C. A. Davids: Hoffnung & Revolution

“Hoffnung & Revolution” ist der zweite Roman der südafrikanischen Autorin C. A. Davids. Er erzählt von gescheiterten politischen Hoffnungen und dem Streben nach Gerechtigkeit.

„Nachdem sie tot war, gab es keinen Gedanken mehr an Normalität, sollte diese überhaupt je existiert haben. Die Traurigkeit ließ nie nach. Sie lauerte unter meinen Lidern, beobachtete mich, wenn ich in der Schule war, wenn ich sprach. Atmete für mich. Manchmal … besonders in den Tagen danach … war es einfacher, daheimzubleiben und an die Decke zu starren.“

C. A. Davids, „Hoffnung & Revolution“, Verlag Das Wunderhorn


Es sind zwei beschädigte Seelen, die das Schicksal in der Millionenmetropole Shanghai zusammenführt: Beth, eine südafrikanische Konsulatsangestellte, die 1989 den Mord an ihrer besten Freundin Kay erleben musste. Und Zhao, der 1958 einen ähnlichen Lebenseinschnitt erlitt – die Auslöschung praktisch seines ganzen chinesischen Heimatdorfes während einer großen Hungersnot, das ungeklärte Verschwinden seiner Mutter.

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Beide, die Diplomatin im Dienst eines immer korrupter werdenden Staates, und der linientreue Journalist in einer Diktatur, deren Überwachungsnetze immer enger gezogen werden, haben sich irgendwie mit ihrem Leben, ihrem status quo arrangiert. Doch beide wissen auch, dass dieses Arrangement, das Einrichten eines Lebens in einem Lügengespinst, seinen Preis hat.

„Wenn sparsam mit Erzählungen, mit Kritik, mit Geschichte, dann nicht, weil ich nicht sehe, nicht fühle. Beschütze nur. Dieses Leben …“, sagte er schließlich.
„Ja“, sagte ich. Ich verstand.
Zhaos Schweigen bedeutete auch, dass meine Vergangenheit mehr oder weniger in Ruhe gelassen wurde.

Der Preis des Schweigens ist Einsamkeit und Isolation, wie die südafrikanische Schriftstellerin C. A. Davids in ihrem zweiten Roman, der 2022 unter dem Titel „How to be a revolutionary“ erschien, verdeutlicht. Übersetzt von Susann Urban kam die deutsche Ausgabe „Hoffnung & Revolution“ nun in der Reihe „AfrikAWunderhorn“ im Verlag Das Wunderhorn heraus. Von Hoffnung ist zunächst bei den beiden hauptsächlichen Protagonisten wenig zu spüren: Beth und Zhao, die beide in einem Wohnblock leben, lernen sich kennen, weil Zhao ein Synonym für „traurig“ sucht. Sie einigen sich schließlich auf „Melancholie“.

Von Cape Town bis Shanghai

Eine Melancholie, die diesen Roman beinahe bis zum Ende durchzieht. Immer wieder wechselt die Autorin die Zeit- und Erzählebenen, verschränkt die beiden Lebensgeschichten, um die Vergangenheit, den Weg beider bis nach Shanghai nachzuvollziehen. Von Cape Town und der chinesischen Provinz bis Shanghai: Auch ein Weg gescheiterter politischer Hoffnungen, nicht eingetretener Utopien, falscher Glaubenssätze.

„Erst als der Vorsitzende starb, ließ das Blutvergießen ein wenig nach. Ich kann ruhig zugeben, dass ich gemeinsam mit Millionen, vielleicht Hunderten Millionen, aufrichtig weinte. Da ich keinen Vater gehabt hatte …“

Die Depression kommt am Platz des Himmlischen Friedens

Für Zhao, der das spurlose Verschwinden seiner Mutter nie überwand, wird schließlich dieses Datum, das in China nicht genannt werden darf, zu einem inneren Wendepunkt: Der 4. Juni 1989, der Tag des Massakers am Tian’anmen-Platz. Mit diesem Tag beginnt für ihn der Weg in eine innere Emigration, die erst aufbricht, als er Beth kennenlernt.

Und für Beth ist die Begegnung mit Zhao der Schlüssel, um das, was die in Südafrika eingesetzte “Wahrheits- und Versöhnungskommission” ihr nicht bieten konnte – Gerechtigkeit für ihre ermordete Jugendfreundin Kay – zu überwinden. Zu sehr hatte sie sich an ein Leben mit Kompromissen gewöhnt. Die kritischen Worte ihres Mannes, denen sie sich mit ihrer Versetzung nach Shanghai entzieht, schärfen ihren Blick, ihr Vorgesetzter formuliert es deutlich:

„Sie sind eine Beamtin, die alle Ideologie hinter sich gelassen hat und mit sich ins Reine zu kommen versucht, nachdem sie jahrelang die zunehmende Unfähigkeit und Korruption ignorierte.“

Als Zhao, der vermutlich bereits von der chinesischen Regierung überwacht wird, eines Tages sang- und klanglos verschwindet, hinterlässt er Beth ein gefährliches Geschenk: Ein Manuskript, das unverblümt von der Hungersnot erzählt, den Gräueltaten, als Kinder ihre Eltern aßen, um zu überleben, als korrupte Beamte Nahrungsmittel für sich und die ihren beiseite schafften bis hin zu den Umtrieben der Viererbande und dem Massaker am Himmlischen Platz des Friedens. Beth gelingt es, obwohl auch bereits ihre Wohnung überwacht wird, sie ihren Arbeitsplatz verliert, schließlich einem Verhör unterzogen wird und aus Shanghai verwiesen wird, das Manuskript außer Landes zu schaffen. Und aus der Resignation und Apathie wird schließlich wieder Hoffnung:

„In den Tagen und Nächten, die folgten, füllte Beth, wie eine Gegenstimme zum Meeresrauschen, die Stille mit Worten, die ihr anfangs nicht leichtfielen.
Aber hier standen sie. Wahr. Fakt. Eine Aufzeichnung. Ein Zeugnis. Seins, ihr eigenes und natürlich der Freundschaft.“

In einer ausführlichen Rezension zu diesem Buch schreibt Hilary Lynd in der „Los Angeles Review of Books“:

„Being a confident young revolutionary is part of a collective experience. Being a confused older revolutionary, most of the time, is awfully lonely.“

Man ist versucht, beim Lesen immer wieder leise die „Internationale“ anzustimmen: „Proletariar (respektive Revolutionäre) aller Länder, vereinigt euch!“ Denn „Hoffnung & Revolution“ ist ein Roman, der ebenso von der Einsamkeit als auch vom Wert der Freundschaft und Solidarität erzählt. Und nicht zuletzt davon, dass Menschen bereit sind, für den Kampf gegen Ungerechtigkeit vieles auf sich zu nehmen – und dazu bereit sein können, wenn einige, und seien es auch nur wenige, sie unterstützen.

Fiktive Briefe von Langston Hughes

Kunstvoll gelingt es C. A. Davids, diesen Subtext ihres Buches durch eine dritte Ebene zu verstärken: Immer wieder eingeflochten sind in den Text fiktive Briefe des afroamerikanischen Schriftstellers Langston Hughes (1902 – 1967) an einen südafrikanischen Kollegen. Hughes ist die perfekte Projektionsfläche: Hughes, Vertreter der Harlem Renaissance, kämpft gegen Diskriminierung, sieht den Sozialismus, vor allem nach einer Reise in die Sowjetunion, als mögliche, gerechte Staatsform, muss in der McCarthy-Ära vor den berüchtigten Ausschuss und gerät, auch weil er sich von manchen seiner früheren Aussagen distanziert, zwischen alle Stühle und mehr und mehr in die Isolation. Die Korrespondenz mit gleichgesinnten Schriftstellern, die Arbeit an einer Anthologie, das ist es, was Hughes wieder Mut & Leben gibt.

Davids schildert dies alles unspektakulär und dennoch abwechslungsreich – so bekommt jeder Handlungsort, sei es Shanghai, sei es Kapstadt, eine „eigene Sprache“ und Färbung, beispielsweise durch eingestreute Slangwörter. Auf eine falsche Fährte könnte die Ankündigung des Buchs als Politthriller auf der Verlagsseite Leser*innen bringen: Für einen Thriller fehlt etwas der Spannungsbogen. Vielmehr ist „Hoffnung & Revolution“ ein lesenswerter Roman über Kraft (aber auch Ohnmacht) des geschriebenen Wortes. Und ein politischer Roman von hoher Aktualität: Irgendwo steht die Welt immer in Flammen. Und irgendwo braucht es auch immer mutige Einzelne, die dagegen ihre Stimme erheben.


Weitere Informationen:

C. A. Davids
Hoffnung & Revolution
Übersetzt von Susann Urban
Verlag Das Wunderhorn, 2023
Hardcover, 320 Seiten
ISBN 978-3-88423-686-4

Mehr zum Buch und zur Autorin auf der Homepage des Verlags, dem ich für das Rezensionsexemplar danke.


Südafrika auf diesem Blog:

Imraan Coovadia: Vermessenes Land
James McClure: “The Steam Pig” und “The Song Dog”

James McClure: “The Steam Pig” und “The Song Dog”

James McClure schrieb seine Krimis über Südafrika im britischen Exil – düstere Abbilder einer Gesellschaft, geprägt von Apartheid und Gewalt.

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„Einer sagte, Captain Bronkhorst fürchte wohl, schlecht dazustehen, falls er die Person nicht dingfest machen konnte, die für die Explosion verantwortlich war. Aber später sagte Mtetwa, der Bantu-Sergeant, nein, das sei es nicht. Er hätte mit einem früheren CID-Kollegen in Trekkersburg gesprochen und gehört, Captain Bronkhorst sei mit einer sehr wichtigen Ermittlung betraut und müsse der Sicherheitspolizei helfen, einen gewissen Bantu namens Nelson Mandela zu finden.

„Wen?“, fragte Kramer.

„Ach, irgend so ein Xhosa“, sagte Zondie mit einer abfälligen Geste, die besagen sollte, dass der Betreffende einem niederigen Stand angehörte.“

James McClure, „Song Dog“, OA 1991, in deutscher Übersetzung 2016 beim Unionsverlag erschienen.


Man muss nur wenige Kapitel dieses Thrillers lesen, um zu verstehen, warum der Journalist James McClure (1939 – 2006) sein Heimatland Südafrika 1965 verlassen musste: Frech, rotzig, düster und direkt sind diese Kriminalromane um den weißen Ermittler Kramer und seinen afrikanischen Kollegen Zondie, die McClure ab den 1970er-Jahren im britischen Exil schrieb.

Thriller aus Südafrika

Acht Thriller entstanden in dieser Reihe, die beim Züricher Unionsverlag ieder veröffentlicht wurden. Herauszuheben sind insbesondere das erst 1991 verfasste Prequel zur Serie, „Song Dog“ und der erste, bereits 1971 erschienene Thriller „The Steam Pig“. Beide Krimis sind äußerst temporeich, spannend konzipiert und mit nicht wenig Ironie ausgestattet – vor allem aber sind sie zwar nicht offensichtlich politisch und enthüllen doch den Irrsinn und die Abartigkeit des Apartheidsystems ganz klar. Selten, dass wie im obigen Zitat, direkte Anspielungen auf das Zeitgeschehen und den ANC-Widerstand zu lesen sind – und dennoch wird verständlich, warum einer wie McClure dem Regime ein Dorn im Auge war.

Der Schriftsteller selbst äußerte sich in einem Interview dazu einmal so:

„Alle meine Bücher sind spezifisch südafrikanisch. Ich kenne andere ›südafrikanische‹ Krimis, die überall auf der Welt spielen könnten. Ich aber wollte so vielen Menschen wie möglich vermitteln, wie hier die Zustände sind – in Südafrika. Eines Abends sah ich im Fernsehen, wie die Kriminalliteratur als das konservativste, aber auch das meistgelesene Genre beschrieben wurde. Da kam mir die Idee, selbst Krimis zu schreiben. Ich wollte ein wirklich weitreichendes Medium nutzen. Hinzu kam, dass die Polizei sich in allen Ebenen der Gesellschaft bewegt. Der Krimi kann zwischen allen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen wechseln – in einem Roman geht das nicht so einfach. Ich habe mich also sehr bewusst für die Form des Kriminalromans entschieden.“

Das Interview findet sich auf der Seite des Unionsverlag zu McClure.

Lakonischer Einzelgänger trifft auf Sinatra-Fan

In „Song Dog“ trifft der Ermittler Tromp Kramer, ein lakonischer Einzelgänger mit unkonventionellen Ansichten und Vorgehen, erstmals auf Zondi, seinen späteren Compagnon. Auch Kramer ist ein Kind seiner Gesellschaft: Zunächst erscheint ihm der Afrikaner, der im Frank Sinatra-Outfit umherspaziert, schon aufgrund seiner Hautfarbe und seines Auftretens verdächtig. Der Fall – eine Ermittlung über einen Polizistenmord – schweißt die beiden zusammen, gegenseitiger Respekt entsteht.

Wie sehr das System die Menschen korrumpierte und erniedrigte wird in „Steam Pig“ noch weitaus deutlicher: Eine junge Frau, die aufgrund ihrer weißen Hautfarbe inmitten der Gesellschaft leben konnte, ist nicht das, was sie erschien – und bezahlt dafür mit ihrem Leben.

Eine kranke Gesellschaft während der Apartheid

Korrupte Polizisten, unfähige Ermittler, erpressbare Stadträte, scheinheilige Moralapostel: James McClure zeichnet in seinen Thrillern das Portrait einer kranken Gesellschaft, eines Landes, das kurz vor der Explosion steht – weil die Gier der Machthabenden alles Ertragbare übersteigt.

Thomas Wörtche stellte die beiden Bücher bei Deutschlandradio Kultur vor:

„Auch die Fälle der beiden kommentieren die südafrikanischen Verhältnisse mit bitterer Präzision: In “Song Dog” geht es um zweckrationale Morde von Weißen an Weißen, wobei man an höherer Stelle lieber die moralische Verworfenheit der Beteiligten als Motiv gesehen hätte; in “Steam Pig” ist der Auslöser einer menschlichen Tragödie die “Zurückstufung” des Opfers, einer jungen, begabten Frau, die nach langen Jahren des Lebens als Weiße zur “Schwarzen” erklärt wird. Der anti-moderne Puritanismus des Landes, die grotesken und bizarren Situationen, die entstehen, weil man Schwarze und “Farbige” als unsichtbar, bzw. fast nicht existent betrachtet, spielen eine ebenso entscheidende Rolle wie die Brutalität, mit der solche Verhältnisse durchgesetzt werden. Kramer und Zondi kommentieren all das nicht, nur ihre Handlungen sind entsprechend subversiv.“


Informationen zu den Büchern:

James McClure
Song Dog
Unionsverlag Zürich
Übersetzt von Erika Ifang
Taschenbuch, 352 Seiten
ISBN 978-3-293-20742-4

James McClure
Steam Pig
Unionsverlag Zürich
Übersetzt von Sigrid Gent
Taschenbuch, 320 Seiten
ISBN 978-3-293-20743-1

Imraan Coovadia: Vermessenes Land

Der Roman „Vermessenes Land“ macht deutlich: Südafrika hat noch lange an seiner Vergangenheit und den Folgen der Apartheid zu kämpfen.

Coovadia
Bild: (c) Michael Flötotto

„Neil träumte vom Paradies. Er hatte ein schmales Buch fertiggestellt, in dem er seine Vorstellungen einer Idealgesellschaft erläuterte, das jedoch erst veröffentlicht werden konnte, wenn der Verbotserlass aufgehoben wurde. Aber es war fertig.

In einer Idealgesellschaft gäbe es keine Berufsgruppen. Keinen Platzwart. Keinen ordentlichen Professor. Keinen Studenten, der nicht gleichzeitig Lehrer, Forscher und Handwerker war, jemand, der mit Herz und Hand arbeitete. Es gäbe eine einheitliche Rechtschreibung. Mengen würden in Dezimalzahlen gemessen. In einer Idealgesellschaft gäbe es keine Währung, kein Erbe, kein Gehalt, keine Dividende. Es gäbe weder Konkurrenz noch Wettkampf. Jeder Mann und jede Frau könnten sich einen Platz an der Sonne suchen.“ 

Imraan Coovadia, „Vermessenes Land“


An einem Tag im Jahre 1976 spinnt sich der Philosophie-Dozent Neil beim Morgenschwimmen diese utopischen Gedanken aus. Wenige Stunden später ist der weiße Intellektuelle, der bei Sartre in die philosophische Lehre ging, tot. Erschossen von Schergen des Apartheid-Regimes.

Engagiert in der Anti-Apartheid-Bewegung

Neil und seine erste Frau Ann, die sich später im Londoner Exil für die Anti-Apartheids-Bewegung engagiert, deren künstlerisch ambitionierter Sohn Paul, die Mitglieder einer indischen Großfamilie, ein Widerstandskämpfer, ein Dieb, Aufsteiger und Goldgräber, Widerständige und Nutznießer, Revolutionäre und Rabauken: Der im südafrikanischen Durban geborene Imraan Coovadia lässt in seinem Episodenroman “Vermessenes Land” eine Vielzahl von Protagonisten die Bühne betreten. Ihre Schicksale sind jeweils mehr oder weniger lose miteinander verknüpft. Sie treten jeweils für einen Tag, der geschildert wird, in den Mittelpunkt einer Episode – zehn Tage, über vier Jahrzehnte verteilt, vier Jahrzehnte, in denen sich die neue Republik von Südafrika herausbildete.

Geschickt entfaltet Coovadia so das literarische Panorama eines Landes, das nach extremster Unterdrückung des zahlenmäßig überwiegenden Anteils der Bevölkerung vom Zweiklassensystem in eine junge Demokratie überführt wurde. „Vermessenes Land“: Der Titel wirkt dabei durchaus doppelbödig. Denn schon während das weiße Apartheid-Regime noch an der Macht ist, ist Südafrika eindeutig vermessen: Hier die Siedlungen der wohlhabenden weißen Elite, der Buren, dort die Townships, in denen die farbige Bevölkerung ihren alltäglichen Überlebenskampf führen muss.

Der Kapitalismus siegt

Doch auch nach dem Ende des politischen und strukturellen Rassismus lebt die mentale, ideologisch verankerte Apartheid weiter, wie Coovadia zeigt. Und zudem ist das moderne Südafrika von einer weiteren Art der Landvermessung geprägt. Denn einher mit der Demokratie geht nicht, wie es sich der Philosoph Neil erträumte, eine Gesellschaft der Gleichen. Sondern auch die bis dahin Unterprivilegierten versuchen, am Raubtier-Kapitalismus teilzuhaben: Ob man hier auf dem Schwarzmarkt mit Mobiltelefonen, mit einem Mercedes oder U-Booten jongliert, bleibt sich fast gleich, Hauptsache ist, der Ertrag stimmt. So ist das Land auch nach der Apartheid bereits wieder vermessen, aufgeteilt unter jenen, die nach Jahren des Embargos am wachsenden Wohlstand teilhaben wollen. 

„Sie lebten in einem Land, das es eilig hatte, waren auf dem Weg irgendwohin und jeder wollte, so schnell es ging, reich werden.“

Es ist ein zugleich kritischer und desillusionierter Blick, den Coovadia in diesem Roman – wie durch die Augen eines Neils, der, wäre er nicht getötet worden, zugleich die Erfüllung und das Scheitern eines Traums hätte erleben müssen – auf sein Heimatland wirft.

Das Ende der Rassentrennung wurde blutig erkauft: 

„Wenn du verhaftet wurdest, durften die Zeitungen nicht darüber berichten. Hattest du Glück und kamst wieder frei, ob du gesungen hattest oder nicht, wolltest du nichts mehr sagen. Manche erholten sich nie wieder. Der Freiraum, den Mutter und ihre Schwestern ihrem Helden einräumten, war ungewöhnlich. Unter den Naidoos und Naickers herrschte die Meinung, wer sich in die Politik einmischte, bekam, was er verdiente. Wenn sogar ein Weißer wie der angesehene Professor Hunter in seinem eigenen Haus erschossen wurde, konnte sich ein Inder erst recht nicht aus dem Fenster lehnen.“

Und auch nach der Zeitenwende in Südafrika geht das Bluten weiter. Coovadia beschreibt, ohne jemals seine ruhige Erzählebene zu verlassen und etwaige Sensationsgelüste seiner Leser zu kitzeln, die alltägliche Gewalt, die sich in den Townships entlädt; das Aufkommen der AIDS-Katastrophe, die von der Politik negiert wird; die Kriminalität, die auf den Straßen (auch zu Zeiten der Fußball-Weltmeisterschaft, die wirtschaftlichen Aufschwung bringen sollte) herrscht. 

Südafrika hat mit seiner Vergangenheit zu kämpfen

„Vermessenes Land“ macht deutlich: Dieses Land Südafrika hat noch lange an seiner Vergangenheit zu knabbern. Gerechtigkeit kann nicht ausschließlich politisch hergestellt werden, die Wunden, die das Buren-Regime schlug, sie brauchen noch ihre Zeit zur Heilung.

Interessant an dem Episodenroman ist es, dass er die spezielle Sicht der indischen Bevölkerung in den Blick stellt – für mich war das neu, bislang kannte ich nur die Romane von Nadine Gordimer und J. M. Coetzee sowie das biographische Buch von Breyten Breytenbach (“Wahre Bekenntnisse eines Albino-Terroristen”). Zudem lässt der Autor fiktive und reale Figuren auftreten – im Hintergrund fallen natürlich die Namen von Nelson Mandela und Bischof Tutu, Präsident Mbeki, der tatsächlich die AIDS-Seuche ignorierte, kommt in einer Episode als Boss vor. 

Um allen Hinweisen folgen zu können, sind gewisse Kenntnisse notwendig – hier kann man sich beispielsweise bei www.suedafrika.net über den historischen und politischen Hintergrund informieren. 

Literaturwissenschaftler und Autor

Literarisch ist der Stil Coovadias zwar (noch) nicht mit dem der beiden Literaturnobelpreisträgern seines Landes vergleichbar. Doch Coovadia, der an der University of Cape Town Literaturwissenschaft und kreatives Schreiben unterrichtet, ist ein guter, stringenter Erzähler, der die verschiedenen Fäden seiner Episoden souverän in der Hand hält. Vor allem Dialoge beherrscht er perfekt, sie beleben diesen im Grunde zutiefst politischen Roman und verdeutlichen, dass das auch geht: Engagierte Literatur lebendig schreiben.


Erschienen ist „Vermessenes Land“ in der Reihe „AfrikAWunderhorn“, die deutschsprachigen Lesern zeitgenössische afrikanische Literatur näherbringt. Herausgeberin ist Indra Wussow.

Informationen zum Buch:

Imraan Coovadia
Vermessenes Land
Übersetzt von Susann Urban
Verlag Das Wunderhorn, 2016
ISBN: 978-3-88423-533-1

Joachim Sartorius: Niemals eine Atempause

Das „Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert“ ist ein lyrischer Atlas der Auseinandersetzungen, aber auch der Ideale und Utopien unserer Zeit.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Und die Geschichte ist auch nicht
der zerstörerische Bulldozer wie behauptet wird.
Sie hinterlässt Unterführungen, Grüfte, Löcher
und Verstecke. Manche überleben.

Aus: „Die Geschichte, II.“ von Eugenio Montale

Das Gedicht des italienischen Nobelpreisträgers für Literatur ist in voller Länge und in der deutschen Übertragung durch Michael von Killisch-Horn dieser Anthologie vorangestellt:

„Niemals eine Atempause“, Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Joachim Sartorius, 1. Auflage 2014, Verlag Kiepenheuer & Witsch.

60 Jahre Grundgesetz, 50 Jahre Vertrag von Rom, 25 Jahre Mauerfall – die Jubiläen der vergangenen Jahre waren stets begleitet vom Hinweis, dass Europa die langanhaltendste friedliche Periode seit Menschengedenken erlebt. Wie fragil das Ganze jedoch ist, das zeigen die Ereignisse an der Peripherie, der Bosnienkrieg, die Auseinandersetzungen in der Ukraine. Und außerhalb des europäischen Kontinents bleibt Frieden immer noch eine ferne Utopie. Es gibt in diesen Tagen auf der Welt so viele Kriege und regionale Konflikte wie lange nicht. Wer jedoch beispielsweise die Auseinandersetzungen in Afrika rein als innerkontinentales Konfliktthema verortet, sollte sich daran erinnern: Viele dieser Auseinandersetzungen, die uns hier wenig (be-)kümmern, sind (auch) späte Früchte europäischer Kolonial- und Eroberungspolitik, Früchte des Zorns, ein Erbe vor allem des 20. Jahrhunderts.

Auf der Insel der europäisch Friedlich-Seligen schadet der Blick zurück freilich niemals: Die Hoffnung, dass aus dem Vergangenen gelernt wird, stirbt zuletzt. Und da ist das 20. Jahrhundert eines, das zweifelsohne und über die beiden Katastrophen der zwei Weltkriege hinaus, Konflikt- und Verarbeitungsstoff ohne Ende bietet. Zumal die Jubelfeiern übertünchen, dass längst nicht alles schwarz-rot-gold ist, was da glänzt. Aus der Geschichte lernen – was wurde gelernt?

Friedensnobelpreisträger Gorbatschow äußerte sich dieser Tage enttäuscht, spricht von einem Zusammenbruch des Vertrauens, einem Neubeginn des Kalten Krieges. Welche Verantwortung übernimmt dabei das Land der Dichter&Denker in der Welt – das Land, das trotz Aufklärung und Sturm&Drang im 20. Jahrhundert zweimal zurück in die tiefste Barbarei steuerte?

Kunst als Tochter der Freiheit?

Und welche Rolle übernehmen die Dichter&Denker? Ist die Kunst, frei nach Schiller, eine Tochter der Freiheit? Sind Kunst und Politik verwandt, verbunden oder getrennte Wesen? Kann man dann, wo die Worte unzureichend erscheinen, Gedichte machen? Oder muss man gerade darum ringen, das Unfassbare in Worte zu fassen?

Hierzu Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“:

„Aber sollte ich von der Freiheit, die mir von Ihnen verstattet wird, nicht vielleicht einen besseren Gebrauch machen können, als Ihre Aufmerksamkeit auf dem Schauplatz der schönen Kunst zu beschäftigen? Ist es nicht wenigstens außer der Zeit, sich nach einem Gesetzbuch für die ästhetische Welt umzusehen, da die Angelegenheiten der moralischen ein so viel näheres Interesse darbieten und der philosophische Untersuchungsgeist durch die Zeitumstände so nachdrücklich aufgefordert wird, sich mit vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit zu beschäftigen?

Ich möchte nicht gern in einem andern Jahrhundert leben und für ein andres gearbeitet haben. Man ist ebenso gut Zeitbürger, als man Staatsbürger ist; und wenn es unschicklich, ja unerlaubt gefunden wird, sich von den Sitten und Gewohnheiten des Zirkels, in dem man lebt, auszuschließen, warum sollte es weniger Pflicht sein, in der Wahl seines Wirkens dem Bedürfnis und dem Geschmack des Jahrhunderts eine Stimme einzuräumen?“

Was also haben die Dichter zum gewalttätigen zurückliegenden Jahrhundert zu sagen?

Eine lange Vorrede zu einem besonderen Buch: In „Niemals eine Atempause“ stellte Joachim Sartorius als Herausgeber ein „Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert“ zusammen. Dieser lyrische Atlas, in dem sich Gewalttätigkeiten, Katastrophen und Morde ebenso wie der Wille zum Aufbruch, zur Veränderung, der Wunsch nach anderen Verhältnissen niederschlagen, lässt die Stimmen von mehr als 100 Poetinnen und Poeten erklingen: Von Wort- und Schriftführern ihrer Ideologie, Mitläufern und willfährigen Hofdichtern bis hin zur „Schreckenskammer“ der dichtenden Diktatoren und Despoten einerseits, von Widerständlern, Mahnern, Moralisten und Kritikern der Macht andererseits. Erfreulicherweise ist das Buch nicht eurozentrisch, greift ebenso Konflikte auf, die das 20. Jahrhundert auch in anderen Teilen der Welt prägten: Die lateinamerikanische Befreiungsbewegung, der Kampf gegen die Apartheid, die Kriege in Asien, Vietnam und chinesische Kulturrevolution bis hin zum Nahen Osten. Großen Raum nehmen aber selbstverständlich die beiden Weltkriege, Holocaust und Todeslager, Kalter Krieg und Wiedervereinigung (siehe dazu der vorhergehende Beitrag) ein. Jedem Kapitel ist eine Einführung zu Politik und Geschichte vorangestellt, zudem werden etliche Gedichte, vor allem die derjenigen Dichter mit hermetischerer Ausdrucksweise, kurz erläutert und interpretiert.

Das Buch ist chronologisch angeordnet und beginnt mit dem Genozid an den Armeniern (1909-1918) und endet nach einem Kapitel über „Die grüne Utopie“, die das Ende des 20. Jahrhunderts prägte, mit einem Epilog durch Bob Dylan: „Masters of War“. Die „Schreckenskammer“ mit „Gedichten der Despoten“, darunter Stalin, Mussolini, Mao Tse-Tung, ist dem Ganzen abseits als Anhang beigestellt.

Geschichtsschreibung ist nie objektiv

Soviel zum Formalen. Zum Inhaltlichen: Geschichtsschreibung ist niemals objektiv. Lyrik sowieso überhaupt nie. Und jede Auswahl wird von einem Subjekt getroffen. So ist dieses Handbuch der politischen Poesie eben auch eng mit der Person des Herausgebers verknüpft, ein Abbild seiner Entscheidungen. Sartorius („Jurist, Diplomat, Theaterintendant, Lyriker und Übersetzer“ in der bei „Wikipedia“ aufgeführten Reihenfolge), scheint dafür die richtige Wahl: Einer, der sich in der Lyrik auskennt wie in seinem eigenen Zuhause, gebildet, kosmopolitisch geprägt, ein Humanist, ja, durchaus ein Poesie-Diplomat, dem man ausgewogene Entscheidung zutraut, auf dessen Auswahl man sich also auch bei diesem Handbuch stützen mag. In seinem Vorwort umreißt Sartorius kurz das Verhältnis von „Poesie und Macht“:

„Es scheint im Rückblick, gerade dieses Jahrhundert war so beschaffen, dass die Intellektuellen, die Künstler, die Schriftsteller Partei ergreifen mussten. Und die Dichter? Sie bewegen sich in einem besonderen Spannungsfeld. Per definitionem ist der Dichter ein Einsamer, auf dem Rückzug, in Betrachtung versunken. Wenn er die Probleme der Epoche nicht aufgreift, scheint sein Werk ohne Nutzen, wie disqualifiziert.“

Sartorius Anliegen war es, unter dem Meer politischer Gedichte – und letztendlich wäre ja jedes Gedicht als Ausdruck einer menschlichen Befindlichkeit per se politisch – jene beiseite zu lassen, die „dem Zeitgeist verpflichtet, ohne Dauer“ sind. Er begrenzt die Auswahl auf jene, die „politisch“ in dem Sinne sind, dass sie ein politisches (geschichtliches) Thema aufgreifen beziehungsweise eine politische Absicht verfolgen. Schwieriger schon die Entscheidung, was ein „gutes politisches“ Gedicht nun sei:

„Fast immer überschneiden sich Ethik und Ästhetik in einem politischen Gedicht.“

Sartorius weiter:

„Im 20. Jahrhundert wurde aber „angesichts des Schreckens, der sich darin abspielte, bald deutlich“, so Matthias Göritz, „dass diese Haltung so nicht mehr einzunehmen ist. Wörter sind nicht unschuldig, gerade die Dichter wissen das.“ So wurde eine Richtung immer stärker, die sich sowohl vom hermetischen Text wie vom lyrischen Subjektivismus abgrenzte und versuchte, Fakten sprechen zu lassen, also zu erzählen und zu argumentieren, ohne den dem Gedicht spezifischen Empfindungsgeist und seine Erregungskunst hinter sich zu lassen. In diesem Rahmen gibt es Gedichte mit guter Botschaft und von zweifelhafter Machart, und es gibt gute Gedichte mit zweifelhafter Botschaft. Das Urteil, ob es sich um ein Kunstwerk handelt, muss ästhetisch gefällt werden und ist letztlich ganz subjektiv. Ich habe versucht, Gedichte aufzunehmen, die sich politische Themen vornehmen, keine einfache Moral haben und imstande sind, Komplexität des Nachdenkens und der Gefühle zu erzeugen.“

Unter dieser Maßgabe ist diese subjektive Auswahl für das Handbuch – Herausgeber und Verlag weisen darauf hin, dass es die erste Gedicht-Anthologie zur politischen Poesie des 20. Jahrhunderts sei – durchaus gelungen. Doch weit mehr als das Anliegen, sich mittels eines Handbuches einen ersten Überblick zu verschaffen, zählt dieser Gedanke:

„Leiden duldet kein Vergessen“

Denn letztlich rufen diese Gedichte, die auch von persönlichem Leid, Verlusten, aber auch Versagen und Ängsten angesichts menschlicher Gewalt erzählen, vor allem in Erinnerung, wie dünn das zivilisatorische Eis bleibt, auf dem wir in scheinbar friedlichen Zeiten dahingleiten. Dass es nach barbarischen Zeiten auch weiterhin Gedichte geben muss, um der Barbarei, wenn möglich, vorzubeugen. Sartorius endet sein Vorwort damit:

„Dieses Handbuch soll zeigen: Es gibt keine Aneignung der Geschichte durch Gedichte. Aber Gedichte kommentieren die Zeitläufte, sie zeigen Entsetzen, sie klagen an oder sie rufen auf, sie können „eine Schule für Güte, Sühne, Reue und Vergebung sein“ (Zbigniew Herbert in seiner Dankesrede für den Preis der Europäischen Poesie, 1997). Vor allem zeigen sie das Vertrauen ihrer Schöpfer, dass die Worte langfristig auf das Bewusstsein wirken und am Ende Wirklichkeit stärker modellieren als Geschichtsbücher oder politische Entscheidungen.“

Nicht aufgenommen in das Handbuch hat der Herausgeber übrigens eines seiner eigenen Gedichte, dessen Titel lautet: „Im Vernichtungsbuch“. Es beginnt mit diesen Zeilen:

Daß die Bäcker ihre weißen Hände ausziehen.
Daß die Metzger vor den Tieren sterben.
Daß die Dichter einen nutzlosen Mund haben,
den sie rund machen und breit ziehen.
Das steht im Vernichtungsbuch geschrieben.


Einen ersten Blick ins Buch ermöglicht die Verlagsseite (siehe Leseprobe): Verlagsinformation
Auch Wolfgang Schiffer stellt die Anthologie auf seinem Blog “Wortspiele” vor:
Besprechung Wolfgang Schiffer

Bild zum Download: Ausstellung Prag


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