Mathias Vatterodt: Wild Road Trip: Der lange Weg nach Indien

Mit Gastautorin Gudrun Glock startet eine neue Rubrik auf dem Blog: Aktuelle Reiseliteratur. Zum Start geht es mit dem Auto von Dresden nach Indien.

Wild Road Trip
Bilder: Gudrun Glock

„Auch ich habe einmal davon geträumt, Indien auf dem Landweg zu erreichen. Trotzdem wollte ich das Buch eigentlich für diese Rezension nur querlesen. Aber bereits nach den ersten 20 Seiten konnte ich keine einzige mehr auslassen. Dieser Roadtrip ließ mich nicht mehr los, bis ich auch die letzten Worte genüsslich ausgekostet hatte.“ 

Ein Gastbeitrag von Gudrun Glock


Der Plan: Abfahrt am 12. Juli 2016 mit dem Auto
Die Reise: durch 24 Länder in 11 Monaten auf knapp 54.000 km
Das Ziel: Indien

In seinem WG-Zimmer im nasskalten Berlin fasst Mathias Vatterodt den Entschluss, loszuziehen und stellt fest: „Von Dresden nach Indien gibt es keine Autobahn“. Er verbringt schon Monate vor seiner Abreise mit den Planungen, legt seine Route fest und besorgt sich die nötigen Visa.  Für seinen Mitsubishi Pajero, den er extra dafür gekauft und mit seinem Vater umgebaut hat, entrichtet er Gebühren und Kautionen und bewältigt allerlei Papier- und Formularkram. Seinen motorisierten Reisebegleiter nennt er “Pension Sachsenruh“, weil er auch darin übernachten kann und es unzählige Male auch tut.

Ein lebendiges Reisebild

Mit Vatterodt reist man durch Länder, von denen ich in meinem Leben noch nie etwas gehört habe. Die Beschreibungen der beeindruckenden Landschaften haben mich ebenso begeistert, wie die der Menschen an jenen Orten.  Ob Hintergrundwissen zur Religion oder politischen Lage der jeweiligen Region, zu architektonischen Details faszinierender Bauten, landestypischen Mahlzeiten oder Verhaltensweisen – all diese Recherchen und Beobachtungen haben ein sehr lebendiges Bild der Reise vor meinem inneren Auge entstehen lassen.

Die größte Annehmlichkeit auf der Reise und zugleich die schwierigste Hürde an den Grenzübergängen stellt sein Auto dar. Und dabei wird nicht nur Tanken immer wieder zu einer echten Herausforderung für den Weltenbummler, sondern mit zunehmender Entfernung von Dresden werden auch die Grenzübertritte komplizierter und langwieriger. „Wenn Du kein Schmiergeld bezahlen möchtest, musst Du immer mehr Zeit haben als Dein Gegenüber“, kommentiert er eine Weisheit aus Armenien, die da lautet: „Wenn ein Problem nicht gelöst werden kann, gibt es zwei Mittel. Das eine ist Zeit, das andere Geld.“

„Indien als Ziel war eher ein Orientierungspunkt und die Erfahrungen auf dem Weg das eigentliche Ziel“, resümiert er. So handelt das Buch nicht nur von großartigen Monumenten und Landschaften, sondern vielmehr von Begegnungen, Verständigung und Austausch, immenser Gastfreundschaft und davon, was Menschen bewegt und berührt.

Das Ergebnis: 140 neue Freunde

Gudrun Glock


Zum Buch:

Mathias Vatterodt
Wild Road Trip. Der lange Weg nach Indien
Mana Verlag 2019
Broschur, 320 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 17,50 Euro
ISBN: 978-3-95503-119-0


Zur Autorin:

Gudrun Glock  ist gelernte und entdeckungsfreudige Reiseverkehrskauffrau. Ihr Fernweh stillt sie durch Reisen und Bücher, durch die sie in fremde Kulturen und Welten blicken kann. Sie lebt und arbeitet bei Augsburg, wo sie für ein Augsburger Magazin  Beiträge, Buchrezensionen und die Kolumne „Nahrungskette“ schreibt. Ihr Hauptinteresse und Betätigungsfeld gilt dem Ernährungsaspekt der Ayurvedischen Lehre. Sie sagt dazu: “Wir kommunizieren während des Essens. Und Essen selbst bedeutet Kommunikation. Deshalb könnte man auch sagen, das zentrale Thema meiner Arbeit ist die Kommunikation, denn das ganze Leben ist Kommunikation.”
Homepage: http://augsburg-ayurveda.de/ 

Martha Gellhorn: Reisen mit mir und einem Anderen. Fünf Höllenfahrten.

Die amerikanische Autorin Martha Gellhorn war eine “Welt-Verschlingerin”: Eine der letzten abenteuerlich Reisenden vor dem Ausbruch des Massentourismus.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Der Sonnenuntergang leuchtet rot an einem unermeßlich weiten Himmel. Die kleinen Berge und gewaltigen Felsen aus Vulkangestein stehen schwarz gegen das Licht. Funkelnde Feuer brennen in den Dörfern. In Richtung Garua nehmen die Felsblöcke seltsame Gestalt an – ein großer Affengott, ein Buddha; außer dem Geräusch des Wagens ist kein Laut zu vernehmen, und niemand ist zu sehen. Ich spüre, daß der Mensch auf diesem Erdteil nur ein Zwischenspiel von kurzer Dauer ist. Kein Land erschien mir je älter, weniger berührt oder geprägt von der menschlichen Rasse.“

Martha Gellhorn, „Reisen mit mir und einem Anderen.
Fünf Höllenfahrten“

Ja, es gibt sie auch in diesem Buch, die romantischen Momente, die das Reisen mit sich bringt, diese Augen- und Anblicke, die so überwältigend sind, dass die Poesie der Sprache unzureichend erscheint. Und Martha Gellhorn (1908 – 1998), die Vielgereiste, die hartgesottene Kriegsberichterstatterin und Autorin, nahm nicht wenige Mühen und Strapazen auf sich, um die Welt in ihrer unermesslichen Schönheit so weit als möglich zu ermessen: Die Amerikanerin wechselte ihre Wohnsitze und „möblierte Übergangswohnungen“ wie andere Menschen ihre Unterkleidung, eine Unsesshafte, eine Reisesüchtige von ihrer Kindheit in St. Louis an.

„Ich war mein ganzes Leben lang eine Reisende, angefangen in meiner Kindheit mit den Straßenbahnen meiner Geburtsstadt, die mich nach Samarkand, Peking, Tahiti, Konstantinopel transportierten. Ortsnamen waren der stärkste Zauber, den ich kannte. Und sie sind`s noch“, erinnert sich später die 70-jährige. „Und ich hatte seit meinem einundzwanzigsten Geburtstag wie verrückt darauf hingearbeitet, meinen Plan zu verwirklichen, überall gewesen zu sein und jedes und jeden gesehen zu haben und darüber zu schreiben.“

Bis zu ihrem siebten Lebensjahrzehnt war sie in 53 Ländern gewesen, schrieb Gellhorn im Vorwort zu diesem Buch: “Und „unter „gewesen war“ verstehe ich, daß ich mich lange genug dort aufgehalten habe, um etwas vom Leben, von Sitten und Gebräuchen zu erfahren. Eben nicht wie in Indien (das damalige Indien), als ich in Karatschi landete, einen schnellen Blick auf die Kühe und die armen gequälten Kinder warf und wie ein geölter Blitz zum Flughafen zurücklief – nichts wie weg.“

Nichts wie weg wollte Gellhorn auch in den „fünf Höllenfahrten“, von denen sie in diesem 1978 erstmals veröffentlichten Buch berichtete – doch die Umstände erlaubten das blitzartige Abreisen nicht. Zum Glück für die späteren Leser: Denn Gellhorn schreibt so temperamentvoll, so unterhaltsam und witzig über ihre katastrophalsten Reiseunternehmungen, dass ihre Schilderungen von Dauermärschen durch chinesischen Schlamm,  von schlechtem Essen, fürchterlichen Krankheiten wie der Chinafäule und Sonnenbränden, von sprachunkundigen Dolmetschern und wenig fahrtauglichen Reiseführern zu einem wahren Vergnügen werden.

Ernest Hemingway ist ihr unwilliger Begleiter nach Cina

Meist reiste sie nach dem Motto „Spring, bevor du schaust“, eine alte slawische Volksweisheit, die dem Buch als Zitat vorangestellt ist. So kann sie in den 1940er-Jahren ihren damaligen Ehemann Ernest Hemingway als zunächst „Unwilligen Begleiter“ (UB) davon überzeugen, sie auf eine recht kurzfristig angesetzte Reportagetour an die chinesisch-japanische Kriegsfront zu begleiten. Von der Front sehen die beiden Amerikaner, stets abgeschirmt vom chinesischen Kader, wenig. Von den politischen Verhältnissen – auch das schildert Gellhorn voller Selbstironie – haben sie im Grunde genauso wenig Ahnung: Den Revolutionär Tschu En Lai, den sie bei einem konspirativen Treffen kennenlernt, kennt sie nicht, erst später wird sie von seiner Rolle in der Kommunistischen Partei erfahren. Aber der „UB“ dagegen erweist sich als tüchtiger Diplomat, der bei den endlosen Festessen Reden schwingt, die Gastgeber unter den Tisch trinkt und auch einmal ein erschöpftes kleines chinesisches Pferd auf den Armen trägt statt auf demselben zu sitzen.

Besuch bei Mandelstams Witwe

Spontan auch ihr Entschluss, in Moskau die Witwe von Ossip Mandelstam zu besuchen – ein einwöchiger Aufenthalt hinter dem Eisernen Vorhang, der sie schnell ernüchtert. Moskau empfindet sie als kalt, die Moskauer als ablehnend:

„Diese Stadt war wortwörtlich nicht von dieser Welt. Sie gehörte zu keiner Welt, die ich kannte, war nicht Teil Europas, war ganz und gar fremdartig. Entweder hatte der Krake Staat das Leben aus diesen Leuten herausgequetscht, oder sie versteckten sich hinter diesen freundlichen Gesichtern, mißtrauten einander, weil man nie wußte, wer denunzierte.“

Politisch nicht immer korrekt, oft auch mit dem Blick einer zwar liberalen, aber doch sehr amerikanisch geprägten Berichterstatterin, aber immer temperamentvoll, manchmal scharf und oft sehr komisch: So blickt die Reisende während ihrer Höllenfahrten auf die Welt. Nicht verschwiegen werden darf jedoch, dass dies auch ein Buch der Melancholie ist:

„Die Idee zu diesem Buch packte mich, als ich auf einem kleinen, verkommenen Strand am Westzipfel Kretas saß, umgeben von einem leckgeschlagenen Schuh und einem verrosteten Nachttopf. Um mich herum: Der Abfall unserer Spezies.“

In ihrem Nachwort bezeichnet die Literaturkennerin Sigrid Löffler Martha Gellhorn als eine der Letzten ihrer Art, als „Welt-Verschlingerin“:

„Martha Gellhorn war eine solche Enthusiastin des Reisens, und sie bereiste die Welt im gerade noch richtigen, im letztmöglichen Moment: noch abenteuerlich, noch exklusiv – knapp, ehe der globale Tourismus die ganze Welt mit seinen All-inclusive-Urlaubsparadiesen zurichtete.“

Martha Gellhorn erlebte als größtes Glück des Reisens stets die Momente der vollkommenen Einsamkeit: Berauscht vom Anblick des afrikanischen Sternenhimmels, vollkommen glücklich in einer abgeschiedenen Bucht in das Meer tauchend, sprachlos vom Anblick des ostafrikanischen Rift Valley. Es wird wohl kaum mehr Orte an der Welt geben, die vollkommen unberührt von Menschenhand sind, die noch nicht geprägt sind von den Auswüchsen unserer Zivilisation. Man findet dieses Glück des Reisens allenfalls noch in der Literatur – beispielsweise auf den Spuren Gellhorns.

Im Schweizer Dörlemann Verlag sind in den vergangenen Jahren einige ausgewählte Werke der Schriftstellerin und Journalistin erschienen – unter anderem „Reisen mit mir und einem Anderen“ sowie der Band „Paare – Ein Reigen in vier Novellen“, ungewöhnliche Liebesgeschichten, die ich ebenfalls empfehlen kann. Einige der Bücher gibt es auch als Taschenbuchausgabe beim Fischer Verlag.

Informationen zum Buch:

Reisen mit mir und einem Anderen. Fünf Höllenfahrten
Martha Gellhorn
Dörlemann Verlag
Aus dem Englischen von Herwart Rosemann
25,00 Euro
544 Seiten, gebunden mit Leseband
ISBN 9783908777830

Christopher Isherwood: Kondor und Kühe

Von 1947 bis 1948 bereist Christopher Isherwood Südamerika. Sein Reisebuch “Kondor und Kühe” zeigt einen unverfälschten Blick auf einen “jungen” Kontinent.

„Ich habe noch nie so viele Buchhandlungen gesehen. Zusätzlich zu Dutzenden von lateinamerikanischen Autoren, von denen ich noch nie gehört habe, haben sie auch zahllose Übersetzungen auf Lager – alles von Platon bis Louis Bromfield. Bogotá ist natürlich berühmt für seine Kultur. Es gibt einen Ausspruch, soweit ich weiß, dass hier sogar die Schuhputzjungen Proust zitieren. Es ist schön, sich einen von ihnen vorzustellen, wie er Bürste in der Hand, innehält, um zu bemerken: Tatsächlich liegt in der Liebe beständiges Leiden, das die Freude zwar neutralisiert, in bloß potenziellem Zustand erhält und aufschiebt, das aber jeden Augenblick werden kann, was es seit Langem wäre, wenn man nicht das erlangt hätte, was man wollte: entsetzlich…“

Christopher Isherwood am 12. Oktober 1947 in Bogotá
In: „Kondor und Kühe“


Der britische Schriftsteller Christopher Isherwood (1904-1986) war, wie zahlreiche seiner Landsleute, so beispielsweise W. Somerset Maugham und Patrick Leigh Fermor, lebenslang auch ein Reisender. Seine Reisebücher und Essays darüber sind hierzulande jedoch weitgehend unbekannt – Isherwood ist vor allem im Gedächtnis für seinen Roman „Leb wohl, Berlin“, die Vorlage für das berühmte Musical „Cabaret“ und für „A single man“, 2009 atemberaubend auf die Leinwand gebracht von Tom Ford, das gelungene Filmdebüt des Modedesigners.

So dauerte es leider bis 2013, dass ein Verlag so mutig war, das südamerikanische Reisetagebuch Christopher Isherwood ins Deutsche übersetzen zu lassen: „Kondor und Kühe“, übersetzt von Matthias Müller, erschienen im Münchner Liebeskind Verlag. Ein Gewinn für alle, die gerne lesend reisen und für jene, die sich in lateinamerikanischer Politik und/oder Kultur auskennen. Und das (freilich vom Autor noch vor Erscheinen redigierte) Tagebuch eines großen Stilisten genießen möchten: Isherwood beobachtet genau, analysiert messerscharf, schreibt brillant.

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Bild von MALEAH LAND auf Pixabay

1947 besteigen er und sein Reise- wie Lebensgefährte, der Fotograf William Caskey, mit dem ihn eine fünfjährige, teils destruktive Beziehung verband, ein Schiff in New York.

„Er ist sechsundzwanzig Jahre alt, ein Ire aus Kentucky. Wahrscheinlich würde Dr. Sheldon ihn als einen kleinen viscerotonischen Mesomorphen klassifizieren. Seine Freunde vergleichen ihn oft, durchaus nett gemeint, mit einem Schwein. Dem brauche ich nichts hinzuzufügen. Er wird sich wahrscheinlich selbst beschreiben, ganz allmählich, in dem Maße, wie der Bericht unserer Reise fortschreitet. Er ist Fotograf von Beruf und begleitet mich, um Fotos für das Buch zu machen.“

Von Venezuela bis Argentinien

Nun: Die Fotos sind es nicht, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dagegen Isherwoods Beobachtungen. Er sagte von sich selbst: „I am a camera“. Und so saugt er auf dieser Reise, die bis März 1948 währt, Bilder eines Kontinents im ewigen Unruhezustand auf, die er zu Papier bringt. Auf teils abenteuerlichen Routen, mit dem Schiff, Zug, Bus, seltener mit dem Flugzeug, reisen die beiden Männer über Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien bis Argentinien. Freilich erleichtert seine Bekanntheit als Schriftsteller Isherwood den Kontakt zu Land und Leuten und ermöglicht ihm Einblicke, die einem Rucksacktouristen nicht gewährt werden. Da hält er Vorträge vor literarischen Zirkeln, wird von den jeweiligen amerikanischen und britischen Botschaftern gerne auch mal betüttelt, trifft alte Freunde aus Berliner Zeit, Exilanten, die vor den Nazis fliehen mussten und in Südamerika eine neue Heimat fanden.

Freilich ist Isherwood jedoch intelligent und ironisch genug, um sich von den Fassaden der oberen Gesellschaftsschichten nicht blenden zu lassen – in langen Passagen setzt er sich mit den politischen Unwägbarkeiten Lateinamerikas auseinander, mit der Rolle der Kirche, der Armut der Landbevölkerung und der Stellung der Indios. Und immer wieder wird die Faszination für das Andere, das Fremde, selbst dessen grausame Seite, deutlich:

„Es ist ein gewalttätiges Land. Donner und Lawinen in den Bergen, riesige Überschwemmungen und Gewitter auf den Ebenen. Vulkane explodieren. Die Erde bebt und teilt sich. Die Wälder voller wilder Tiere, giftiger Insekten und tödlicher Schlangen. Ein falsches Wort, und ein Messer wird gezogen. Ganze Familien werden ohne Grund ermordet. Unruhen sind überraschend und blutig und oft sinnlos. Autos und Lastwagen werden mit einer Gleichgültigkeit, die schon beinahe selbstmörderisch ist, ineinander oder über Felsvorsprünge gefahren. Solch eine Energie in Zerstörung. Solche eine Apathie, wenn es darum geht, etwas zu reparieren oder zu bauen. So viel Humor in Verzweiflung.“

Die Reise liegt nun beinahe 70 Jahre zurück. Warum also ein Reisetagebuch lesen, von dem man annehmen könnte, alle Beobachtungen darin sind bereits überholt, alle Entdeckungen, die Bücher wie diese interessant machen könnten, waren bereits schon zuvor gemacht?

Überwältigende Landschaftsbilder

Nun, zum einem: Die Natur bleibt, wo sie nicht mutwillig vom Menschen zerstört werden kann, unabänderlich – noch immer kreisen Kondore, noch immer ist Argentinien geprägt von ihrer Pampa, schüchtern die Schneegipfel der Anden mit ihrer Mächtigkeit ein, birgt die von Isherwood geprägte Route atemberaubende Anblicke. Obwohl bekennende Reisemuffelin, kann ich dies doch aus eigener Anschauung bestätigen – einen Teil der Route, wenn auch einen kleineren mit weniger Zeit, nahm auch ich einstmals auf mich und ward überwältigt.

Und nachvollziehen kann ich auch die Todesängste, die Isherwood bei manchem Reiseabschnitt durchlitt und humorvoll kommentiert: Busfahrer, die mit Höchstgeschwindigkeiten Haarnadelkurven am Abgrund nehmen, Piloten, die durch den Nebel stochern, Buse, die notorisch unpünktlich kommen und dich irgendwo im Nirgendwo aussetzen – auch das ist eine Konstante.

Isherwood über die politische Entwicklung Südamerikas

Vor allem aber sind Isherwoods Bemerkungen über die politische Entwicklung dieses Kontinents, der lange in Abhängigkeiten gehalten wurde – von den spanischen und portugiesischen Eroberern und deren verlängertem Arm, der Kirche, später von den Weltmächten USA und UdSSR – hellsichtig und – leider – immer noch höchst aktuell.

„Doch die neuen Republiken sind noch nicht wirklich frei, nicht wirklich einheitlich. Sie sind noch keine Nationen geworden. (…) Um Nationen zu werden, müssen sie aufhören Kolonien zu sein. Die Natur arbeitet an diesem Projekt, vermischt allmählich Indios mit Latinos. Doch die Natur arbeitet sehr langsam. Und währenddessen fegt eine große Flut sozialer Revolutionen über die Welt. Eine Flut, die Kommunisten und andere zu lenken und zu kontrollieren versuchen. In Kolonialländern muss dieser gesellschaftliche Aufstand der Unterprivilegierten auch die Form eines rassischen Aufstands annehmen (…). Die unmittelbaren Aussichten sind beängstigend. Jahrzehnte der Unruhe. Militärherrschaft. Herrschaft des Pöbels. Endlose Gewalt, unterbrochen nur durch Perioden schierer Erschöpfung. Ausländische Intervention, die vielleicht für eine Weile eine unpopuläre Disziplin auferlegt. Dann noch mehr Revolten, noch mehr Blutvergießen…Oder bin ich zu pessimistisch? Es gibt Kräfte auf der anderen Seite, die friedliche Veränderung und Entwicklung betreiben. Sie sind vielleicht viel stärker, als sie aussehen.”

Noch, so scheint es, ist diese Entwicklung nicht abgeschlossen.


Bibliographische Angaben:

Christopher Isherwood
Kondor und Kühe
Übersetzt von Manfred Müller
Liebeskind Verlag, 2013
ISBN: 978-3-95438-007-7

Edith Wharton: In Marokko

1917 reist Edith Wharton sechs Wochen durch Marokko – als eine der ersten Frauen kommt sie an Orte, die bislang Fremden verschlossen blieben. Ein Reisebericht.

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Bild von Hans-Juergen Weinhardt auf Pixabay

„Aus diesem friedlichen Eckchen geht man weiter in die barbarische Pracht eines Souks, in dem zahllose fiedrige Bündel unverzwirnter Seide hängen, Stränge in Zitronengelb, Karmesinrot, Grashüpfergrün und reinem Purpur. Dies ist das Viertel der Seidenspinner, das sich direkt an das der Färber anschließt, mit großen, brodelnden Kesseln, in die die Rohseide getaucht wird, mit gespannten Seilen, über denen die Regenbogenpracht zum Trocknen hängt.“

Edith Wharton, „In Marokko“, 1920


1917 erhält die amerikanische Schriftstellerin Edith Wharton, die zu dieser Zeit schon überwiegend in Paris lebt, die Einladung zu einer außergewöhnlichen Reise: Louis-Hubert Lyautey, der französische Generalresident in Marokko, ermöglicht es ihr, das Land der Berber zu erkunden. Unter Schutz des französischen Militärs reist Wharton sechs Wochen lang „Vom Hohen Atlas nach Fès – durch Wüsten, Harems und Paläste“ (so der Untertitel des Buches). Marokko, das Tor zu Afrika, war bis dahin kaum von Privatreisenden besucht worden, Wharton gelangte an Orte, die Fremden – geschweige denn Frauen – bis dahin verschlossen geblieben waren. Ebba D. Drolshagen, die den Reisebericht ins Deutsche übersetzt hat, schreibt in ihrem informativen Vorwort:

„Unter dem privilegierten Schutz und in Begleitung der französischen Machthaber schlenderte Wharton nicht nur unbehelligt durch Basare und besichtigte Ausgrabungsstätten, sondern erlebte in dieser kurzen Zeit eine erstaunliche Vielfalt spektakulärer, exotischer, im Westen kaum erahnter Dinge: Sie wohnte dem Hammelopfer des Sultans und den religiösen Zeremonien in der heiligen Stadt Moulay Idris bei, schauten den tanzenden Knaben der Chleuhs zu, besuchte ein jüdisches Ghetto, sah als einer der ersten Menschen überhaupt die 1917 wiederentdeckten Saadier-Gräber, und war – last but not least – Gast in den Privaträumen großer Paläste und den Harems der Mächtigen.“

Wharton betritt unberührtes Terrain

Im straffen Reiseplan sind unter anderem Rabat, Salé, Fès und Marrakesch enthalten. Wharton, die sich schon zuvor als Reiseschriftstellerin betätigt hatte, hatte sich mit den spärlichen und überwiegend französischen Quellen – unter anderem mit Bulletins französischer Archäologen – auf ihr Abenteuer vorbereitet. Präpariert mit fachlichen Kenntnissen und ausgestattet mit der Neugier einer Schriftstellerin verfasst Wharton (die drei Jahre später für „Zeit der Unschuld“ als erste Frau mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet werden sollte) zugleich kenntnisreiche und genaue, ebenso aber sehr sinnliche Texte über diese „terra incognita“, die Marokko für sie und ihre Leser 1917 immer noch ist. Sie schreibt zudem in dem Bewusstsein, dass sie unberührtes Terrain betritt, das, wenn erst  „die Springflut der Touristen“ folgt, einen Teil seines Zaubers verlieren wird.

„Die Kadis in vielschichtigen Baumwollgewändern, die uns an geheimen Pforten erwarteten und durch Bögen und Gänge zu den unvorhersehbaren Wundern von Gärten und Brunnen führten; die schwarzen Frauen mit bunten Ohrringen, die von bemalten Balkonen hinab spähten, die Pilger und Kreaturen, die an heißen Mauern in der Sonne dösten, die menschenleeren Hallen mit Stuckarbeiten und goldenen Pendentifs in gekachelten Nischen; die venezianischen Kronleuchter und protzigen Rokokobetten, die Terrassen, von denen Tauben in weißen Wolken aufstieben, während wir über einen Teppich aus ihren Federn gingen – waren das Geister vergangener Zeiten oder war das wirklich der Ort, an dem ein reicher Kaufmann mit Geschäftsbeziehungen in Liverpool und Lyon lebte, ein Regierungsbeamter, der in diesem Moment in seinem Auto mit sechzig Sachen nach Meknes oder Casablanca raste?“

A propos unberührtes Terrain: Das Maghrebland war schon seit Jahrzehnten zum Zankapfel europäischer Mächte mit ihren kolonialistischen Begierden geworden, 1912 wurde Marokko in ein französisches und ein spanisches Protektorat aufgeteilt, die Deutschen – Wilhelm II. hatte mit einem Besuch beim Sultan 1905 eine Marokko-Krise ausgelöst – hatten das Nachsehen. Wharton reist 1917, im vorletzten Kriegsjahr, also in ein fremdbesetztes Land.

Der westliche Blick auf “das Fremde”

Doch die Amerikanerin, die 1916 zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen worden war, macht aus ihren Standpunkt kein Geheimnis: Das Buch, das  General Lyautey und dessen Frau gewidmet ist, eröffnet einen Blick auf das Land durch die Augen einer Frau, die mit der scheinbaren Überlegenheit europäischer Zivilisation auf „das Fremde“ blickt: Mal wird die Kultur und Gesellschaft Marokkos als „überreif“ charakterisiert, mal als „unreif“ bezeichnet, durchweg wird der Umgang der Marokkaner mit den Zeugnissen ihrer Kultur und Geschichte kritisiert, wird der wohltuende Einfluss der Franzosen hervorgehoben. So waren die Reiseberichte, die zunächst in einer amerikanischen Zeitschrift und dann 1920 als Buch erschienen, wohl auch eine gelungene Propaganda für die französische Regierung.

Eine geeignete kunsthistorische Quelle

Trotz dieses Vorbehalts lohnt die Lektüre von „In Marokko“ auch heute noch. Aufschlüsse über die Situation des modernen Landes, des Königsreichs in der Gegenwart, darf man sich von diesem Bericht dabei allerdings nicht erwarten. Aber als kunsthistorische Reisebegleitung wäre das Buch Whartons eine gute Empfehlung, zumal sie den Reisebeschreibungen auch Abrisse über die marokkanische Geschichte und Architektur beigefügt hat. Wer einmal die Koutoubia-Moschee in Marrakesch, die Qarawīyīn-Moschee in Fès oder den Bahia-Palast gesehen hat, der wird seine Freude daran haben, mit den Augen Whartons auf diese Denkmale der Architektur zu blicken, unbehelligt von Touristenmassen und einheimischen Händlern. In Marrakesch ist Edith Wharton im Bahia-Palast untergebracht:

„Aus weiter Ferne, durch gewundene Korridore, wehte der Duft von Zitronenblüte und Jasmin, vor Tagesanbruch manchmal begleitet vom Zwitschern eines Vogels, bei Sonnenuntergang von der Klage einer Flöte, des Abends immer mit dem Ruf des Muezzins (…). Manchmal, wenn ich auf meinem Diwan lag und durch die zinnoberroten Türen hinausblickte, überraschte ich ein Schwalbenpaar, das aus seinem Nest in den Zedernholzbalken herabkam, um sich am Brunnenrand oder in den Wasserrinnen im Fußboden zu putzen (…).“

Wem dies zu sehr nach romantisierter „TausendundeinerNacht“ klingt – dass sie sich als Frau in einer privilegierten Situation befindet, dessen ist sich Edith Wharton während ihrer Reise durchaus bewusst, kritisch blickt sie – obwohl sonst selbst keinen Hehl aus ihrem Antisemitismus machend – auf die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung, auf den Umgang mit Sklaven und die Situation der Frauen, die sie in den Harems und Haushalten der Marokkaner kennenlernt. Bei einem Besuch fällt ihr ein Kind auf, ein Sklavenmädchen, gekleidet in Fetzen, das stillschweigend jeden Befehl seines Herrn ausführt. Ebba D. Drolshagen schreibt:

Dieses Kind wurde zum Anlass für ihr schärfstes Urteil über Marokko: „Hinter dem traurigen Mädchen, das an dem Torbogen lehnte, stand das ganze düstere Elend eines Gesellschaftssystems, das dem Islam wie ein Mühlstein am Halse hängt.“


Informationen zum Buch und zur Reihe:

Reiselustigen Lesenden sei die „Edition Erdmann“ im Verlagshaus Römerweg ans Herz gelegt – neben bekannten Klassikern der Reiseliteratur von Humboldt, Darwin und Forster erschienen in dieser Reihe bislang auch etliche Reisebücher von wagemutigen Frauen, die oftmals, ähnlich wie Edith Wharton als Pionierinnen in bis dahin verschlossenen oder gar unbekannten Weltgegenden unterwegs waren.

Edith Wharton
In Marokko
Übersetzt von Ebba D. Drolshagen
Edition Erdmann, 2019

Erika und Klaus Mann: Das Buch von der Riviera

Ein Reiseführer, der nach Sonne schmeckt und nach dem Meer riecht: Die Geschwister Erika und Klaus Mann entführen 1931 ihre Leser an die Riviera.

Erika Mann
Bild: (c) Michael Flötotto

„Entschuldigen Sie, wir haben Sie ein bißchen kreuz und quer geführt, Ihnen zwar im Vorübergehen manches gezeigt, aber es war kein rechtes System drin. – Wo esse ich? Wo wohne ich? Wo trinke ich meinen Cocktail? Wo kaufe ich mir einen Kragen? Wo tanze ich? Wo langweile ich mich? Wo gebe ich, um Gottes willen, mein Geld aus?“

Erika und Klaus Mann, „Das Buch von der Riviera“


Auf die Manns konnte man sich als Reisender Anfang der 1930er Jahre verlassen – keine der Fragen bleibt unbeantwortet im Buch von der Riviera. Dieser literarische Reiseführer schmeckt nach Sonne. Man meint, das Meer zu riechen. Der Duft von Bouillabaisse steigt in die Nase. Der Geschmack von südlichen Früchten. Fischgeruch und Blumenduft, dazwischen betörendes Parfum und Angstschweiß, wenn die Roulettekugel klackert.

Noch unbeschwerte Tage für Klaus in Cannes

Und doch, bei allem Laissez-faire und aller Leichtigkeit wird einem beim Lesen weh ums Herz. Weiß man doch um die Vergänglichkeit der Dinge. Das Ende des Seins. Die Riviera, sie ist nicht mehr, so wie sie einmal war. Schon anno 1931, als dieses Buch entstand, verblasste der Glanz früherer Tage, die Belle Epoque, die Glanzzeit dieser Küste, liegt zurück. Jahre später werden manche der Orte, insbesondere Marseille, Sammelpunkte der Verzweifelten, Flüchtenden und Wartenden, die auf eine Schiffspassage, ein Visum, ein Schlupfloch aus dem Mauseloch hoffen, die den brennenden Kontinent verlassen müssen.

„Cannes hat viele Gesichter“, schreibt das Autoren-Duo in seinem Buch. Für einen der Beiden trägt die Stadt eine tödliche Maske: Klaus Mann arbeitet hier 1949 an seinem letzten, unvollendet gebliebenen Roman, unterzieht sich dann noch einige Tage einer Entziehungskur in Nizza und kehrt in diese Stadt zurück, in die „man“ hingehen kann: 1931 ist damit noch „le monde“, sind die oberen Zehntausend gemeint, 1949 ist es eine Rückkehr zum Sterben. Am 21. Mai nimmt Klaus Mann sich mit Schlaftabletten das Leben. Seine letzte Ruhestätte nach einem unruhigen, getriebenen Leben ist auf dem Friedhof Cimetière du Grand Jas zu finden.

Was nicht im Baedeker steht…

Doch als Erika und Klaus Mann im Auftrag des Piper Verlages die Côte d` Azur bereisen, um einen Band der Reihe „Was nicht im `Baedeker´ steht“ zu schreiben, ist die Welt halbwegs noch in Ordnung. Das Buch sprüht vor französisch-südlicher Leichtigkeit. Immer wieder wird dieser spritzig-witzige Text ironisch durchbrochen. So heißt es denn auch:

„Cannes hat viele Gesichter. Schauen Sie doch in die kleine Austernstube „Le Caveau“ (auch ziemlich in der Nähe des Hafens), wo Sie für ein paar Francs frische, wenn auch etwas grüne huîtres bekommen: so was an verräucherter Gemütlichkeit war ja noch gar nicht da, das ist schon direkt Rothenburg ob der Tauber.“

Man kann es sich so gut vorstellen, dieses junge, überschäumende, elegante, kreative Paar auf seinen Streifzügen durch die eleganten Hotels, die Kasinos, die kleinen Bars, die billigen Kaschemmen, die Rotlichtviertel. Wieder einmal sind die so eng Verschwisterten, beinahe Zwillinge (es trennt sie nur ein Lebensjahr), aus der Enge des großbürgerlichen Milieus ausgerückt, der Strenge des „Großmeisters“ entkommen. Dessen Name öffnet zwar auch an der Riviera Türen, wirft aber auch seine Schatten – nicht zuletzt einer jener Schatten, an denen Klaus zerbrechen wird. Doch auch wenn der Nobelpreisträger über manches literarische Unternehmen seiner beiden Ältesten die Nase rümpft – wenn an der blauen Küste das Geld zur Neige geht, schießt Thomas Mann aus dem fernen München neues zu.

Reiseführer und Who is who der Bohème

Natürlich ist „Das Buch von der Riviera“ nicht nur ein Reiseführer, der von Marseille, Toulon, Cannes und Nizza bis Monte Carlo führt, sondern auch ein „Who is who“ der feinen Gesellschaft und der Bohème, die sich dort tummelt:

„Der kleine, geistreiche Balte, der dort drüben über ausgefallene literarische Leckerbissen spricht, ist der Zeichner Rolf von Hoerschelmann, eine der berühmtesten Schwabinger Koryphäen; und die lange Figur, die dort hinten naht, ist kein geringerer als Aldous Huxley, dessen Romane richtunggebend für die junge englische Literatur sind, und kostbarster Bestandteil der europäischen. Hier nennen ihn die Leute Uelex, weil es ihnen bequemer ist, es klingt eher münchnerisch, als provençalisch. Die Angelsachsen sind eine Clique für sich, die sich aber mit der französisch-deutschen gelegentlich berührt und vermischt. Sie ist im Trinken noch stärker, als die der anderen Nationen. Der Lyriker Campbell, der einen großen Namen bei seinen Landsleuten hat, soll darin das Phantastischste leisten.“

Es ist freilich nicht die ganz große Literatur, die die Geschwister mit diesem Auftragsbuch verfasst haben, oft ein wenig ermüdend, dieses Stippvisitieren einer Lokalität nach der anderen, dieses „name-dropping“. Aber eher stellt sich die Müdigkeit in der Art nach einem faulen, sonnenverbrannten Tag am Strand ein, dieses leise Gähnen, das ein Vorzeichen ist für den Appetit auf einen Aperitif, ein Abendessen im Freien und mehr Meer. Das Buch lässt einen die imaginären Koffer packen – trotz der beinahe seherischen Warnung der Manns:

„Die Konturen dieser Landschaft werden auf den Bildern von Derain und vieler anderer von der Nachwelt geliebt werden, wenn hier alles von großen Hotels zugebaut sein wird und die Bohème sich bis an den Kongo flüchten muß.“


 Bibliographische Angaben:

Erika und Klaus Mann
Das Buch von der Riviera
Kindler Verlag, 2019
ISBN: 978-3-463-40715-9