Stefan Zweig: Der Amokläufer & Episode am Genfer See

Ein wunderschön gestalteter Band mit zwei Novellen von Zweig, die verdeutlichen, wie aktuell der große österreichische Schriftsteller immer noch ist.

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Stefan Zweig, portraitiert von Michael Hahn. Foto: Birgit Böllinger

„Die geistige Einheit unserer Welt?? Welch ein absurdes Thema! Spreche ich da nicht über ein Phantom? Existiert sie wirklich? Hat sie je existiert? Wird sie je realisierbar sein?

Leider, ich gestehe es, ist sie nicht sehr sichtbar im gegenwärtigen Augenblick, diese moralische Einheit unserer Welt – im Gegenteil, selten war die Atmosphäre der Welt (insbesondere unseres alten Europas) so vergiftet von Misstrauen, Uneinigkeit und Angst. Mit Unruhe nimmt man jeden Morgen die Zeitung zur Hand, mit einem Seufzer der Erleichterung legt man sie nieder, wenn nichts besonders Gefährliches sich ereignet hat, nur manchmal glaubt man die schwarzen Schwingen des drohenden Kriegs über seinem Schlafe rauschen zu hören.“

Stefan Zweig aus: „Die geistige Einheit Europas“.

Wenn man diesen Vortrag von Zweig, 1936 in Rio de Janeiro gehalten, heute liest, muss man sich die Augen reiben: Wort für Wort beschreibt der große österreichische Autor unsere gegenwärtige Situation. Mag man heutzutage auch keine Zeitung mehr lesen, sondern Nachrichten im Internet, mag es die wunderbare Sprache Zweigs sein, die manchem etwas antiquiert erscheinen mag: die Worte verlieren dennoch nicht ihre Gültigkeit und Aktualität.

Zweigs „Welt von gestern“ erscheint wie die „Welt von heute“:

„Woche für Woche, Monat für Monat kamen immer mehr Flüchtlinge, und immer waren sie noch ärmer und verstörter von Woche zu Woche als die vor ihnen gekommenen.“

Zwar spricht Zweig hier, in seinen „Erinnerungen eines Europäers“, von der jüdischen Bevölkerung, die versucht, aus dem nationalistischen Deutschland zu fliehen – doch an dem Kapitel „Sie standen an den Grenzen“ wird deutlich, was Flucht und Heimatverlust bedeuten, damals wie heute.

Der Verlag „Topalian & Milani“, der schon einmal mit „Die unsichtbare Sammlung“ einen wunderbaren bibliophilen Band mit zwei Erzählungen Zweigs herausgab, begeistert nun erneut mit einem absolut schön gestalteten Buch, einem Buchkunstwerk, das zwei Novellen des Autors beinhaltet.

Ergänzt durch die beiden oben zitierten Aufsätze zeigt dieser Band die politische und moralische Aktualität des Österreichers, der sich, verzweifelt über das Leben im erzwungenen Exil, 1942 das Leben nahm, an zwei Erzählungen. Auch die beiden ausgewählten Novellen für das stimmig illustrierte Buch, „Der Amokläufer“ und „Episode am Genfer See“, zeigen, warum Stefan Zweig ein Autor der Moderne ist: Er taucht förmlich in die Psyche seiner Figuren ein, er geht bis an ihren Seelengrund und die gewählten Thematiken, Machtmissbrauch eines Mannes über eine Frau und die Lage eines Flüchtlings, sind nach wie vor aktuell.

Mag „Der Amokläufer“, der allein von der Länge der Erzählung aus schon mehr Raum einnimmt, die spannendere Geschichte sein, an der Zweigs ganze Kunst des erzählerischen Gestaltens deutlich wird, so ist die „Episode am Genfer See“ die deutlich anrührendere Erzählung. Am schweizerischen Ufer des Sees strandet ein nackter, unbekannter Mann, ein Russe, als Soldat in den Krieg gezwungen, der nur noch nach Hause zu seiner Familie möchte. Mit welchen Vorbehalten die Bevölkerung reagiert, wie wenig Bereitschaft da ist, dem Mann über das Notwendigste – Kleidung und Essen – hinaus zu helfen, wie sehr dieser aber wiederum unter seiner „Sprachlosigkeit“, seinem Heimweh und seiner Isolation leidet, dies alles schildert Zweig in wenigen, einprägsamen Szenen. Eine Geschichte, die auch heute noch dazu beizutragen vermag, sich in die Ausnahmesituation eines Flüchtlings hineinzudenken. Dass beide Erzählungen tragisch enden, dies sei an dieser Stelle noch vermerkt.

Es ist also auch heute immer noch ein großer Gewinn, Stefan Zweig zu lesen. Und mit diesem vorliegenden Buch liegt auch eine der schönsten Neuausgaben vor, die es von Zweigs Erzählungen gibt: Handwerklich und optisch von der Auswahl der Schriften bis hin zum Papier aufwendig und wunderschön gemacht, wie man es von dem 2015 gegründeten Verlag inzwischen schon erwartet.

Die Illustrationen von Michael Hahn sind überwältigend – sie greifen die jeweilige Atmosphäre der Geschichten auf, arbeiten beispielsweise beim „Amokläufer“ mit Motiven der indonesischen Bilderwelt, aber ebenso bei den Portraits der Kolonialherrschaften mit Elementen des Jugendstils und Art déco. Über die Arbeit Hahns mache man sich am besten selbst ein Bild, direkt hier: www.hahn-illustration.de

Informationen zum Buch:

Stefan Zweig
Der Amokläufer/Episode am Genfer See
Topalian & Milani, 2019
Hardcover, Großformat, 176 Seiten,
durchgehend illustriert von Michael Hahn, 28,00 Euro
ISBN: 978-3-946423-07-2


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AEGIS: Der Buchhändler als Lotse, Ratgeber und Verführer

Ein Plädoyer für unabhängige Buchhandlungen: Rasmus Schöll zeigt bei “Aegis” in Ulm, was ein guter Buchhändler vermag.

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Bücher bieten Vitamine für das Hirn – liebevoll arrangiert werden bei Aegis auch die antiquarischen kleinen Kostbarkeiten. Alle Bilder: Birgit Böllinger

„Das Geheimnis unseres Erfolges war, dass wir die Buchhandlung zu einem magischen Ort machen wollten, der sich von anderen abhob und in dem schon der Kauf eines Buches zu einem aufregenden Erlebnis wurde. Das war von Anfang an unser Ziel, und je mehr wir uns in die Idee vertieften, desto mehr traf es zu. (…) Und so wurde der Laden – nicht weil wir uns das so ausgemalt hatten, sondern weil Bücher zu verkaufen einfach etwas Persönliches ist – zu einem sehr persönlichen Ort.“

Madge Jenison, „Sunwise Turn“


Neulich war ich mit einer Bekannten beim Bummeln in der Fußgängerzone einer bayerischen Großstadt. Die Fußgängerzonen sind austauschbar, die Läden überall dieselben. Wir kamen auch an jener Buchhandelskette vorbei, die mittlerweile in jeder Fußgängerzone zu finden ist. Massen von Büchern, gestapelt, in die Regale gepresst, Lagerhaltung. Kein Geist, der da atmen kann. Meine Bekannte sah mich an und seufzte: „Ehrlich, wenn ich das sehe, habe ich schon gar keine Lust mehr, was zu lesen.“

Sie brachte damit etwas zum Ausdruck, was der Börsenverein des Deutschen Buchhandels als einen Kern der Krise sieht:

„Bücher sind jedoch häufig aus dem öffentlichen Diskurs und persönlichen Umfeld verschwunden. Der Austausch über Bücher fehlt, Menschen sind weniger involviert in Buch-Themen und fühlen sich überfordert vom großen Titelangebot. Die Folge: Die Menschen finden am Buchmarkt keine ausreichende Orientierung mehr.“

(Quelle: https://www.boersenverein.de/de/portal/Presse/158382?presse_id=1477382)

Eine Untersuchung über den Buchmarkt führte nun, pünktlich zur Frankfurter Buchmesse, zu Unruhe: 6,4 Millionen potentielle Leser sind in den vergangenen Jahren entschwunden, die Bücherkäufe rückläufig, der Umsatz schrumpft. Aber dennoch werden immer mehr Bücher produziert (von „verlegen“ mag ich bei manchen Titel schon gar nicht mehr sprechen).

Die Verlage zur Selbstbeschränkung aufzufordern, ist wohl naiv und sinnlos. Aber seien wir doch ehrlich: Es wird einfach zu viel veröffentlicht, neu aufgelegt, das Rad dreht sich immer schneller, ein „meisterhaftes Debüt“ jagt das nächste, die gehypten Bücher von gestern landen heute als Remittenten auf dem Tisch der Sonderangebote. In der Masse geht das Gespür für das „besondere“ Buch, für die talentierte Autorin, für die literarische Qualität verloren. Ich meine damit nicht, dass man den Menschen nur noch Joyce und Proust verordnen sollte – Literatur gehört auch nicht in einen Elfenbeinturm, nicht einer literarisch gebildeten Elite vorbehalten. Aber etwas weniger Seichtigkeit, etwas mehr Konzentration auf einige herausragende Titel, die diesen oben genannten Diskurs über viele Schichten hinweg anstoßen könnten, das täte meiner Meinung nach dem Buchmarkt gut. Das Buch wieder zu etwas Besonderem machen – ein blauäugiger Wunsch, ich weiß.

Wer angesichts der Flut an Büchern nicht weiter weiß, der gründe einen Lesekreis – oder wende sich an einen Buchhändler seines Vertrauens. In einer Zeit der Massenproduktion kann er der Lotse sein durch den Bücherdschungel, Orientierung geben, Empfehlungen aussprechen oder den Kunden auch sanft in eine neue Richtung stupsen. Horizonte öffnen. Und im besten Fall wird so das Buch zu einem persönlichen Erlebnis,  die Buchhandlung zum magischen Ort, an dem man über das Buch, über Gott und die Welt diskutieren kann.

2018_Ulm (29)Einer von diesen, die für das Medium Buch brennen, das ist Rasmus Schöll aus Ulm. Vor wenigen Monaten übernahm der 31jährige Buchhändler die Traditionsbuchhandlung „Aegis“ in der Münsterstadt: 1946 eröffnete Ernst Gustav Siegfried Bauer, der im Nationalsozialismus als Widerstandskämpfer jahrelang unter Beobachtung stand, in der Ulmer Altstadt, nahe des Münsters, eine Buchhandlung mit Verlag und Antiquariat. Sein erster Lehrling schrieb Literatur- und Verlagsgeschichte: Siegfried Unseld, der 1959 den Suhrkamp Verlag übernahm. An ihn erinnert auch heute noch einer seiner Briefe, der gerahmt bei Aegis hängt und von der Belesenheit dieses Verlegers und Buchhändlers spricht. Ernst Joachim Bauer, Sohn des Aegis-Gründers, betrieb Laden, Antiquariat und den dazu gehörigen Verlag seit den 1970er Jahren – nun aber, mit 70, wollte er sich zur Ruhe setzen. Zumindest teilweise: Leser bleibt man schließlich immer. Und zudem wird die einst als Filiale in Laichingen (Alb-Donau-Kreis) gegründete Außenstelle zum Stammgeschäft für Bauer, der dort auch lebt.

Eine Buchhandlung übernehmen in der heutigen Zeit? Wo alle Welt von der Krise spricht, wo der Onlinehandel einen großen Teil des Geschäftes dominiert, wo die Ketten vor allem von Bestsellern und Umsätzen mit Artikeln rund ums Buch leben? Wer Rasmus in seinem Laden erlebt, der ahnt: Da muss man sich wohl keine allzu großen Sorgen machen. Da treffen händlerische Kompetenz und literarische Leidenschaft zusammen. An jenem Samstagmorgen, an dem ich „Aegis“ besuche, ist von Krise jedenfalls wenig zu spüren: Die Ulmer schlendern vom Wochenmarkt in der Breiten Gasse mit ihren schönen Läden vorbei, machen Halt im Buchladen, suchen, schnuppern und wollen vor allem auch eins: Gute Beratung. Eine Dame war angetan von einer Empfehlung des Literarischen Quartetts und sucht nun etwas Ähnliches. Eine junge Mutter mit Anhang geht zielstrebig in die Kinderecke. Ein mittelalterlicher Herr weiß eigentlich genau, was er will – aber dann bräuchte er doch noch ein Geschenk, und weil ihm der Tipp zusagt, kauft er das Buch gleich doppelt.

Die beste Kundenbindung, das zeigt sich hier, das ist die passende Beratung: Wenn jemand von einem Lesetipp begeistert ist, dann kommt er wieder. Und Rasmus und seine drei Mitarbeiterinnen sowie Florian L. Arnold, mit dem Rasmus den Verlag „TOPALIAN & MILANI“ betreibt, und der ebenfalls einen Tag in der Woche bei Aegis zu finden ist, wissen, was sie empfehlen: Im Laden steht fast nichts, was sie nicht selbst gelesen haben. “Aber es geht uns nicht darum, die Menschen zu bevormunden – wir haben zwar keinen Sarrazin im Laden, um ein Beispiel zu nennen, aber wer das Buch bei uns bestellen will, bekommt es“, sagt Rasmus. Und natürlich gibt es die Tische mit den Longlist- und Bestseller-Büchern, die gerade im Gespräch sind. Im Geschäft selbst jedoch ist auch viel Fläche dem vorbehalten, was Lesern eben nicht von den einschlägigen Listen entgegenspringt: Viel Literatur aus unabhängigen, kleinen Verlagen, eine Philosophie-Ecke, ein Platz für wunderschöne Künstlerbücher.

Schon räumlich unterscheidet sich „Aegis“ von den Bücherkaufhallen der Fußgängerzonen: Verwinkelt schlaucht sich der Laden in der ersten Ebene um mehrere Ecken. In jeder von diesen sind liebevolle gestalterische Details zu finden, die das Leserherz optisch ansprechen. Während im Erdgeschoß neue Bücher zu finden sind, taucht man im ersten Stock in eine ganz andere Welt ein – durch eine handgemachte Falttür aus Holz betritt man Räume, die den Geist einer anderen Zeit zu atmen scheinen. Hier ist das Antiquariat zu finden. „Durch den Onlinehandel sind ja vor allem die Antiquariate aus unseren Städten verschwunden“, sagt Rasmus. „Man merkt das, wenn man jüngere Leute in der Buchhandlung hierher führt – die haben noch nie ein Antiquariat gesehen, für die ist das ein Erlebnis.“

Der Buchkauf als Erlebnis, wie von Madge Jenison beschrieben: Wo es noch Buchhändler wie Rasmus gibt, ist das noch möglich. Da wird der Buchhändler zum Lotsen, der jedem Kunden den passenden Tipp zu geben mag. Da wird er zum Orientierungsgeber, wenn einen die Auswahl erschlägt. Und manchmal wird er auch zum Verführer – kaufen wollte ich bei meinem Aegis-Besuch „eigentlich“ nur zwei Bücher. Verlassen habe ich den wunderbaren Laden mit einem vollen Rucksack.

Mein Plädoyer lautet: Geht in eure Buchhandlung vor Ort, lasst euch anstecken von Leidenschaft und Belesenheit. Lernt neue literarische Länder kennen – ein guter Buchhändler macht das möglich.

Übrigens: Bald ist wieder die Woche der unabhängigen Buchhandlungen. Eine tolle Aktion. Und wer in und um Ulm herum ist, sollte da – aber auch zu jeder anderen Woche des Jahres – unbedingt einen Abstecher zu „Aegis“ machen.

Kontakt und Information:

Der Buchladen Aegis – https://aegis-literatur.de/

Der Verlag – http://www.topalian-milani.de/

Die Woche der unabhängigen Buchhandlungen – https://wub-event.de/

Arno Tauriinen: Goldgefasste Finsternis

Ein außergewöhnlicher Roman, skurril, absurd und fantasievoll: Das Debüt von Arno Tauriinen, kongenial illustriert von Max. P Häring. Was für ein Spektakel!

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Folge mir“, sagt Luciver und nimmt den Alten unter den Arm, „gehen wir erst einmal etwas trinken – ich kenne ein feines kleines Lokal, unter Straßenniveau, Holzfußböden, raunzige Bedienung und ruhige Beleuchtung … Wein aus den Jahren vor dem letzten Krieg … Da setzen wir uns hin und trinken ein gutes Glas. Der Hofmannsthal ist übrigens auch da, der Altenberg ist bestellt, will auch kommen, wenns ihm möglich ist … Der Grillparzer hat sich schon einen Rausch zusammengetrunken und bestimmt spielen uns ein paar Mozarti eine hübsche Musik …“
„Der Hofmannsthal, der Grillparzer“, stutzt der tote Dichter verblüfft, „die sitzen da im Lokal?“
„Wo sollten sie sonst sitzen“, wundert sich der Teufel über so viel Ungläubigkeit, „in der Hölle etwa?“

Arno Tauriinen, „Goldgefasste Finsternis“, Topalian & Milani Verlag, 2017.

Shakespeare hat es auf den Punkt gebracht: „
Die ganze Welt ist Bühne. Und alle Fraun und Männer blosse Spieler. Sie treten auf und gehen wieder ab, sein Leben lang spielt einer manche Rollen durch sieben Akte hin.“

Doch wer entscheidet, ob wir die Hauptrolle in einer Tragödie spielen, einen bloßen Nebenpart in einem seichten Dramolett haben oder gar prädestiniert sind für das Varieté? Ist Gottvater der große Strippenzieher oder doch sein missratener Sohn, der Höllenhund? Im Fall des Falles wünscht sich mancher insgeheim wohl doch eher Lucifer als Intendanten – da kann im Stück zwar manches höllisch daneben gehen, aber zumindest wird es nicht fad, bis der große Vorhang fällt.

So geschieht es in „Goldgefasste Finsternis“: Ein im positivsten Sinne irres, wahnwitziges, spektakuläres Buch voller Überraschungen, Kapriolen, unvermuteten Volten, bis die Schwärze sich am Ende auch über Lucifer senkt. In diesem „Luftschloss in Prosa“ (so der Untertitel) verwandelt das Theatergenie Lucius Onagre die ganze Welt in ein Theaterstück. Sein Werk “Basilisk” breitet sich über den gesamten Globus aus, vereinnahmt ihn gewissermassen, Mensch, Tier und Fabelwesen werden einverleibt, das ganze Leben wird zum Spiel.

„Zu lange schon.
Zu lange schon ging das alles.
Gott, der in einer kleinen Loge weit über allem
Treiben zur Rechten seines zweiten Sohnes sitzt,
weiß nicht, wie er sich wachhalten soll …

Zu müde ist er von allem Weltentheater, für das man ihm an diesem Abend auch noch ein Billett aufgeschwatzt hat, und nichts von dem, was sich seinen Augen bietet, ist neu, zumindest nicht für ihn.“

Das Spiel des Lebens, das ist hier die Geschichte von Gott und seinem abtrünnigen Sohn, jener Luciver, der mit dem Spektakel eigentlich nur eines will: Die Liebe und Anerkennung seines Vaters. Viel Lärm um nichts? Beileibe nicht! Wer absurde, verspielte Geschichten in der Tradition beispielsweise eines Herzmanovsky-Orlando mag, wer Sinn hat für phantastische Kapriolen und eine Sprache liebt, die geprägt ist von diesem schwarzhumorigen-melancholischen Humor, den vor allem die Wiener beherrschen, der wird diesen Roman goutieren. Zumal neben den eingangs erwähnten Kaffeehausliteraten auch noch Freud und etliche andere Prominente ihren Gastauftritt auf dieser Bühne haben. Angesiedelt in der fiktiven Stadt W., erzählt von einem dritten Mann, glänzt W. alles andere als gülden:

„W., du schöne und ewige Dalle für jenseitssüchtige Verbrecher, Mörder, Lüstlinge, Schabernakkreisende, Physiker und Säulenheilige, Irrwische und Schauspieler, vor allem aber Stadt der vielen Theater, in denen das Volk sich von Tagesanbruch bis in die späte Nacht das Herz aus dem Leib reißt und anderem Volk zum Fraß vorwirft. Stadt, in der alles, was nicht gesagt werden darf auf Litfaßsäulen und Plakatwänden erscheint … und doch niemals gelesen wird.“

Nun, ich kann nur empfehlen: Lest diesen Roman! Und schaut und staunt: Die Reise durch die goldgefasste Finsternis wurde kongenial illustriert von Max P. Häring, dessen Stil und Sinn für Phantastik wie geschaffen scheint für dieses Welttheater in Prosa. Für „Topalian & Milani“ stattete er bereits den ebenfalls wunderschönen Band „Die römische Saison“ von Lutz Seiler mit seinen Zeichnungen aus.

Bleibt am Ende, bevor der Vorhang sich senkt, nur noch die Frage nach dem eigentlichen Strippenzieher: Denn Arno Tauriinen, der so wenig österreichisch anmutende Name, ist ein Pseudonym. Dahinter versteckt sich, so der Verlag, ein in Wien geborener Neurologe, der Raubtierzähne, vertrocknete Kakteen und alte Bücher sammelt. „Goldgefasste Finsternis“ sei sein erstes veröffentlichtes Buch, ein „Exzerpt aus vielen hunderten Notizen, Zetteln und Typoskripten.“ Ich habe da zwar eine Vermutung – doch möge das Pseudonym lange ungelüftet bleiben, die Geschichte um Arno Tauriinen ist zu gut, wahr oder nicht.

PS: Als ich am Schreiben dieser Rezension war, erreichte mich die Nachricht, dass „Goldgefasste Finsternis“ auf der Hotlist 2017 der unabhängigen Verlage ist. Meine Stimme hat das Buch:
https://www.hotlist-online.com/

Verlagsinformationen zu „Goldgefasste Finsternis“:
http://www.topalian-milani.de/portfolio/arno-tauriinen-goldgefasst/

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Lutz Seiler: Die römische Saison

Römisches Abenteuer: Lutz Seiler erzählt von Schreibblockaden in der Villa Massimo und Fußballfreuden in der ewigen Stadt.

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Bild von Mauricio A. auf Pixabay

„Wozu die Qual? Der Gedanke, alles sein zu lassen, stand im Raum und beruhigte mich. Ich sah Rom, und Rom war der Ort, wo das Schreiben aufgegeben werden konnte. Auf dem Rückweg von V. zur Villa Massimo machte ich einen Umweg über die Via Aurelia. Ich rannte nicht mehr, der Ausblick über die Stadt und den Fluss wurde mir gereicht wie zur Belohnung nach Wochen sinnloser Qual, eine absurde Verkehrung der Dinge, sicher, aber das war egal. Noch einmal der sagenhafte Petersplatz, die gewaltige Kuppel, dann die Piazza del Risorgimento mit einem Reiterstandbild, ein Denkmal für die Arma dei Carabinieri.”

Lutz Seiler, „Die römische Saison“, Topalian & Milani Verlag, 2016.

Ingeborg Bachmann sagte in einem Fernsehinterview sinngemäß, in Rom sei sie eine bessere Wienerin. Zu jener Zeit schrieb sie bereits an „Malina“, jenem Roman über eine Schriftstellerin, die nicht am Schreiben, sondern am Leben zerbricht.
Aus einer räumlichen Distanz zu den Herkunftsräumen zu schreiben – manchen, wie der Bachmann, ist erst oder auch nur dieses möglich. Mit einigem Abstand meint man, man könne dieses einleiten:

„Phase 1: Rekonstruktions- und Vergegenwärtigungsarbeit, Aufbereitung der Erlebnismaterials, eine Art Erinnungsmaschinerie.“

Doch da sitzt Lutz Seiler, in diesem riesigen Atelier, einst für einen Bildhauer eingerichtet, in der Villa Massimo, verloren in dem riesigen Raum, verloren in der Fülle des Material, und es geht: nichts. Endlich hat er, was sich jeder Schriftsteller wünscht: Zeit, viel Zeit, um an seinem ersten Roman zu schreiben. Die Villa Massimo, eigentlich ein Ruhepol in der Hitze und dem Trubel der italienischen Metropole. Doch wer selbst schreibt, weiß, dass, hat einen erst das Monster namens „Blockade“ im Griff, alles zur Ablenkung und Störung gereichen kann: Der Fleck an der Wand. Die makellos weiße Wand. Die Größe des Raums. Die Enge des Raums. Die Stille. Die Geräusche der Gärtner vor dem offenen Fenster. Lutz Seiler will „Von Rom nach Hiddensee“ (so der Name der ersten Erzählung in diesem Buch) und kommt nicht weit.

„Und Rom, Roma, Roman – klang das etwa nicht nach einer beinah natürlichen Steigerung der Dinge? Stattdessen Krise. Herzrasen, Hitze, Schweißausbrüche und Schlaflosigkeit, Magenkrämpfe und zu hoher Blutdruck – was folgte, war die rasche Entfaltung des kompletten Spektrums meiner hypochondrischen Möglichkeiten, ähnlich übertrieben, wie das Scheitern des Romans mit dem Einsturz des Kolosseums zu vergleichen, der im Aberglauben der Römer den Untergang Roms und dieser wiederum das Ende der Zeiten bedeutet: lächerlich – und nein, kein Vergleich, natürlich nicht. Aber ein Schriftsteller, der nicht schreibt, ist nichts wert, vor allem vor sich selber nicht.“

Das Kolosseum ist nicht eingestürzt, Rom bleibt die „ewige Stadt“ und der Roman wurde, wie wir wissen, vollendet – grandios vollendet: „Kruso“, der erste Roman des Lyrikers und Erzählers, erschien 2014 und erhielt den Deutschen Buchpreis. Ein poetisches, sprachgewaltiges Buch – mit viel römischen Schweiß und Schlaflosigkeit erkauft. Eine begeisterte Besprechung von „Kruso“ findet sich beim „Kaffeehaussitzer“ (“Im Rausch der Sprache”).

Wie Lutz Seiler seine Schreibblockade überwand? Durch Loslassen, durch Leben. Irgendwann während seines Aufenthaltes in Rom anno 2011 beschließt Seiler, nicht mehr hinter dem symbolträchtigen Schrank, den er sich im Atelier sozusagen als Schutzwall zum Schreibtisch gerückt hatte, zu sitzen. Er geht raus, erkundet die Stadt, begleitet den Sohn Viktor zum Fußballtraining (dieser Beschäftigung ist die zweite, herrlich amüsante Erzählung des Bandes, „Die römische Saison“, gewidmet). „Nebenbei“ beginnt er wieder zu schreiben und beinahe unmerklich werden zufällige Begebenheiten zur Inspiration, durch ein Geräusch, einen Zufall, verwandelt sich ein Ort in einem Augenblick „in einen Ort des Schreibens“.

Ein Freiluftkonzert, kurz übertönt von einem landenden Flugzeug, „- es war das übliche Getöse Roms, Krach gegen Kunst“, und in diesem Augenblick überschwappen Ostseewellen vor dem inneren Auge Lutz Seilers die Hosenbeine des russischen Generals, Krusos Vater, der seinen Sohn heimholen will:

„Und da stand er nun, in der Fülle seiner Macht, die jetzt gebrochen war auf die vielfältigste Weise. Ein Bild, das augenblicklich die ganze Geschichte enthielt, ein Bild, dem ich absolut vertrauen konnte, ein Portal, durch das ich gehen konnte, hinein in den Stoff dieser Zeit.“

Schöner Beinahe-Scheitern: Poetisch, humorvoll, nicht ohne Selbstironie erzählt Lutz Seiler von den Plagen des Schriftstellerdaseins. Eine Erzählung, die nicht nur Schreibende anspricht – denn sie beinhaltet eigentlich eine Allerweltsweisheit: Erzwingen lässt sich nichts. Erst ohne äußeren und inneren Druck wächst Kreativität. When in Rome, do as the romans do ….

Beinahe ein stilistisches-sprachliches Gegenstück ist in diesem Band die zweite, oben bereits erwähnte Erzählung – fast schon eine Glosse über italienische Bürokratie, italienischen Fußballkult, das Geheimnis des „Catenaccios“. Bravo, Lutz! Durch diesen Text versteht man die Tränen Buffons noch einmal besser!

Zu einem Schmuckstück wird dieser Band des noch jungen Ulmer Verlags „Topalian & Milani“ ebenso durch die Gestaltung – das weckt Sammlerinstinkte und macht die Hoffnung auf mehr (im Herbst erscheinen in dieser Reihe zwei Novellen von Stefan Zweig). Den beiden Seiler-Erzählungen sind beigestellt Illustrationen von Max P. Häring (hier kann man sich einen Eindruck von seinen Arbeiten machen: http://www.maxhaering.de/), weit mehr als Ergänzungen zum Text, eigenständige Kunstwerke, die Rom in einem anderen Licht erscheinen lassen …

Zudem ist das gebundene Buch gedruckt auf handschmeichlerischem Munken-Papier, hochwertig und einfach schön gemacht!

Eine weitere Besprechung findet sich bei Con=Libri:
https://litos.wordpress.com/2016/07/01/rom-oder-roman/

Zur Verlagsseite geht es hier: http://www.topalian-milani.de/

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