten stellen muss, denen er lange ausgewichen ist.

Georgina Reed, ein „Rookie“, hat im Dienst einen jungen Schwarzen erschossen, der einen Raubüberfall begangen haben soll. Sie behauptet, es sei Notwehr gewesen, ein Komplize des Opfers streitet dies ab. Ein Fall, der viel Zündstoff in sich birgt: Bald steht Willy Way, der für die junge Polizistin eine gute Lösung finden will und soll, zwischen allen Fronten. Die Medien stürzen sich ebenso auf diesen Fall von Polizeigewalt wie prominente Anwälte, auf den Straßen formiert sich der Protest von Bürgerrechtlern, Polizei- und Gewerkschaftsfunktionäre haben einiges zu vertuschen, und nicht zuletzt droht dem amtierenden obersten Staatsanwalt bei den nächsten Wahlen Konkurrenz durch einen berühmten Richter, einen typischen W.A.S.P.-Vertreter.

Bild von Patrick auf Pixabay

Im Zentrum eines Sturms aus Intrigen und Ehrgeiz

Zusätzlich zu all diesen politischen Verwicklungen verbindet Willy Way mit eben jenem Richter auch ein privates Geheimnis: Er war einst befreundet mit der Tochter des Richters, die nach einem (mutmaßlichen) Schwangerschaftsabbruch Suizid beging. Kurzum: Willy Way steckt plötzlich mitten im Zentrum eines Sturms, aus dem er – so viel sei an dieser Stelle verraten – nicht unbeschadet entkommen wird, wie ihn eine Staatsanwältin warnt:

„Sie sind von lauter gefährlichen Menschen umgeben, und keinen von denen interessiert es die Bohne, dass Sie der Antiheld Ihres eigenen kleinen Bildungsromans sind. Wenn Sie denen im Weg stehen, räumen sie Sie einfach weg. Wenn die Sie benutzen können, tun sie es. Und wenn die Sie zerquetschen müssen, werden Sie zerquetscht. So einfach ist das.“

Am Ende geht er, ganz in der Art amerikanischer Helden, für die Wahrheit, seine Wahrheit, einige Monate in den Knast, aufrecht, aber nicht gebrochen. Gut ist es, wenn man dann auf die Familie bauen kann: Zumindest bringt der Fall um Georgina Reed Willy Way seinem Vater, einen hartgesottenen Kriegsveteranen mit dem Herzen auf dem rechten Fleck, wieder näher und der Einstieg ins väterliche Gemüse-Lieferanten-Geschäft nach der unfreiwilligen Auszeit ist garantiert:

„Butler war gar nicht mal so übel. Das Essen erinnerte mich an das in der Schulmensa und der Ausblick meiner Zelle führte ins Nichts. Die Zelle selbst hatte etwas von einem schäbigen Motel an irgendeinem Highway. Nach siebzehn Monaten checkte ich aus, und heute erscheint mir das Ganze wie ein vor Ewigkeiten gesehener Film. Ich habe keine Alpträume davon, und laut meiner Visitenkarte bin ich derzeit Gen’l M’ger Wm. Way & Son NY’s Largest et cetera.“

Film ist hier ein gutes Stichwort: Denn die heimliche Hauptrolle in diesem raffiniert konstruierten politischen Roman spielt die Stadt, ihre heruntergekommenen Ecken, die Gehwege der gutbürgerlichen Viertel, die Keller und Zellen der Polizeiwachen, die kühlen Gerichtssäle, die pompös eingerichteten Anwaltskanzleien. „Brooklyn Supreme“ verströmt eine gewisse, dunkle New Yorker Atmosphäre, die beim Lesen zum Umsetzen in Kinobilder animiert. Und so meint auch William Boyle in seinem Nachwort: „Schade, dass Sidney Lumet keinen Film mehr daraus machen kann.“ Aber vielleicht hat Martin Scorsese Lust. Und Robert de Niro würde ich als Dad von Willy Way gut machen…

Robert Reuland der in Park Slope, Brooklyn, lebt, kennt jedenfalls seine Stadt und als ehemaliger Staatsanwalt deren Rechtssystem gut. Das wird in jeder Zeile deutlich:

„Damals war Bushwick schwarz und arm. Jetzt war es schwarz und arm und arm und neuweiß, ein Viertel der Pitbulls und Pudel, Schrotgewehre und Kinderwagen. Die Neuordnung hatte nicht einmal fünf Jahre gedauert.“

Atmosphärisch dicht in seinen Beschreibungen und intelligent durch die verschlungenen Pfade politischer Verwicklungen führend, ist „Brooklyn Supreme“ ein durchaus mitreißendes Buch, wenn auch Willy Way als Figur zu sehr so an der einen oder anderen Stelle manches Klischee eines Hard-Boiled-Helden erfüllt.


Bibliographische Angaben:

Robert Reuland
Brooklyn Supreme
Übersetzt von Andrea Stumpf
Polar Verlag, 2023
ISBN: 978-3-948392-73-4

ELISABETH SCHINAGL: Francobaldi – Das Geheimnis der Illuminaten

Mit “Francobaldi – Das Geheimnis der Illuminaten” ist der Autorin Elisabeth Schinagl der Spagat zwischen einem packenden, bestens recherchierten Krimi und einer Zeitreise ins Bayern des 18. Jahrhunderts zwischen Absolutismus und Aufklärung gelungen.

Eichstätt, 1787: Die Französische Revolution wirft bereits ihren Schatten voraus, als Enrico Francobaldi aus Wien in das beschauliche Fürstbistum Eichstätt kommt. Dort möchte er einen Neuanfang wagen, fernab von den schmerzhaften Erinnerungen an seine verstorbene Frau. In seiner neuen Heimat soll Francobaldi das Schulwesen aufbauen. Doch es kommt anders …Als ihn der Landesherr kurzerhand mit der Aufklärung eines mysteriösen Mordfalls betraut, gerät Francobaldis Leben aus den Fugen. Immer tiefer verstrickt er sich in Politik und Intrigen. Nach einem Anschlag auf sein eigenes Leben scheint er dem Mörder gefährlich nah zu sein. Und welche Rolle spielt der rätselhafte und mächtige Geheimbund der Illuminaten in diesem Fall? Dessen Ziel ist eine radikale Umwälzung der Gesellschaft – zu jedem Preis?

Mit “Francobaldi – Das Geheimnis der Illuminaten” ist der Autorin Elisabeth Schinagl der Spagat zwischen einem packenden, bestens recherchierten Krimi und einer Zeitreise ins Bayern des 18. Jahrhunderts zwischen Absolutismus und Aufklärung gelungen.

Zur Autorin:

Elisabeth Schinagl, geboren 1961 in München, studierte in Eichstätt und Regensburg Latein und Germanistik. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Mittellateinische Philologie an der Katholischen Universität Eichstätt. Nach ihrer Promotion war sie zunächst als Gymnasiallehrerin und anschließend als Referentin im Bayerischen Landtag tätig. Seit 2018 ist sie freie Autorin. In ihren Romanen und Erzählungen befasst sie sich vorwiegend mit historischen Themen. Sie lebt in Eichstätt und München.

Homepage: https://www.elisabethschinagl.de/


Stimmen zum Buch:

“Die fiktive Handlung unterfüttert die gelernte Historikern mit historischen Fakten, die mit der altertümlichen Sprache eine authentische Stimmung schaffen. Wer sich auf eine Reise ins Bayern zwischen Absolutismus und Aufklärung begeben will, der wird gut unterhalten.” – Petra Breuning, Fränkischer Sonntag, Ausgabe 25./26. Juni 2023

“In die Kriminalgeschichte hat Elisabeth Schinagl elegant und unaufdringlich jede Menge akribisch recherchierte, historische Fakten und Biografien eingewoben (…). So spannend kann Geschichte sein.” – Melanie Arzenheimer bei “Bayern mittendrin”

“Insgesamt finde ich, dass der Tonfall sehr gut zur damaligen Zeit passt und auch die unaufgeregte und wenig reißerische Sprache haben mich völlig überzeugt. Endlich mal ein Krimi, der ohne Blutrünstigkeit auskommt! Und dadurch nicht minder fesselnd ist.” – Petra Knobling bei “Die Welt erlesen”

“Auch wenn die Handlung langsam voranschreitet, entwickelt der Krimi seine ganz eigene Spannung, die mich “dranbleiben” liess. Dazu ist der historische Hintergrund sorgfältig recherchiert und entführte mich in eine Zeit, in der der Gedanke der Freiheit begann, sich in Europa zu verbreiten.” – Susanne Martin von “Schiller-Buch”

“Die Geschichte ist hervorragend recherchiert und verwebt reale Orte, Personen und belegte Historie mit einer spannenden fiktiven Handlung.” – Dieter Feist bei zugetextet.com

“Der ausgereifte und sehr anspruchsvolle Schreibstil der Autorin hat mich angenehm überrascht.” – Angela Busch, Literaturgarten

“Besser als viele der herkömmlichen Regionalkrimis. Bestens empfohlen” – Erwin Wieser bei Bayern im Buch

“Eine lebendige Geschichtsstunde aus der Epoche der Aufklärung, die mir sehr gut gefallen hat.” – Kristina Marino bei Buchnotizen


Bibliographische Angaben:

ELISABETH SCHINAGL
Francobaldi – Das Geheimnis der Illuminaten
Allitera Verlag, 2023
Paperback, 244 Seiten
ISBN 978-3-96233-365-2


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für die Autorin

Andreas Föhr: Tote Hand

Gastautor Florian Pittroff kann von den Krimis rund um Kommissar Wallner und seinem unbeständigen Kompagnon Kreuthner einfach nicht genug kriegen – hier schreibt ein Hardcore-Fan!

Bild: Florian Pittroff

Ein Gastbeitrag von Florian Pittroff

„Tote Hand” ist bereits der achte Teil der genialen oberbayerischen Krimi-Reihe mit dem sachlichen Kommissar Wallner und dem etwas unbeständigen Polizisten Kreuthner. Wie alle andern Teile auch spannend, reizvoll und wunderbar amüsant geschrieben. Dabei bleiben witzige Dialoge niemals auf der Strecke.

(…) Und in dem Moment spannt der Fuchs, dass mir hinschauen, und haut ab.« Kreuthner hob die Hände, und die Geste besagte in etwa: Was es nicht alles gibt. »Schöne Geschichte. Und was ist wirklich passiert?« »Ja, glaubst am Polizeikollegen vielleicht net? Jetzt wird’s aber hint höher wie vorn.« (…)

Mich überzeugt der Schreibstil von Andreas Föhr. Ich bin ein Fan der kurzen Kapitel, die immer wieder zum Weiterlesen animieren, so dass man fast versucht ist, das Buch bis zum Ende nicht mehr aus der Hand zu legen.

Darum geht’s:

„Kommissar Clemens Wallner von der Kripo Miesbach und Polizeiobermeister Leonhardt Kreuthner, liebevoll “Leichen-Leo” genannt, bekommen alle Hände voll zu tun, als ausgerechnet der Schafkopf-Held Johann Lintinger durch eine Schrottschere seiner rechten Hand beraubt wird. Ein würdiges Begräbnis muss her für diese legendäre Rechte, beschließt Polizeiobermeister Leonhardt Kreuthner, und so wird gleich neben einer alten Kapelle, die hinter dem Garten der Mangfall-Mühle steht, ein Grab ausgehoben. Dabei macht »Leichen-Leo« seinem Spitznamen mal wieder alle Ehre, denn der Ruheplatz ist bereits belegt: von einer männlichen Leiche“…

Vielschichtige und komplexe Handlung

Die „Tote Hand“ ist auf den ersten Blick sehr komplex und vielschichtig. Aufbau, Entwicklungen und Verknüpfungen an den verschiedensten Orten – ausgehend von Berlin, über Miesbach, Waakirchen, Rottach-Egern und zurück nach Berlin – sind vortrefflich. Der gelernte Jurist Föhr schreibt seine Story mit Handlungen in der Gegenwart und in der Vergangenheit blitzgescheit und zum Schluss wird logisch aufgelöst.

Nicht zu vergessen die Geschichte in der Geschichte über die schrulligen und sonderbaren Zusammenhänge im Privatleben von Wallner mit Großvater Manfred.

(…) Wallners Großvater hatte sich verändert. (…) Zum Beispiel rasierte er sich jeden Tag. Bis vor einem halben Jahr hatte einmal die Woche genügt. Und er setzte sich in die Sonne. Der letzte Sommer hatte viel Sonne gebracht, und Manfreds faltiges Gesicht hatte eine sportliche Bräune bekommen. (…)

Andreas Föhr braucht keine blutigen Gewaltszenarien, Kommissar Wallner und der Polizist Kreuthner müssen keine coolen Cops mit aalglatter Uniform und überheblichem Gehabe sein, um beim Leser zu punkten. Die beiden leben durch ihren herrlich ehrlichen Charakter, den Andreas Föhr ihnen angeschrieben hat und das nun schon zum achten Mal.

Ich bin ein wahrer Hardcore-Fan von Andreas Föhr und seinen Wallner und Kreuthner Krimis!

Informationen zum Buch:

Andreas Föhr
Tote Hand
Verlag Droemer Knaur, 2019
Paperback, 384 Seiten, 14,99 €,
ISBN: 978-3-426-65447-7

Über den Gastautor:

Florian Pittroff ist Magister der Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte und arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Journalist und Texter. Seine Buchbesprechungen waren unter anderem zu lesen im Kulturmagazin „a3kultur“ und im deutschsprachigen Männermagazin „Penthouse“.  Er verfasste Kulturbeiträge für das Programm des „Parktheater Augsburg“, war unter anderem verantwortlich für die Medien- & Öffentlichkeitsarbeit des kulturellen Rahmenprogramms „City Of Peace“ (2011) und die deutschsprachigen Slam-Meisterschaften (2015) in Augsburg. Florian Pittroff erhielt 1999 den Hörfunkpreis der Bayrischen Landeszentrale für neue Medien für den besten Beitrag in der Sparte Kultur.

www.flo-job.de

Attica Locke: Heaven, My Home

Ein klug konstruierter und spannender Roman, ein erstklassig geschriebener Pageturner, ein Psychogramm der Trump-Ära.

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Bild von Peter H auf Pixabay

„Darren dachte an den blonden Jungen auf dem Foto, versuchte sich die Moral eines Kindes vorzustellen, das die Erwachsenen um sich herum lediglich imitierte. Das war es doch, oder? Er verabscheute die Vorstellung, in einem Land zu leben, das Rassisten heranzüchtete, voller Bosheit und Hass und, noch bevor sie erwachsen waren, hart wie die Erde ihrer Heimat.“

Attica Locke, „Heaven, My Home“


Wer dieser Tage die Bildern von waffenstarrenden Menschen in Tarnanzügen sah, die das Parlament in Michigan stürmten, der sah eindrucksvoll und auf eine beängstigende Art und Weise, wie gespalten das Land unter der Präsidentschaft Trumps bereits ist, wie gewaltbereit seine Anhänger ihren durchaus fragwürdigen Begriff von individueller Freiheit verteidigen wollen. Vieles, was in den USA in den letzten Jahren geschah, ist scheinbar für uns in good old Europe nicht nachvollziehbar – aber wer weiß, welche Zeiten uns nun erwarten?

Wie das Land sich wendete, welche uralten Ressentiments und Vorurteile in der Zeit zwischen der Präsidentschaftswahl und der „Inauguration“ hochkochten, was da an Rassismus nur darauf lauerte, wieder aus der Deckung kriechen zu dürfen: Auch das ist Thema von „Heaven, my home“, dem zweiten Kriminalfall der Schriftstellerin Attica Locke um ihren afroamerikanischen Ermittler Darren Mathews.

Arische Bruderschaft und indianischer Ureinwohner

Der Titel ist nicht bar der Ironie: Denn sowohl Darrens eigene, urinnerste Heimat ist bedroht als auch die der Nachfahren entflohener Sklaven und indianischer Ureinwohner in Hopetown, eine Enklave im Osten von Texas. Weder dort, in den ärmlichen Häusern Hopetowns, noch in den White-Trash-Trailern der Anhänger der Arischen Bruderschaft, die sich illegal auf dem Gelände breitgemacht haben, herrscht der Himmel auf Erden. Beide Gruppen stehen sich unversöhnlich gegenüber, verteidigen ihr Anrecht auf das Land, eine Situation, die sich zuspitzt, als ein Kind der Arischen Bruderschaft über Nacht verschwindet.

Die Unmöglichkeit der Versöhnung ist ein Kernthema dieses Romans, in dem auch die Hauptfigur Darren Mathews vor die Herausforderung gestellt wird, seine Koordinaten neu auszurichten: Es ist nicht alles schwarz oder weiß, „Black And White, Unite! Unite!“ eine Illusion in der Trump-Ärä.

„Vergebung als kollektives Bedürfnis verlangt, den Zorn über die Abwertung und Verletzung zu unterdrücken: Morde, Gewalt und Ungerechtigkeiten hinzunehmen, Loyalität gegenüber den Unterdrückern zu bekunden. Deshalb kann sie helfen, sich der Kriminalität und Grausamkeit systemischer Unterdrückung und Gewalt zu stellen, mit der Vergangenheit abzuschließen. Aber sie kann auch zu einem rituellen Vergessen führen; sie beseitigt die Unterdrückung nicht, fordert keine Reue oder Wiedergutmachung, bringt keine radikalen sozialen Veränderungen“, schreibt Sonja Hartl im Nachwort zu dem Roman.

Grauzonen des Rechts

Dass das Recht nicht Gerechtigkeit schafft, dass es Grauzonen gibt, dass Versöhnung die Bereitschaft beider Seiten anbelangt: Dies alles lernt Mathews sowohl in privaten als auch in beruflichen Belangen schmerzhaft.

„Das war der Teil, der wehtat, der Schmerz, der bis ins Mark ging. Nachdem er jahrelang von dem Glauben an eine universelle Neigung zur Gerechtigkeit eingelullt worden war, sah er, wie wenig Freunde und Nachbar an sein Leben dachten, an sein Anrecht auf dieses Land.
Nach Obama war es Verrat an der Versöhnung.“

Die Gemengelage ist schwierig: Mathews selbst ist privat in einem Mord an einem Mitglieder der arischen Bruderschaft verstrickt, will einen alten Freund der Familie, in dem er den Täter vermutet, beschützen. Seine Mutter, bestes Beispiel für das, was in dysfunktionalen Familien geschieht, nutzt ihr Wissen, um Geld und Zuneigung zu erpressen. Sein Vorgesetzter macht Druck, um den Nazis noch vor der Einsetzung von Trump-Beamten einen Schlag zu versetzen. Das FBI wiederum, verkörpert durch Darrens engen Freund Greg, der vermutlich eine Beziehung zu Darrens Frau hat, will im Fall der Kindesentführung unbedingt ein Mitglied der schwarzen Gemeinde dingfest machen – im vorauseilenden Gehorsam und als Nachweis an die Trump-Beamten, dass man bei den Ermittlungen auf keinem Auge blind ist.

Das alles ist klug konstruiert und spannend aufgebaut bis zum überraschenden Ende. Ein erstklassig geschriebener Pageturner, der tief blicken lässt in den rassistischen Morast, in dem sich die Menschen in Trumps Amerika bewegen. Das Ende zumindest ist für den aus dem Gleichgewicht gebrachten Texas Ranger in einer Hinsicht versöhnlich. Wenn auch auf einer fragilen Ebene. Der Himmel, er muss warten.


Informationen zum Buch:

Attica Locke
Heaven, My Home
Aus dem Amerikanischen von Susanne Mende
Polar Verlag, 2020
Gebunden mit Schutzumschlag, 322 Seiten, EUR (D) 22,00 / EUR (A) 22,50
ISBN 978-3-945133-91-0

Eine weitere Besprechung erschien bei Zeichen & Zeiten – witzigerweise sogar mit demselben Bild: https://zeichenundzeiten.com/2021/02/15/attica-locke-heaven-my-home/

Hansjörg Schneider: Hunkeler in der Wildnis

Auch in seinem zehnten Hunkeler-Fall zeichnet Hansjörg Schneider wieder ein ganz besonderes Sittengemälde der Schweizer Gesellschaft.

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Hunkeler blickt hinter die schönen Basler Fassaden. Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Dies war die schönste Zeit des Tages, wenn er aus tiefer Nacht erwachte und erkannte, dass alles in Ordnung war. Die Welt der Träume, der er dann manchmal entstieg, war ganz und gar nicht in Ordnung. Er wusste das, obwohl er sich beim Erwachen kaum je an einen genau umrissenen, erzählbaren Traum erinnern konnte. Bloß an beängstigende Unordnung, in der alles Vernünftige aus den Fugen geraten war.“

Hansjörg Schneider, „Hunkeler in der Wildnis“


Es hat etwas Beruhigendes, den Hunkeler zu lesen.

Beruhigungsfaktor Nummer eins: In seiner Bärbeißigkeit, seiner Misanthropie ist der Hunkeler eine Konstante. In seinem zehnten Fall nun zwar im Ruhestand, bleibt er immer noch genervt von den Kollegen, den Mitmenschen, den Umständen des Lebens überhaupt. Das Granteln und Grummeln deutet jedoch auf eine besondere Feinfühligkeit hin, die nur ausgeglichen werden kann durch weitläufiges Spazierengehen, stundenlanges Sitzen bei einem Wein vor dem Haus, durch Steingeschosse in die Fenster der laut feiernden Nachbarn (dass das Geschoss versehentlich das Fenster eines verschreckten alten Ehepaares zertrümmert, bringt die seelische Konstruktion wieder gefährlich ins Wanken).

Beruhigungsfaktor Nummer zwei: Manchmal schielt man neidvoll auf die eidgenössischen Nachbarn, bei denen so manches anders, aber nach außen hin immer so proper erscheint. Der Hunkeler mit seinem großen Verständnis für die Abgehängten, Abseitigen, Verwirrten, er nimmt einen mit hinter die Fassaden. Beispielsweise ins Basler „Milchhüsli“, eine Kneipe, wo schon einmal ein Betrunkener auf dem Boden pennt. Man lernt mit dem Alt-68er Hunkeler: Die Schweiz hat ihren Reiz, aber eben nicht für jeden. Jede Gesellschaftsordnung, die auf Konsum und Kapital basiert, produziert auch ihre Opfer. Um die sich der Hunkeler dann, Ruhestand hin oder her, kümmert.

Blick auf das abseitige Basel

Beruhigungsfaktor Nummer drei: Hunkeler-Krimis zu lesen, das ist immer mehr, als „nur“ einen Krimi zu lesen. Das „literarische Gewissen“ darf sich beruhigend einlassen – das ist mehr als bloße Spannungsliteratur (das ist es im Grunde sogar am wenigsten), sondern immer auch Gesellschaftskritik, Philosophie, Lebenskunst. Meist rutscht der Kriminalfall nach hinten, in diesem, dem zehnten Fall sogar ein bisschen zu sehr: Der Tod eines Kritikers (das löst bei Walser-Lesern zunächst einen Schreckmoment aus) wird beinahe linker Hand aufgelöst, ist im Grunde nur der Rahmen. Hansjörg Schneider lässt seinen brummigen Ermittler diesmal mäandern durch Stadt (Basel), Land (Elsass) und Fluss (eine Runde im Rhein zu schwimmen, gehört da einfach dazu) und führt seine Leser somit in ganz verschiedene Lebenswelten, die von obdachlosen Ex-Kommunisten, streunenden Stadt-Indianerinnen, von Alkoholikerinnen und ätherisch scheinenden Künstlerinnen bewohnt werden. Geschickt verknüpft Schneider Gegenwart und Vergangenheit, zeigt auf, wie die Verstrickungen der Menschen während des Nationalsozialismus auch heute noch im Drei-Länder-Eck nachwirken.

Hunkeler zu lesen, das ist auch eine Übung in Entschleunigung. So unzulänglich einem die Welt da draußen auch erscheint, nach einigen Stunden mit dem philosophierenden Ex-Kommissar kommt man wieder in seine Mitte. Ohm. Ein Fazit, das auch Sylvia Staude von der Frankfurter Rundschau zieht:

„Allemal geht es bei Hansjörg Schneider mehr um Lebensphilosophie in schweizerischer Gelassenheit und leiser Melancholie, als um einen Whodunnit. Die Sache mit dem toten Kritiker ist bald nur ein Nebenbei. Und es stimmt schon, dass Hunkeler auch aufbrausend sein kann. Aber als Leserin kommt man mit ihm zur Ruhe, wird trotzdem nicht im Seichten unterhalten.“


Weitere Besprechungen gibt es bei:

Krimi-Couch
arcimboldis world

Informationen zum Buch:

Hansjörg Schneider
Hunkeler in der Wildnis
Diogenes Verlag, 2020
ISBN: 978-3-257-07097-2