Imraan Coovadia: Vermessenes Land

Der Roman „Vermessenes Land“ macht deutlich: Südafrika hat noch lange an seiner Vergangenheit und den Folgen der Apartheid zu kämpfen.

Coovadia
Bild: (c) Michael Flötotto

„Neil träumte vom Paradies. Er hatte ein schmales Buch fertiggestellt, in dem er seine Vorstellungen einer Idealgesellschaft erläuterte, das jedoch erst veröffentlicht werden konnte, wenn der Verbotserlass aufgehoben wurde. Aber es war fertig.

In einer Idealgesellschaft gäbe es keine Berufsgruppen. Keinen Platzwart. Keinen ordentlichen Professor. Keinen Studenten, der nicht gleichzeitig Lehrer, Forscher und Handwerker war, jemand, der mit Herz und Hand arbeitete. Es gäbe eine einheitliche Rechtschreibung. Mengen würden in Dezimalzahlen gemessen. In einer Idealgesellschaft gäbe es keine Währung, kein Erbe, kein Gehalt, keine Dividende. Es gäbe weder Konkurrenz noch Wettkampf. Jeder Mann und jede Frau könnten sich einen Platz an der Sonne suchen.“ 

Imraan Coovadia, „Vermessenes Land“

An einem Tag im Jahre 1976 spinnt sich der Philosophie-Dozent Neil beim Morgenschwimmen diese utopischen Gedanken aus. Wenige Stunden später ist der weiße Intellektuelle, der bei Sartre in die philosophische Lehre ging, tot. Erschossen von Schergen des Apartheid-Regimes.

Engagiert in der Anti-Apartheid-Bewegung

Neil und seine erste Frau Ann, die sich später im Londoner Exil für die Anti-Apartheids-Bewegung engagiert, deren künstlerisch ambitionierter Sohn Paul, die Mitglieder einer indischen Großfamilie, ein Widerstandskämpfer, ein Dieb, Aufsteiger und Goldgräber, Widerständige und Nutznießer, Revolutionäre und Rabauken: Der im südafrikanischen Durban geborene Imraan Coovadia lässt in seinem Episodenroman „Vermessenes Land“ eine Vielzahl von Protagonisten die Bühne betreten. Ihre Schicksale sind jeweils mehr oder weniger lose miteinander verknüpft. Sie treten jeweils für einen Tag, der geschildert wird, in den Mittelpunkt einer Episode – zehn Tage, über vier Jahrzehnte verteilt, vier Jahrzehnte, in denen sich die neue Republik von Südafrika herausbildete.

Geschickt entfaltet Coovadia so das literarische Panorama eines Landes, das nach extremster Unterdrückung des zahlenmäßig überwiegenden Anteils der Bevölkerung vom Zweiklassensystem in eine junge Demokratie überführt wurde. „Vermessenes Land“: Der Titel wirkt dabei durchaus doppelbödig. Denn schon während das weiße Apartheid-Regime noch an der Macht ist, ist Südafrika eindeutig vermessen: Hier die Siedlungen der wohlhabenden weißen Elite, der Buren, dort die Townships, in denen die farbige Bevölkerung ihren alltäglichen Überlebenskampf führen muss.

Der Kapitalismus siegt

Doch auch nach dem Ende des politischen und strukturellen Rassismus lebt die mentale, ideologisch verankerte Apartheid weiter, wie Coovadia zeigt. Und zudem ist das moderne Südafrika von einer weiteren Art der Landvermessung geprägt. Denn einher mit der Demokratie geht nicht, wie es sich der Philosoph Neil erträumte, eine Gesellschaft der Gleichen. Sondern auch die bis dahin Unterprivilegierten versuchen, am Raubtier-Kapitalismus teilzuhaben: Ob man hier auf dem Schwarzmarkt mit Mobiltelefonen, mit einem Mercedes oder U-Booten jongliert, bleibt sich fast gleich, Hauptsache ist, der Ertrag stimmt. So ist das Land auch nach der Apartheid bereits wieder vermessen, aufgeteilt unter jenen, die nach Jahren des Embargos am wachsenden Wohlstand teilhaben wollen. 

„Sie lebten in einem Land, das es eilig hatte, waren auf dem Weg irgendwohin und jeder wollte, so schnell es ging, reich werden.“

Es ist ein zugleich kritischer und desillusionierter Blick, den Coovadia in diesem Roman – wie durch die Augen eines Neils, der, wäre er nicht getötet worden, zugleich die Erfüllung und das Scheitern eines Traums hätte erleben müssen – auf sein Heimatland wirft.

Das Ende der Rassentrennung wurde blutig erkauft: 

„Wenn du verhaftet wurdest, durften die Zeitungen nicht darüber berichten. Hattest du Glück und kamst wieder frei, ob du gesungen hattest oder nicht, wolltest du nichts mehr sagen. Manche erholten sich nie wieder. Der Freiraum, den Mutter und ihre Schwestern ihrem Helden einräumten, war ungewöhnlich. Unter den Naidoos und Naickers herrschte die Meinung, wer sich in die Politik einmischte, bekam, was er verdiente. Wenn sogar ein Weißer wie der angesehene Professor Hunter in seinem eigenen Haus erschossen wurde, konnte sich ein Inder erst recht nicht aus dem Fenster lehnen.“

Und auch nach der Zeitenwende in Südafrika geht das Bluten weiter. Coovadia beschreibt, ohne jemals seine ruhige Erzählebene zu verlassen und etwaige Sensationsgelüste seiner Leser zu kitzeln, die alltägliche Gewalt, die sich in den Townships entlädt; das Aufkommen der AIDS-Katastrophe, die von der Politik negiert wird; die Kriminalität, die auf den Straßen (auch zu Zeiten der Fußball-Weltmeisterschaft, die wirtschaftlichen Aufschwung bringen sollte) herrscht. 

Südafrika hat mit seiner Vergangenheit zu kämpfen

„Vermessenes Land“ macht deutlich: Dieses Land Südafrika hat noch lange an seiner Vergangenheit zu knabbern. Gerechtigkeit kann nicht ausschließlich politisch hergestellt werden, die Wunden, die das Buren-Regime schlug, sie brauchen noch ihre Zeit zur Heilung.

Interessant an dem Episodenroman ist es, dass er die spezielle Sicht der indischen Bevölkerung in den Blick stellt – für mich war das neu, bislang kannte ich nur die Romane von Nadine Gordimer und J. M. Coetzee sowie das biographische Buch von Breyten Breytenbach („Wahre Bekenntnisse eines Albino-Terroristen“). Zudem lässt der Autor fiktive und reale Figuren auftreten – im Hintergrund fallen natürlich die Namen von Nelson Mandela und Bischof Tutu, Präsident Mbeki, der tatsächlich die AIDS-Seuche ignorierte, kommt in einer Episode als Boss vor. 

Um allen Hinweisen folgen zu können, sind gewisse Kenntnisse notwendig – hier kann man sich beispielsweise bei www.suedafrika.net über den historischen und politischen Hintergrund informieren. 

Literaturwissenschaftler und Autor

Literarisch ist der Stil Coovadias zwar (noch) nicht mit dem der beiden Literaturnobelpreisträgern seines Landes vergleichbar. Doch Coovadia, der an der University of Cape Town Literaturwissenschaft und kreatives Schreiben unterrichtet, ist ein guter, stringenter Erzähler, der die verschiedenen Fäden seiner Episoden souverän in der Hand hält. Vor allem Dialoge beherrscht er perfekt, sie beleben diesen im Grunde zutiefst politischen Roman und verdeutlichen, dass das auch geht: Engagierte Literatur lebendig schreiben.

Erschienen ist „Vermessenes Land“ in der Reihe „AfrikAWunderhorn“, die deutschsprachigen Lesern zeitgenössische afrikanische Literatur näherbringt. Herausgeberin ist Indra Wussow.

Informationen zum Buch:

Imraan Coovadia
Vermessenes Land
Übersetzt von Susann Urban
Verlag Das Wunderhorn, 2016
ISBN: 978-3-88423-533-1