„Wir New Yorker sind gut im Vergessen. Wir haben keine Zeit, uns um irgendjemand zu kümmern, also vergessen wir ihn. Unser kollektives Gedächtnis reicht zwanzig Minuten zurück, deshalb machen wir immer wieder dieselben Fehler. Deshalb unsere blind herumschießende Energie, deshalb ist New York anders als jede andere große Metropole dieser Welt. In London oder Rom lebt man mit seinen Vorfahren, die einen aus jedem alten Gebäude heraus anblicken. In New York reißen wir alles ohne Sinn und Verstand ab und bauen was Neues.“
Robert Reuland, „Brooklyn Supreme“
Und was mitunter auch vergessen wird, wenn einer vor dem Brooklyn Supreme Courthouse landet, das ist die Wahrheit: Etwas, das Gewerkschaftsvertreter Willy Way, ein ehemaliger Cop, eigentlich zur Genüge weiß. Doch als Way, der für die „Patrolmen’s Benevolent Association“ arbeitet, der jungen Polizistin Georgina Reed zur Seite stehen soll, ahnt er noch nicht, dass von da an sein ganzes Leben komplett auf den Kopf gestellt wird. Und er sich selbst einigen Wahrheiten stellen muss, denen er lange ausgewichen ist.
Georgina Reed, ein „Rookie“, hat im Dienst einen jungen Schwarzen erschossen, der einen Raubüberfall begangen haben soll. Sie behauptet, es sei Notwehr gewesen, ein Komplize des Opfers streitet dies ab. Ein Fall, der viel Zündstoff in sich birgt: Bald steht Willy Way, der für die junge Polizistin eine gute Lösung finden will und soll, zwischen allen Fronten. Die Medien stürzen sich ebenso auf diesen Fall von Polizeigewalt wie prominente Anwälte, auf den Straßen formiert sich der Protest von Bürgerrechtlern, Polizei- und Gewerkschaftsfunktionäre haben einiges zu vertuschen, und nicht zuletzt droht dem amtierenden obersten Staatsanwalt bei den nächsten Wahlen Konkurrenz durch einen berühmten Richter, einen typischen W.A.S.P.-Vertreter.

Im Zentrum eines Sturms aus Intrigen und Ehrgeiz
Zusätzlich zu all diesen politischen Verwicklungen verbindet Willy Way mit eben jenem Richter auch ein privates Geheimnis: Er war einst befreundet mit der Tochter des Richters, die nach einem (mutmaßlichen) Schwangerschaftsabbruch Suizid beging. Kurzum: Willy Way steckt plötzlich mitten im Zentrum eines Sturms, aus dem er – so viel sei an dieser Stelle verraten – nicht unbeschadet entkommen wird, wie ihn eine Staatsanwältin warnt:
„Sie sind von lauter gefährlichen Menschen umgeben, und keinen von denen interessiert es die Bohne, dass Sie der Antiheld Ihres eigenen kleinen Bildungsromans sind. Wenn Sie denen im Weg stehen, räumen sie Sie einfach weg. Wenn die Sie benutzen können, tun sie es. Und wenn die Sie zerquetschen müssen, werden Sie zerquetscht. So einfach ist das.“
Am Ende geht er, ganz in der Art amerikanischer Helden, für die Wahrheit, seine Wahrheit, einige Monate in den Knast, aufrecht, aber nicht gebrochen. Gut ist es, wenn man dann auf die Familie bauen kann: Zumindest bringt der Fall um Georgina Reed Willy Way seinem Vater, einen hartgesottenen Kriegsveteranen mit dem Herzen auf dem rechten Fleck, wieder näher und der Einstieg ins väterliche Gemüse-Lieferanten-Geschäft nach der unfreiwilligen Auszeit ist garantiert:
„Butler war gar nicht mal so übel. Das Essen erinnerte mich an das in der Schulmensa und der Ausblick meiner Zelle führte ins Nichts. Die Zelle selbst hatte etwas von einem schäbigen Motel an irgendeinem Highway. Nach siebzehn Monaten checkte ich aus, und heute erscheint mir das Ganze wie ein vor Ewigkeiten gesehener Film. Ich habe keine Alpträume davon, und laut meiner Visitenkarte bin ich derzeit Gen’l M’ger Wm. Way & Son NY’s Largest et cetera.“
Film ist hier ein gutes Stichwort: Denn die heimliche Hauptrolle in diesem raffiniert konstruierten politischen Roman spielt die Stadt, ihre heruntergekommenen Ecken, die Gehwege der gutbürgerlichen Viertel, die Keller und Zellen der Polizeiwachen, die kühlen Gerichtssäle, die pompös eingerichteten Anwaltskanzleien. „Brooklyn Supreme“ verströmt eine gewisse, dunkle New Yorker Atmosphäre, die beim Lesen zum Umsetzen in Kinobilder animiert. Und so meint auch William Boyle in seinem Nachwort: „Schade, dass Sidney Lumet keinen Film mehr daraus machen kann.“ Aber vielleicht hat Martin Scorsese Lust. Und Robert de Niro würde ich als Dad von Willy Way gut machen…
Robert Reuland der in Park Slope, Brooklyn, lebt, kennt jedenfalls seine Stadt und als ehemaliger Staatsanwalt deren Rechtssystem gut. Das wird in jeder Zeile deutlich:
„Damals war Bushwick schwarz und arm. Jetzt war es schwarz und arm und arm und neuweiß, ein Viertel der Pitbulls und Pudel, Schrotgewehre und Kinderwagen. Die Neuordnung hatte nicht einmal fünf Jahre gedauert.“
Atmosphärisch dicht in seinen Beschreibungen und intelligent durch die verschlungenen Pfade politischer Verwicklungen führend, ist „Brooklyn Supreme“ ein durchaus mitreißendes Buch, wenn auch Willy Way als Figur zu sehr so an der einen oder anderen Stelle manches Klischee eines Hard-Boiled-Helden erfüllt.
Bibliographische Angaben:
Robert Reuland
Brooklyn Supreme
Übersetzt von Andrea Stumpf
Polar Verlag, 2023
ISBN: 978-3-948392-73-4