Henry James im Dreierpack

Vom charmanten Frühwerk bis zu den Romanen der letzten Jahre: Henry James ist ein Autor, der wie kein zweiter die leisesten Schwingungen der Seele erfasst.

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Bild: (c) Michael Flötotto

Es mag ein Zufall gewesen sein, aber zum 100. Todestag von Henry James veröffentlichten zwei Verlage zwei Romane in neuer Übersetzung, die am Anfang und Ende seines Schaffens stehen – und einen thematischen Kreis schließen. Zu Beginn seiner Karriere lässt Henry James die Europäer in die Vereinigten Staaten kommen – gegen Ende suchen die Amerikaner in Europa ihr Glück und verlieren dabei die Orientierung.

“Die Europäer”, beim Manesse Verlag erschienen, ist ein luftig-leichtes Frühwerk. Eher ein Appetithäppchen, das die Neugier erweckt auf die späteren Bücher des Amerikaners, der ein Lebensthema hatte: Das Aufeinanderprallen der “alten” und der “neuen” Welt. Das amüsante Wechselspiel um einige Amouren und Aufeinanderprallen der Kulturen zeigt den Stil von Henry James bereits in den Grundzügen: Er forscht in den Regungen der Seele – auch wenn sein gestrenger Bruder William, berühmter Psychologe seiner Zeit, den Roman als “leer” verurteilte. “Die Europäer” erinnert – insbesondere durch den eloquenten Einsatz von Dialogen – an ein Stück von Oscar Wilde: Locker, luftig, leicht und amüsant.

Ein Amerikaner in Paris

„Die Gesandten“ dagegen, sein vorletzter Roman und in neuer Übersetzung durch Michael Walter beim Hanser Verlag erschienen, ist von ganz anderem Gewicht: Ein Amerikaner kommt nach Paris, um dort die Mesalliance eines jungen Mannes aus seiner Heimat mit einer Dame von zumindest angekratztem Ruf zu verhindern – der Herr in den besten Jahren verliert jedoch in der Alten Welt bald auch sein inneres Gleichgewicht: Paris, das ist so ganz anders, als Lambert Strether es sich in seiner amerikanisch-puritanischen Haltung vorstellen konnte. Strether beginnt sich selbst zu fragen, ob sein eigenes Leben nach den richtigen Prinzipien ausgerichtet ist.

Die „Europäer“ erschien zuerst 1878 in The Atlantic Monthly, im Herbst 2015 beim Manesse Verlag in neuer Übersetzung durch Andrea Ott. Mit seinem locker-leichten Ton, mit den ironischen Seitenhieben auf die neureiche Neue Welt und den abgewirtschafteten Adel der Alten Welt, mit seinen Dialogen wie Ping-Pong-Spielen und den amourösen Verwicklungen ist es ein leichtes Lesevergnügen und wartet mit reichlich viel Happy-Endings auf: Vier Hochzeiten und eine Abreise. Ausgerechnet Eugenia, die „Edelgeborene“, die sich einen wohlhabenden Amerikaner angeln wollte, geht leer aus.

Clash der Kulturen in Europa

James konstruiert in diesem Roman einen „clash der Kulturen“ – im eigentlichsten Sinne. Denn Eugenia und ihr malender Bruder Felix, mittellos und auf gute Partien hoffend, sind ganz der Kunst, auch der Kunst des Salongesprächs, zugeneigt – vor allem bei Eugenia weiß selbst der Leser nie ganz genau, worauf sie bei ihren Geplänkeln hinaus will. Am Ende verstrickt sie sich in ihren eigenen verbalen Fäden. Hier die überfeinerten Europäer – dort die puritanischen, grundehrlichen Amerikaner, die jedoch eines nicht können: Über ihre eigenen Gefühle und Stimmungen reflektieren, Innenschau halten. Auf diesem Gegensatz beruht dieser amüsante Roman.

Gustav Seibt schreibt in seinem Nachwort zur Manesse-Ausgabe:

„Der ästhetisch-kulturelle Gegensatz zwischen Europa und Amerika bleibt als historisches Thema bedeutend genug – die Frage nach dem Verhältnis von Vorgänger- und Nachfolgerkulturen wird die globalisierte Welt auch in Zukunft begleiten. Und wie wenig James, bei aller Liebe zu den Künstlern Europas, den amerikanischen Standpunkt verleugnet, zeigt sich etwas in dem stolzen Satz von Mr. Wentworth, der, auf den fürstlichen Stand seiner Cousine Eugenia angesprochen, knapp erklärt: „Hierzulande sind wir alle Fürsten.“ 

Thematisch ähnlich, doch deutlich komplexer ist das von Michael Walter für den Hanser Verlag neu übersetzte Werk „Die Gesandten“, das 1903, ebenfalls zunächst als Vorabdruck in einer Zeitschrift, erschien. Das Buch ist eine Herausforderung an die Leser: Ein echter Henry James. Es lebt von präzis-minutiöser Erforschung des Innenlebens seiner Protagonisten und doch bleibt manches unausgesprochen, verharrt in Andeutungen, vieles erklärt sich nur vage an kleinen Handlungen, Äußerungen, in Nuancen.

Noblesse oblige contra amerikanischen Puritanismus

Der biedere Herausgeber einer Zeitschrift, Lewis Lambert Strether, aus dem Städtchen Woollett (Massachusetts) soll den Sohn der ebenfalls sehr biederen Witwe Mrs. Newsome nach Hause holen: Jung-Newsome lebt in Paris, ist in eine amouröse Geschichte mit einer klugen, charmanten Französin namens Madame de Vionnet verstrickt und denkt gar nicht daran, sich wieder in die Eintönigkeiten amerikanischen Kleinstadt- und Geschäftslebens zu fügen. In den Augen der gestrengen Mrs. Newsome (und zunächst auch in Strethers Auffassung) hat Madame de Vionnet ein ganzes Bündel an Fehlern: Sie ist um einige Jahre älter, verheiratet und zudem mit einer hübschen Tochter gesegnet. Obwohl zutiefst unglücklich, ist die Ehe mit einem Adeligen, die nur noch auf dem Papier besteht, nicht auflösbar. Überkommener Adelcodex trifft auf amerikanischen Puritanismus.

Strether, der selbst an eine Verbindung mit Mrs. Newsome denkt, ist zunächst guter Dinge, seinen Auftrag bewältigen zu können – und scheitert. Denn seine „Pariser Erfahrungen“ führen ihn zu ganz zentralen Fragen an sich selbst, zu einer Auseinandersetzung mit seinem Leben. Bei einer Unterhaltung mit einem jungen, unsicheren Mann, den er in der Hauptstadt der Liebe kennenlernt, bricht es plötzlich aus dem rechtschaffenen Amerikaner heraus:

„Leben Sie, so intensiv Sie können; alles andere ist ein Fehler. Was Sie tun, spielt eigentlich keine große Rolle, solange Sie ihr eigenes Leben leben. Wenn Sie das nicht gelebt haben, was haben Sie dann überhaupt gehabt?“ 

Verbunden mit dem temperamentvollen Appell an den jüngeren Mann ist jedoch die melancholische Einsicht, dass für ihn selbst, den 55jährigen, der Zug wohl schon abgefahren ist – und dennoch kehrt Strether am Ende des Romans nach Hause zurück. Allerdings ist er nicht mehr derselbe, wie der Abschied von einer amerikanischen Freundin in Paris am Ende des Romans verdeutlicht.

„Es brachte sie zurück auf ihre unbeantwortet gebliebene Frage. „Was erwartet Sie denn zu Hause?“
„Ich weiß es nicht. Irgendetwas gibt es immer.“
„Eine große Veränderung“, sagte sie, während sie seine Hand festhielt.
„Eine große Veränderung – ganz ohne Zweifel. Trotzdem werde ich sehen, was sich daraus machen lässt.“

Maike Albath, eine ausgezeichnete Kennerin von Henry James` Werk, schreibt über „Die Gesandten“:

„Hier klingt ein weiteres zentrales Motiv von Henry James an, das er in vielen Romanen variiert: das des verpassten Lebens. Gründe dafür können Zaghaftigkeit, emotionale Taubheit, aber auch wirtschaftliches Kalkül sein, wie in seinem groß angelegten Fresko “Die Flügel der Taube”, in dem Berechnung schließlich jede tiefere Gefühlsregung verfälscht und Verstellung eine fatale Dynamik entwickelt. In seinem ausführlichen Nachwort, das in dieser Ausgabe zum ersten Mal auf Deutsch erscheint, erzählt der Autor, wie er 1895 über einen Freund von einem älteren Gentleman hörte, der einen jungen Mann vor der Gefahr des Verzichts warnte.“ 

Ihr Artikel verknüpft Kenntnis des Werks und der Biographie des Autors geschickt. Wer sich Henry James annähern will, findet hier eine gute Quelle: http://www.deutschlandfunk.de/buch-der-woche-henry-james-die-gesandten.700.de.html?dram:article_id=346874 

Auch heute noch, in einer globalisierten Welt, in der durch die digitalen Medien scheinbare Nähe aufgebaut wird, wirken die Romane Henry James in ihrem Kernthema – Alte Welt versus Neue Welt – eigenartig modern. Die jüngsten Präsidentschaftswahlen haben dies vielleicht einmal mehr gezeigt, wie wenig wir von den Vorgängen in den USA und der amerikanischen „Seele“ wissen. James, der sich selbst zeitlebens in Europa wohler fühlte, hätte das Erstaunen der Europäer über Trumps` Wahl vielleicht mit einem Schulterzucken und einem wissenden, müden Lächeln quittiert. Immer wieder hat er in seinen Büchern versucht, die Masken zu lüften – und immer wieder doch auch aufgezeigt, wie vieles die alte von der neuen Welt trennt.


„Es war allerdings ein Leichtes, nicht zu sprechen, wo die eigentliche Schwierigkeit doch darin lag, Worte zu finden.“

Henry James, „Die Kostbarkeiten von Poynton“

Henry James ist einer dieser Schriftsteller, die nie ganz weg, aber auch nie ganz da sind – wohl jeder, der sich mit englischsprachiger Literatur befasst, wird eines seiner bekanntesten Werke, sei es „Die Drehung der Schraube“, „Portrait of a Lady“ oder „Washington Square“ gelesen haben. Doch die gesamte Fülle seines Werks harrt immer noch einer angemessenen Übertragung ins Deutsche.
Umso mehr muss man anerkennen, dass beim Manesse Verlag seit einiger Zeit nach und nach einiger seiner Werke in hervorragender neuer Übersetzung erscheinen – und darunter, so wie nun mit „Die Kostbarkeiten von Poynton“, durchaus nicht nur die oben genannten, bereits berühmten Titel, sondern auch ein Roman, der zu den weniger bekannten Stücken aus James` Gesamtwerk zählt.

Wie Alexander Cammann in seinem Nachwort herausarbeitet, bildet dieses Buch eine Art Zäsur im Schaffen des amerikanischen Schriftstellers. Mit dem Krebstod seiner Schwester Alice, dem Tod seines Brieffreundes Robert Louis Stevenson und dem Suizid seiner Seelenverwandten Constance Fenimore Cooper hatte Henry James innerhalb kürzester Zeit seine engsten Vertrauten verloren, dazu kam sein öffentliches Scheitern als Bühnenautor. Seine Reaktion: Er setzt sich mit seinem eigenen Schaffen auseinander, beginnt wieder an einem Roman zu schreiben: „Ich gedenke, weit bessere Arbeit zu leisten als je zuvor.“

An dem 1896 erstmals veröffentlichten Poyntoner Kostbarkeiten werden sich die Geister scheiden: Wer sich mit dem Stil von Henry James, der zugegebenermaßen wenig „actionreich“ ist, sowieso nicht anfreunden kann, der wird das Buch entnervt zur Seite legen. Andere finden darin jedoch ihren vollen Genuss.

Konventionell bis zur Katastrophe

Im Grunde ist die Geschichte etwas Schall, sehr viel Rauch – Rauch, in dem das vermeintliche Objekt der Begierde, ein mit Devotionalien vollgestopftes Haus, am Ende in Flammen aufgeht. Eine unerwartete Pointe für eine Erzählung, die jedoch um einen ganz anderen Kern kreist: Die Unfähigkeit der beteiligten Personen, die (selbstauferlegten) Grenzen der Konvention, der öffentlichen und der gefühlten Moral abzulegen und ihrem eigentlichen Bedürfnissen und Gefühlen nachzugeben. Am Ende liegt alles buchstäblich in Schutt und Asche – auch das Lebensglück eines verliebten Paares, das nicht fähig ist zu können, wie es wollen sollte.

Nikolaus Stingl hat in seiner Übersetzung die leisesten Schwingungen und Untertöne, die Henry James seinen Figuren bei diesem dialoghaltigen Roman in den Mund legt, hervorragend aufgenommen. James, der souveräne „Menschenautor“, lässt einem jede feinziselierte Seelenregung seines Personals nachvollziehen, obwohl niemals direkt das ausgesprochen wird, was eigentlich gemeint ist – auch das macht die Lektüre insbesondere seines Spätwerks, das durch „Die Kostbarkeiten von Poynton“ eingeläutet wurde, zu einem herausfordernden Genuss.


Bibliographische Angaben:

Die Kostbarkeiten von Poynton
Übersetzt von Nikolaus Stingl
Manesse Verlag, 2017
ISBN: 978-3-7175-2352-9

Die Europäer
Übersetzt von Andrea Ott
Manesse Verlag, 2015
ISBN: 978-3-7175-2388-8

Die Gesandten
Übersetzt von Michael Walter
Hanser Verlag, 2015
ISBN 978-3-446-24917-2

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen Aktuelle Rezensionen auf dem Literaturblog

18 Gedanken zu „Henry James im Dreierpack“

    1. Schwer zu sagen, weil es zwar recht leichtfüßig ist, aber vieles von dem, was Henry James ausmacht, nur in Anlagen da ist – vielleicht käme es dir zu oberflächlich vor. Ich würde Dir eher zu “Washington Square” oder “Portrait of a lady” raten – letzteres gibt es als Insel-Taschenbuch, vielleicht auch bei dtv.

  1. Bei den “Gesandten” musste ich nach einem Drittel pausieren und habe seitdem das Buch nicht mehr in der Hand gehabt. Ich fand es sehr zäh, aber vielleicht sollte ich es nochmal probieren, manchmal ändert sich ha etwas im eigenen Empfinden ( wie bei Effi Briest 😉 ). Bislang am besten gefallen hat mir übrigens “Portrait of a Lady” und dabei fällt mir ein, dass ich das Material von meinem Besuch in seinem Haus in Rye noch gar nicht auf dem Blog verarbeitet habe. Werde ich baldmöglichst nachholen. 🙂

    1. Das verstehe ich – “Die Gesandten” sind schon sehr speziell, ich musste es auch sehr langsam und genau lesen. Abschnittsweise fand ich es auch ein wenig zäh, aber zugleich war ich immer auf Spurensuche – was James da wieder andeuten wollte … Und bitte, bitte – bald einen Blogbummel nach Rye bei Dir, da wäre ich sowas von neugierig. Es grüßt das Henry-James-Fangirl.

  2. Noch ein Henry-James-Fangirl hier… (was er wohl dazu sagen würde? Kicher…) Das ist ja ein wundervoller, gehaltvoller Artikel hier, toll! Und die biographischen Infos fand ich auch spannend. Ich hatte keine Ahnung von diesen Neuausgaben. Habe haptisch und optisch wenig schöne englische Taschenbuchausgaben, die viel zu schnell verrappelt aussehen. Da wäre mal ein Upgrade nötig, also danke für die Inspiration!
    Von seinem Bruder William, den Du erwähnst, habe ich ein interessantes (und strenges) Buch über Pädagogik/Psychologie für Lehrer gelesen, das ich schon arg zeitgebunden fand – bis ein ganz wunderbares, menschliches Kapitel übers Glück auftauchte. Das ist wirklich lesenswert und hat mein Bild von ihm doch etwas zum Besseren geändert.

    1. Ich glaube, er wäre weiblichen Fans gegenüber eher distanziert 🙂 Mit seinem Bruder habe ich mich bislang eher oberflächlich beschäftigt, ich bin jetzt nicht so sehr für pädagogische Bücher aus dem vergangenen Jahrhundert zu begeistern 🙂 Aber in dem Debütroman von Zehrer spielt er eine nicht unwesentliche Rolle als väterlicher, gelassener Mentor – ich kann mir ganz gut vorstellen, nachdem Zehrer offenbar sehr intensiv recherchiert hat, dass er tatsächlich ein persönlich gar nicht so strenger, sondern recht angenehmer Typ war. Auch wenn er mit Henry machmal in der Beurteilung von dessen Büchern sehr streng war … Zum Zehrer-Roman: https://saetzeundschaetze.com/2017/10/27/klaus-caesar-zehrer-das-genie/

  3. “Eher distanziert”, das hast Du schön diskret ausgedrückt ;-). Aber wir wären ja nicht in dieser Weise an ihm interessiert… Ich muss nur grinsen, weil ich bei fangirl automatisch an hysterisch auf und ab hüpfende Teenager denke, und das wäre sicher das letzte, was James bräuchte, wenn er in Rye auf dem Rasen gediegen Tee trinken will… Das wäre so passend, wie wenn man (als Frau ;-)) Schopenhauer um ein Autogramm anhauen würde.
    Aber ich denke, trotz allem dürfen wir uns als waschechte fangirls bezeichnen, oder?!
    Und danke für den Link hier – sag mal, wann liest Du das alles?!?

    1. Als Fangirl würde ich mich natürlich sehr zurückhaltend und wahrscheinlich auch keinen Tee bei ihm trinken – das bringt zudem wieder Lesezeit 🙂 Außerdem spare ich mir Zeit beim Sport ein – wie es Henry James auch tat (indem ich keinen ausübe 🙂 )

  4. Ich stelle mir immer vor, dass ich Henry James lese, wenn ich so richtig alt bin, im Sessel sitze mit einer Wolldecke und dazu ein Glas Rotwein. Er steht schon im Bücherregal, Aber ich habe ihn noch nicht wirklich angefasst. Ich bin zu jung…. 🙂 Hahahaha. Liebe Grüsse! A.

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