Robert Reuland: Brooklyn Supreme

Die eigentliche Hauptrolle in diesem intelligent konstruierten Roman spielt die Stadt: “Brooklyn Supreme” von Robert Reuland evoziert Kinobilder.

„Wir New Yorker sind gut im Vergessen. Wir haben keine Zeit, uns um irgendjemand zu kümmern, also vergessen wir ihn. Unser kollektives Gedächtnis reicht zwanzig Minuten zurück, deshalb machen wir immer wieder dieselben Fehler. Deshalb unsere blind herumschießende Energie, deshalb ist New York anders als jede andere große Metropole dieser Welt. In London oder Rom lebt man mit seinen Vorfahren, die einen aus jedem alten Gebäude heraus anblicken. In New York reißen wir alles ohne Sinn und Verstand ab und bauen was Neues.“

Robert Reuland, „Brooklyn Supreme“


Und was mitunter auch vergessen wird, wenn einer vor dem Brooklyn Supreme Courthouse landet, das ist die Wahrheit: Etwas, das Gewerkschaftsvertreter Willy Way, ein ehemaliger Cop, eigentlich zur Genüge weiß. Doch als Way, der für die „Patrolmen’s Benevolent Association“ arbeitet, der jungen Polizistin Georgina Reed zur Seite stehen soll, ahnt er noch nicht, dass von da an sein ganzes Leben komplett auf den Kopf gestellt wird. Und er sich selbst einigen Wahrheiten stellen muss, denen er lange ausgewichen ist.

Georgina Reed, ein „Rookie“, hat im Dienst einen jungen Schwarzen erschossen, der einen Raubüberfall begangen haben soll. Sie behauptet, es sei Notwehr gewesen, ein Komplize des Opfers streitet dies ab. Ein Fall, der viel Zündstoff in sich birgt: Bald steht Willy Way, der für die junge Polizistin eine gute Lösung finden will und soll, zwischen allen Fronten. Die Medien stürzen sich ebenso auf diesen Fall von Polizeigewalt wie prominente Anwälte, auf den Straßen formiert sich der Protest von Bürgerrechtlern, Polizei- und Gewerkschaftsfunktionäre haben einiges zu vertuschen, und nicht zuletzt droht dem amtierenden obersten Staatsanwalt bei den nächsten Wahlen Konkurrenz durch einen berühmten Richter, einen typischen W.A.S.P.-Vertreter.

Bild von Patrick auf Pixabay

Im Zentrum eines Sturms aus Intrigen und Ehrgeiz

Zusätzlich zu all diesen politischen Verwicklungen verbindet Willy Way mit eben jenem Richter auch ein privates Geheimnis: Er war einst befreundet mit der Tochter des Richters, die nach einem (mutmaßlichen) Schwangerschaftsabbruch Suizid beging. Kurzum: Willy Way steckt plötzlich mitten im Zentrum eines Sturms, aus dem er – so viel sei an dieser Stelle verraten – nicht unbeschadet entkommen wird, wie ihn eine Staatsanwältin warnt:

„Sie sind von lauter gefährlichen Menschen umgeben, und keinen von denen interessiert es die Bohne, dass Sie der Antiheld Ihres eigenen kleinen Bildungsromans sind. Wenn Sie denen im Weg stehen, räumen sie Sie einfach weg. Wenn die Sie benutzen können, tun sie es. Und wenn die Sie zerquetschen müssen, werden Sie zerquetscht. So einfach ist das.“

Am Ende geht er, ganz in der Art amerikanischer Helden, für die Wahrheit, seine Wahrheit, einige Monate in den Knast, aufrecht, aber nicht gebrochen. Gut ist es, wenn man dann auf die Familie bauen kann: Zumindest bringt der Fall um Georgina Reed Willy Way seinem Vater, einen hartgesottenen Kriegsveteranen mit dem Herzen auf dem rechten Fleck, wieder näher und der Einstieg ins väterliche Gemüse-Lieferanten-Geschäft nach der unfreiwilligen Auszeit ist garantiert:

„Butler war gar nicht mal so übel. Das Essen erinnerte mich an das in der Schulmensa und der Ausblick meiner Zelle führte ins Nichts. Die Zelle selbst hatte etwas von einem schäbigen Motel an irgendeinem Highway. Nach siebzehn Monaten checkte ich aus, und heute erscheint mir das Ganze wie ein vor Ewigkeiten gesehener Film. Ich habe keine Alpträume davon, und laut meiner Visitenkarte bin ich derzeit Gen’l M’ger Wm. Way & Son NY’s Largest et cetera.“

Film ist hier ein gutes Stichwort: Denn die heimliche Hauptrolle in diesem raffiniert konstruierten politischen Roman spielt die Stadt, ihre heruntergekommenen Ecken, die Gehwege der gutbürgerlichen Viertel, die Keller und Zellen der Polizeiwachen, die kühlen Gerichtssäle, die pompös eingerichteten Anwaltskanzleien. „Brooklyn Supreme“ verströmt eine gewisse, dunkle New Yorker Atmosphäre, die beim Lesen zum Umsetzen in Kinobilder animiert. Und so meint auch William Boyle in seinem Nachwort: „Schade, dass Sidney Lumet keinen Film mehr daraus machen kann.“ Aber vielleicht hat Martin Scorsese Lust. Und Robert de Niro würde ich als Dad von Willy Way gut machen…

Robert Reuland der in Park Slope, Brooklyn, lebt, kennt jedenfalls seine Stadt und als ehemaliger Staatsanwalt deren Rechtssystem gut. Das wird in jeder Zeile deutlich:

„Damals war Bushwick schwarz und arm. Jetzt war es schwarz und arm und arm und neuweiß, ein Viertel der Pitbulls und Pudel, Schrotgewehre und Kinderwagen. Die Neuordnung hatte nicht einmal fünf Jahre gedauert.“

Atmosphärisch dicht in seinen Beschreibungen und intelligent durch die verschlungenen Pfade politischer Verwicklungen führend, ist „Brooklyn Supreme“ ein durchaus mitreißendes Buch, wenn auch Willy Way als Figur zu sehr so an der einen oder anderen Stelle manches Klischee eines Hard-Boiled-Helden erfüllt.


Bibliographische Angaben:

Robert Reuland
Brooklyn Supreme
Übersetzt von Andrea Stumpf
Polar Verlag, 2023
ISBN: 978-3-948392-73-4

WORTSCHAU Verlag: Autor*innen aus Europa und den USA beim “Seiten Wechsel”

Im Sommer 2019 begannen einige Autorinnen und Autoren an ganz verschiedenen Orten der Welt ein gemeinsames Tagebuch. Jeder von ihnen notierte an bestimmten Tagen, woran sie arbeiteten, was sie erlebten, was sie dachten. Die Texte sind unter dem Titel “Seiten Wechsel” im WORTSCHAU Verlag erschienen.

Abonnieren, um weiterzulesen

Werde ein zahlender Abonnent, um Zugriff auf den Rest dieses Beitrags und weitere exklusive Inhalte für Abonnenten zu erhalten.

Already a paid subscriber?

Joy Williams: Stories

In den USA ist Joy Williams lange schon eine literarische Größe, bewundert von Lauren Groff, Don DeLillo, Raymond Carver und anderen. Auf dem deutschen Buchmarkt wird das Werk der fast 80-jährigen Autorin erst jetzt entdeckt. Höchste Zeit!

„Dann, eines Nachmittags, kam Walter von der Arbeit in der Autowerkstatt nach Hause, und es schien, als wäre er aus einem seltsamen Schlaf erwacht. Sein Erwachen schien ihn nicht zu erschrecken. Seine kummervollen Tage und Nächte endeten mit einer Wucht, die nicht größer war als das Auflaufen eines Bootskiels am Ufer eines Flusses.“

Aus der Erzählung „Letzte Generation“
Joy Williams, „Stories“


Es sind diese beinahe beiläufigen Bilder, sacht wie das Auflaufen eines Bootskiels, die Joy Williams zu einer Meisterin des Untergründigen machen. In den USA ist die 1944 in Chelmsford, eine Kleinstadt in Massachusetts geborene Schriftstellerin, lange schon eine literarische Referenz: Bewundernde Noten von Don DeLillo, Bret Easton Ellis, Lauren Groff und Raymond Carver sind auf der Rückseite der deutschen Buchausgabe ihrer „Stories“ zu lesen.

Bild von Robert Balog auf Pixabay

In ihrer Heimat vielfach ausgezeichnet, hierzulande bislang noch völlig unbeachtet: Zwei übersetzte Bände erschienen vor über drei Jahrzehnten, danach las man nichts mehr über die Erzählerin. Umso erfreulicher, dass der Band „Stories“ nun von der ganzen Bandbreite des Feuilletons besprochen wurde. Zu Recht: So grandios taucht kaum eine in das menschliche Herz der Finsternis ein. „Stories“ versammelt eine kluge Auswahl aus dem Werk von Joy Williams, sozusagen ein „best of“ von den 1970er-Jahren bis 2014, die die Bandbreite dieser Schriftstellerin zeigen.

Mit einer bissigen Lust an der Entlarvung ihrer Figuren

Mit kurzen, pointierten Sätzen nimmt sie ihren Figuren die Masken vom Gesicht, entlarvt sie mit einer gewissen bissigen Lust. Über Jack, einen egozentrischen forensischen Anthropologen, der sich bei einem Jagdunfall mit einem Pfeil durchs Auge selbst das Gehirn wegschießt, lässt sie dessen frustrierte Lebensgefährtin Miriam sagen:

„Aus der Reha kam er mit einem Gesicht nach Hause, das so ausdruckslos war wie ein glasierter Kuchen.“

Miriam begibt sich in der Erzählung „Kongress“ schließlich mit Jack und dessen Studenten Carl, dessen Besitzansprüche an den behinderten Forscher immer massiver werden, auf einen Roadtrip, beginnt mit einer Lampe mit Tierfüßen zu sprechen und übernimmt am Ende die Stelle eines Präparators in einem Naturkundemuseum mitten in der Pampa. Frank Schäfer kritisierte in seiner Rezension in der “taz” diese Story als einzige, die zu sehr in eine Traumlogik abgleite, andere erkennen in solchen Erzählungen die Nähe zu George Saunders.

„Auch Williams betrachtet die Realität so lange, bis sie einem irgendwann ganz fremd erscheint“, meint Frank Schäfer. „Kongress“ aber zeigt in meinen Augen: Ebenso beherrscht Williams die Kunst, das Irreale ganz normal, ganz real erscheinen zu lassen. Warum nicht öfter mit einer Lampe sprechen?

Ein Abbild amerikanischer Tristesse

Tatsächlich fällt „Kongress“ unter den insgesamt 13 Erzählungen in „Stories“ etwas aus dem Rahmen. Gemeinsam haben sie jedoch alle eines: Sie sind Skizzen dieser speziellen amerikanischen Tristesse, die man auch aus Werken anderer US-Schriftsteller – neben Williams‘ Studienkollegen Raymond Carver sowie Lucia Berlin wären da auch die etwas älteren Richard Yates und John Cheever zu nennen – kennengelernt hat.

Doch neben der Genauigkeit des Beobachtens und der feinen Zeichnung ihrer Figuren (meist Verzweifelte, Abgehängte, Ausgebrannte), der Kunst der feinen psychologischen Skizzierung, die Charaktere in wenigen Bildern greifbar macht und untergründigen Melancholie, die diese Autor*innen gemeinsam haben, sind die Stories von Joy Williams in einem Wesenszug einzigartig: Sie verströmen eine Aura des Unheimlichen, Abgründigen, die einen immer wieder erschauern lässt. Es wundert nicht, dass Bret Easton Ellis „der Mut fehlt, die Geschichten ein zweites Mal zu lesen“.

In „Liebe“ erblickt ein kleines Mädchen bei einer winterlichen Autofahrt einen „Schneeschuhhasen“:

„Der Hase ist prächtig! Und so schnell! Er gleitet um unsichtbare Hindernisse, wie ein Wesen aus einem freundlichen Traum, fliegt über den Graben, die Pfoten wie Paddel, leicht gelblich, von der Farbe rohen Holzes.“

Sekunden später ist der Hase tot und „stürzt, wie eine Kugel, Pfoten und Kopf eng an den Körper gepresst.“

Immer nah am Kipppunkt zur Tragödie

Urplötzlich kommt in diesen Erzählungen der Kipppunkt, in denen die Normalität zur großen Tragödie wird. Oder zumindest schleicht sich die Ahnung ein, dass das Ganze böse enden könnte, sei es nun in „Lu-Lu“, als eine junge Frau die Boa Constrictor ihrer alten Nachbarn entführt oder in der Erzählung „Rost“: Der weitaus ältere Ehemann von Lucy, Dwight, entflammt für einen rostigen Ford Thunderbird, dem keine Autowerkstatt noch eine Chance gibt. Schließlich landet das Auto im Wohnzimmer und das ungleiche Paar im Auto, aus der Fensterscheibe starrend. Das unspektakuläre Ende ist ganz groß. Man kann nur das Schlimmste fürchten:

„Ein leichter Regen fiel, ein warmer Frühlingsregen. Während sie hinsah, fiel er rascher. Er war silbrig, doch je rascher er fiel, desto weniger wirkte er wie Regen, und sie konnte es fast klirren hören, als er auf die Straße traf.“

Warum Joy Williams erst jetzt im deutschsprachigen Raum als große Entdeckung gefeiert wird, mag vor allem darin liegen, dass die Form der Erzählung es auf dem deutschen Buchmarkt allgemein schwer hat. Was die Gründe dafür sind, ist mir ein Rätsel: Für mich ist es große Kunst, eine ganze Welt und ein ganzes Leben, dichte Atmosphäre und funkelnde Sätze auf wenige Seiten zu packen, ohne alles erzählen. Die Kunst der Andeutung – diese beherrscht Joy Williams meisterhaft.


Informationen zum Buch:

Joy Williams
Stories
Übersetzt von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz
Dtv Verlag, 2023
ISBN: 978-3-423-28321-2

Gwendolyn Brooks: Maud Martha

„Maud Martha“: Der einzige Roman der amerikanischen Lyrikerin Gwendolyn Brooks ist eine beeindruckende Wiederentdeckung. Auf beinahe verhaltene Weise zeigt der Text die Folgen von Diskriminierung und Ausgrenzung auf. Die melancholische Ballade eines Frauenlebens.

„Sie war sich sicher, jetzt, wo sie wach war. Denn wach war sie. Das war Wachsein. Sich räkeln, mit den Finger wackeln – sie fühlte sich von dem zusammengeknüllten, dünnen rauchgrauen Bettzeug noch einigermaßen geschützt vor dem plötzlichen Angriff der roten Vorhänge mit den weißen und grünen Blumen, dem Bild mit der Mutter und dem Hund, die mit einem Baby schmusten, und der Kommode mit den blauen Papierblumen darauf. Aber auf keinen Fall gab es einen Zweifel daran, dass sie jetzt ernsthaft erwacht war.“

Gwendolyn Brooks, „Maud Martha“


Ein langsames Erwachen in eine Welt, die ebenso mütterliche Sanftmut, Spieltrieb und Freude wie aggressives Rot, Streit und Hass zu bieten hat – das kleine Zitat aus „Liebe und Gorillas“, einer der Vignetten aus dem Leben der Maud Martha Brown, zeigt die virtuose Meisterhaftigkeit der Schriftstellerin Gwendolyn Brooks. In ihrem einzigen Roman, 1953 in den USA erschienen und nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegend, schildert sie ein Frauenleben, den Alltag einer Frau, mit vielen kleinen Spotlights auf Alltägliches – ohne je in ihrer Sprache alltäglich zu werden. Die Poesie der Worte und Bilder durchdringt dank der gelungenen Übersetzung von Andrea Ott die rauchgraue Umwelt, in der Maud Martha leben muss. Gwendolyn Brooks, die Lyrikerin, die 1950 als erste Schwarze Autorin den Pulitzerpreis für ihren Gedichtband „Annie Allen“ erhielt, überrascht und begeistert in diesem Prosatext, den die Genrebezeichnung Roman nur von ungefähr trifft, mit der Poesie ihrer Sprache und einem besonderen Blick auf die Welt, wie ihn Lyrikerinnen innehaben, die aus kleinen Szenen große Geschichten erschaffen.

Autofiktionaler Text der Pulitzer-Preisträgerin

„Maud Martha“, ein autofiktional geprägter Text, führt durch das Leben einer Frau, die in den 1940er-Jahren in der South Side von Chicago inmitten der Schwarzen Community aufwächst. Wie Schlaglichter setzt Gwendolyn Brooks die einzelnen Geschichten auf verschiedene Phasen eines Frauenlebens vom kindlichen Erleben der Erwachsenenwelt bis hin zum eigenen Dasein als Mutter. Diese Vignetten könnten wie poetische Kurzgeschichten jede auch für sich alleine stehen, lose verbunden durch die Protagonistin ergeben sie im Zusammenhang den Roman eines Lebens.

Bild von David Mark auf Pixabay

Maud Martha träumt von der ersten und der großen Liebe, von einem Job in New York, von einer eigenen Wohnung, die sie in Gedanken nach ihrem Geschmack einrichtet. Träume sind keine Angelegenheit der Hautfarbe, die Realität dagegen schon: Immer wieder werden ihr Grenzen aufgezeigt, wird sie in von einer Gesellschaft, in der Machtverhältnisse durch Hautfarbe und soziale Zugehörigkeit definiert sind, an ihren Platz verwiesen, sei es direkt, indem sie beim Einkaufen nicht bedient wird, seien es die indirekten Verletzungen durch unbewusste Worte, Gesten, Blicke. Durch den beinahe schon nebensächlichen Ton, in dem Gwendolyn Brooks solche Vorkommnisse in ihren Roman einfließen lässt, werden sie umso gewichtiger: Es wird spürbar, wie „alltäglich“ diese Art von Diskriminierung war (und bis heute noch ist). Und wie sie dennoch immer wieder bis ins Mark trifft.

Nachwort von Daniel Schreiber

„Wie geht man mit der machtvollen inneren Stille unterdrückter Wut um?“ – diese Frage stellt Daniel Schreiber in seinem Nachwort zu „Maud Martha“. Und gibt eine treffende Antwort: „Maud Martha gibt keine radikalen Antworten auf diese Fragen. Stattdessen hört Brooks den emotionalen Echos dieses Erlebens nach, macht sie poetisch erfahrbar und setzt ihnen ein fast schon spirituell zu nennendes Vertrauen in die eigene menschliche Würde entgegen.“

Im viel zu frühen Erwachen aus der Kindheit in eine feindlich gesinnte Umwelt hinein schließt sich bei dieser „Ballade gelebten Lebens“ (Daniel Schreiber) der erzählerische Kreis: Ist es zunächst Maud Martha selbst, die aus dem Schlummer in eine wenig freundliche Umgebung erwacht, so muss sie später als junge Mutter hilflos zusehen, wie ihrer Tochter Paulette die Kindheitsträume genommen werden. In einer der letzten Kürzestgeschichten dieses anrührenden Werkes werden Martha und Paulette wegen ihrer Hautfarbe vom Weihnachtsmann im Einkaufsladen ignoriert. Wie Gwendolyn Brooks die Geschichte beendet, zeigt jedoch nicht nur die Würde, die sowohl ihr als auch ihrer Hauptfigur innewohnen, sondern ebenfalls ihren Mutterwitz:

„Paulette spürte den Blick ihrer Mutter und schaute zu ihr hoch. Maud Martha hätte am liebsten geheult.
Lass ihr noch dieses himmlische Land!
Lass ihr noch die Märchen, wo die Hexen am Ende immer getötet werden und Santa der Herr des Winters ist, freundlich, ein reines Wesen, das niemals schwitzt, niemals etwas Dummes oder Erfolgloses tut oder sagt, niemals komisch aussieht und niemals gezwungen ist, an der Kette zu ziehen, um die Toilette zu spülen.“

„Maud Martha“: Eine wundervolle Wiederentdeckung, die auch dazu einlädt, die Lyrikerin Gwendolyn Brooks kennenzulernen – leider sind mir momentan jedoch keine Übertragungen ihrer Lyrik in die deutsche Sprache geläufig.


Informationen zum Buch:

Gwendolyn Brooks
Maud Martha
Übersetzt von Andrea Ott
Manesse Verlag, 2023
ISBN: 978-3-7175-2564-6

William Faulkner: Als ich im Sterben lag

William Faulkners Roman „Als ich im Sterben lag“ erschien 1930 und war, nach „Schall und Wahn“ das Buch, das seinen Weltruhm als außergewöhnlicher Stilist begründete. Eine Tour de Force, nicht nur für die Protagonisten, sondern auch ein Parforceritt für den Schriftsteller selbst.

„Aber ich mach ihr keinen Vorwurf.“

Dieser eine Satz, den der alte Farmer immer wieder wie ein Mantra wiederholt, enthüllt die ganze Absurdität der Situation: Denn Addie, die ursächlich ist für diese tragisch-komische Odyssee, auf die sich ihre Familie begibt, liegt da längst schon tot im Sarg und ist völlig unempfänglich für Vorwürfe. Sie, die Mutter von fünf Kindern, hatte ihrem Mann Anse das Versprechen abgenommen, nicht in Yoknapatawpha County unter die Erde zu kommen, sondern in der weit entfernt liegenden Kleinstadt Jefferson, aus der sie ursprünglich stammte. Ein deutliches Statement: Im Tod wollte sie sich nicht mehr gemein machen mit dem spindeldürren, buckligen, zahnlosen Farmer, den sie da gefühlt weit unter ihrem Stand geheiratet hatte.

Bild von Trenna Sonnenschein auf Pixabay

Leichenzug mit Hindernissen

Noch unter den Augen der Sterbenden zimmert ihr Sohn Cash also einen Sarg und werden die Reisevorbereitungen getroffen. Doch vorher müssen, trotz aller Warnungen vor einem aufkommenden Unwetter, noch einige Handvoll Dollar verdient werden – also schickt Anse zwei seiner Söhne noch auf eine letzte Fuhr vor der Abfahrt. Weil sich dadurch alles verzögert, stößt der Leichenzug auf die zu erwartenden Hindernisse: Der Fluss läuft über, die Brücken brechen und beim Versuch, das reißende Wasser zu überqueren, gehen Fuhrwerk und Sarg beinahe verloren.

Als die Familien dann letzten Endes trotz aller Widernisse in Jefferson anlangt, während bereits die Bussarde über der Truppe streifen, angezogen vom Verwesungsgeruch, haben beinahe alle etwas verloren: Der älteste Sohn Cash sein Bein, Darl seinen Verstand, Jewel sein mühsam erspartes Pferd, Dewey Dell das Geld für eine Abtreibung und der Jüngste die Unschuld seines kindlichen Denkens. Nur Anse erlebt ein Happy End oder, wie Eberhard Falcke es in seiner Rezension für den Deutschlandfunk formuliert, „die haarsträubend mickrige Parodie eines Happy Ends“. Mit dem Geld seiner Kinder leistet er sich endlich ein neues Gebiss und präsentiert en passant gleich eine neue Mrs. Bundren.

Das Buch begründete Faulkners Weltruhm

William Faulkners Roman „Als ich im Sterben lag“ erschien 1930 und war, nach „Schall und Wahn“ das Buch, das seinen Weltruhm als außergewöhnlicher Stilist begründete. Eine Tour de Force, nicht nur für die Protagonisten, die mit unvergleichlicher Zähigkeit an ihrem Vorhaben festhalten (ein ums andere Mal kommt beim Lesen der ketzerische Gedanke auf, warum man Addie nicht einfach an Ort und Stelle begräbt).

Sondern auch ein Parforceritt für den Schriftsteller selbst, wie Eberhard Falcke in seiner Rezension ausführt:
„Tatsächlich war es eine Tour de Force im doppelten Sinn, auf die sich Faulkner hier eingelassen hatte. Er schrieb das Buch, wie er behauptete, in nur sechs Wochen, des Nachts, während er das Heizwerk der Universität beaufsichtigte. Zugleich aber handelt der Roman buchstäblich von einer verrückten Gewalttour, von einem schicksalsprallen Abenteuer, von einer Odyssee, deren Personal allerdings nicht aus griechischen Helden, sondern aus ärmlichen amerikanischen Südstaatenfarmern besteht.“

Geschichten über die weiße Unterschicht

Faulkner hatte bereits mit „Schall und Wahn“ seinen literarischen Kosmos gefunden, sein Sujet, die armen, rückständigen Farmer und Leute aus dem amerikanischen Süden, meist gottesfürchtig, wenn nicht gar fundamental christlich, immer aber auch psychisch oder physisch gewalttätig, archaisch im eigentlichen Sinne. „White trash“ würde man sie heute nennen, die Bundrens, zu denen man, je weiter die Reise vorangeht, ein in sich widersprüchliches Verhältnis entwickelt, das sich aus Unglauben, Mitleid, Empathie und Abstoßung zusammensetzt. Eben wie im echten Leben.

Nebst der Wahl dieser ungewöhnlichen Protagonisten, wahrer Antihelden, war die eigentliche Sensation des Romans bei seinem Erscheinen seine formale Konzeption: Multiperspektivisch, es kommen Dutzende von Stimmen zu Wort, selbst die Addies, zusammengesetzt aus inneren Monologen, die insbesondere im Falle des jüngsten Sohns, des Kindes Vardaman, verdeutlichen, was „Bewusstseinsstrom“ bedeutet. Faulkner war einer der ersten Autoren, der diese Technik, ja, vielmehr Kunstgriff, anwandte. Und so ist „Als ich im Sterben lag“ auch ein faszinierendes Puzzle, das nach und nach die Geheimnisse seiner einzelnen Figuren enthüllt, ein Bild ergibt, das dennoch niemals alles enthüllt – die letzte Deutung bleibt den Lesern überlassen.

Informationen zum Buch:

William Faulkner
Als ich im Sterben lag
Neuübersetzung durch Maria Carlsson
Rowohlt Verlag, 2012
ISBN: 978-3-498-02133-7