Der erst vor wenigen Tagen mit dem Alfred-Döblin-Preis 2023 ausgezeichnete Schriftsteller und Philosoph Jan Kuhlbrodt reflektiert in seinem aktuellen Buch “Schrift unter Tage” über die Möglichkeiten des Schreibens. Essays über Selbstbehauptung, Schrift und Sprache als Ausgang in die Welt, das Schreiben als Sichtbarmachung.
Der Philosoph und Gastprofessor des Deutschen Literaturinstituts Leipzig Jan Kuhlbrodt, geboren 1966 in Chemnitz, sitzt seit einigen Jahren im Rollstuhl. Diese physische Disposition verstärkt eine Poetik, die er in seinen Essays verfolgt: Schrift eröffnet einen Ausgang in die Welt, dort wo sie Text bildet, aber auch Bild ist. So ist Schrift Ausweg aus einem politischen Eingeschlossensein, aber auch aus einer Situation, in der das Eingeschlossensein gesundheitlich bedingt ist. Schreiben ist in beiden Situationen Selbstbehauptung, Vergewisserung der eigenen Anwesenheit in der Welt und zwischen den Texten. Kuhlbrodts Texte bewegen sich mit Hamann und Derrida in der jüngeren und jüngsten Philosophiegeschichte, blicken bei Elke Erb, Felix Philipp Ingold und Oleg Jurjew auf Gedichte oder eine in Romanen vorgestellte Welt, sie entwerfen Thesen, um sich in der papiernen realen Welt bewegen zu können. Und sie setzen das Gelesene und Geschriebene in einen historischen, aber auch biografischen Kontext.
Zum Autor:
Jan Kuhlbrodt, geboren 1966, studierte Philosophie in Frankfurt am Main und Literatur am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, lehrte dort auch als Dozent und Gastprofessor. Er lebt als freier Schriftsteller und Herausgeber in Leipzig. Für einen Auszug aus seinem derzeit entstehenden Roman “Krüppelpassion oder Vom Gehen”, der im September im Gans Verlag erscheint, wurde er im Mai 2023 mit dem Alfred-Döblin-Preis 2023 ausgezeichnet.
Stimmen zum Buch:
“Eine wahre Fundgrube für Leser:innen, die eigene Denkhorizonte erweitern möchten.” – B. R. M. Ulbrich in “Bennads Buchtipps”
“Eine Reihe eindringlicher Essays zur literarischen, künstlerischen und philosophischen Kultur von Hamann und Hegel bis hin zu Schestow, Pound, Levinas und zu zeitgenössischen Autoren.” – Felix Philipp Ingold bei Planetlyrik
“Schreibt Kuhlbrodt über (Carlfriedrich) Claus, und führt in seinem Essay aus, wie Sprache und Schrift Landschaften bilden. Man sollte das unbedingt lesen, wie auch die anderen Texte, eben das ganze Buch. Unter anderem, um zu sehen, wie klug die einzelnen Texte aufeinanderfolgen. Von der Erläuterung, wie wichtig das Übertreten von Regeln für die Kunst ist, geht es in den folgenden „Thesen zum Reim“ um Sinn und Zweck der gebundenen Rede.” – Elke Engelhardt bei “Signaturen”.
Lesezeichen sind kurze Zitate von Autor*innen über das Leben, Lesen, Schreiben. Gedankenanstöße, Diskussionsstoff, Merkmale.
“Wenn ich erklären soll, warum für mich ein Buch rigoros ist oder flach, kann ich nur auf die Dichte der Stellen hinweisen, die im Kopf den Irrlauf hervorrufen, Stellen, die mir die Gedanken sofort dorthin ziehen, wo sich keine Worte aufhalten können. Je dichter diese Stellen im Text sind, um so rigoroser ist er, je schütterer sie stehen, um so flacher ist der Text. Das Kriterium der Qualität eines Textes ist für mich immer dieses eine gewesen: kommt es zum stummen Irrlauf im Kopf oder nicht.”
Aus: “Der König verneigt sich und tötet”, Herta Müller, Hanser Verlag, 2003.
Was Sprache ausmacht, wie Muttersprache den Menschen prägt, was Worte verschweigen, was Schweigen sagt, was Reden und Schreiben in einer Diktatur bedeutet, um all dies dreht sich dieser Band der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, angesiedelt zwischen Autobiographie und Essay. Ein Grundriss ihrer Poetologie, ein Zeugnis davon, wie ihre Dichtkunst geprägt wurde durch das Aufwachsen in einer Gesellschaft, in der das Schweigen alles überlagerte. Und der Text einer Schriftstellerin, die bei mir immer das eine erreicht: den stummen Irrlauf im Kopf in Gang zu setzen.
Unerwartet und viel zu früh verstarb im Dezember 2022 der Lyrikkritiker und Essayist Michael Braun. “Man kann behaupten, dass er Deutschlands wichtigster Lyrikkritiker war”, würdigte ihn Gregor Dotzauer in einem Nachruf. Ich bin sehr dankbar, dass Michael Braun auch hier in dieser Reihe über seinen Klassiker in seiner unnachahmlichen Weise geschrieben hat.
Mein Klassiker von Michael Braun:
Im Zeitalter der beschleunigten Kommunikationsprozesse und des universellen Kommentar-Gezappels auf Facebook und Twitter ist das Schweigen zum Störfall geworden. In der Dichtung von Ilse Aichinger ist das Schweigen jedoch „die Hauptsache“. „Ich habe eigentlich nach langer Zeit erkannt“, so hatte die Dichterin 1993 erklärt, „dass das Schweigen die Hauptsache ist. Ich bin für Langsamkeit, für Verschwiegenheit, dass man nur dann schreibt, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt.“ Der Glaube daran, dass es notwendig ist, den Wörtern „die Lautlosigkeit zurückzugewinnen, aus der sie entstanden sind “ – das ist der Ausgangspunkt jeder substantiellen Poetik, das ist die Voraussetzung für einen gültigen Satz.
Mit Ilse Aichinger, am 1. November 1921 in Wien geboren, ist die letzte lebende Zeugin der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur am 11. November 2016 gestorben. Über ihrem Leben lag früh eine Todesdrohung. Da sie nach den Kriterien der Nationalsozialisten als „Halbjüdin“ galt, wuchs sie in Wien unter schwierigsten Bedingungen auf, immer in Gefahr, von den neuen Machthabern nach 1938 deportiert und ermordet zu werden. Nur mit viel Glück überlebte sie mit ihrer Mutter, einer jüdischen Ärztin, die Barbarei. Vor ihren Augen wurde ihre Großmutter 1942 in Wien verschleppt und dann später im Vernichtungslager Minsk ermordet. Diese Erfahrung der fortdauernden Todesdrohung hat Ilse Aichinger das Sprachvertrauen geraubt.
Ihr Buch „Schlechte Wörter“, das erstmals 1976 erschien, ist zu meinem Lebensbuch geworden, zu meinem poetischen Evangelium. Es müsste zur Pflichtlektüre für alle literarisch Ambitionierten erklärt werden. Denn dem bewusstlosen, reflexhaften Gebrauch der Sprache, dem Herumfuchteln mit den instrumentalisierten, ideologisch verseuchten Wörtern wird hier der Boden entzogen. Ilse Aichingers Schreiben vollzieht den poetischen Widerstand gegen eine Sprache der Lüge, die stets dort beginnt, wo man sich den gefälligen Wörtern, den verführerischen Großbegriffen überlässt. Der Titeltext des Bandes „Schlechte Wörter“ beginnt daher mit einem Misstrauensvotum gegen die „besseren Wörter“: „Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr. ‚Der Regen, der gegen die Fenster stürzt.‘ Früher wäre mir da etwas ganz anderes eingefallen. Damit ist es jetzt genug. ‚Der Regen, der gegen die Fenster stürzt.‘ Das reicht.“ In einem späteren Buch, dem „Journal des Verschwindens“ (in „Film und Verhängnis“, S. Fischer Verlag, 2001), deutete Aichinger an, sie wolle selbst eigentlich nicht existieren, sie wolle verschwinden. Sie möchte das nachvollziehen, was ihre Angehörigen unfreiwillig getan haben, als sie ermordet wurden. Schon in ihrem phänomenalen Aufzeichnungsbuch „Kleist, Moos, Fasane“ hatte sie 1985 ihren Weg vorgezeichnet: „Schreiben ist sterben lernen.“ Und: „Die Hölle himmelt mich ein.“
Michael Braun
Ilse Aichinger: Schlechte Wörter. S. Fischer Verlag (Fischer Taschenbuch), Frankfurt am Main 1976 ff. 112 Seiten, 5,95 Euro.
Weil es so ist, Sagst du, Wenn nichts mehr so ist.
Reine Ansichtssache, Sagst du, Und siehst mich nicht an.
Alles eine Frage der Perspektive, Sagst du, Als ob wir eine hätten.
Maike Bellmann
Schon oft genug war ich nah daran, den einen oder anderen Social Media-Kanal, mit dem der Blog verlinkt ist, zu kappen. Zu viel Informationsüberreizung, zu viel Desinformation und in diesen Zeiten auch viel zu viel üble Postings, die an der Menschheit zweifeln lassen.
Und dann, mitten in dieser Flut, finden sich doch die kleinen Perlen, bei denen sich das Herausfischen lohnt. So folge ich schon einige Zeit der Lyrikerin Maike Bellmann, deren Gedichte mich immer wieder zum Innehalten, zum Nachdenken und zum Schmunzeln bringen auf Facebook. Schon länger spricht sie davon, einen Blog zu eröffnen – ich hoffe sehr darauf, das Medium wäre mir lieber. Und so kommen derzeit leider nur ihre F****book-Freunde in den Genuss des Mitlesens.
An den obigen Zeilen blieb ich gestern lange hängen: Das Gedicht finde ich hervorragend, es sprang mich förmlich an – kein Wunder, mag ich doch auch die Arbeiten von Erich Fried sehr in ihrer nur scheinbaren Schlichtheit und fast schon nüchternen Ausdrucksweise. Und dennoch: Dieses Spiel mit Wörtern und Sprache, die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen – das ist frappant, fein gesponnene Zurückhaltung.
Ich ziehe meinen Hut vor Maikes Gedichten. Und ein großes Danke schön an Maike, dass ich dies hier veröffentlichen durfte! Wer mehr davon lesen will, kann dieses derzeit hier tun:Maike Bellmann. Und wer wie ich darauf hofft, dass sie künftig auch auf einem Blog veröffentlicht, der soll dies doch bitte in den Kommentaren kundtun.
Joseph Mitchell, der Chefreporter des New Yorker, war schon zu Lebzeiten legendär. Seine Reportagen waren mehr als das, waren Literatur.
Bild: (c) Michael Flötotto
Mein Bekannter Mr. Hugh. G. Flood, ein zäher, dreiundneunzigjähriger ehemaliger Abbruchunternehmer mit schottisch-irischen Wurzeln, erklärt gerne, dass er felsenfest entschlossen ist, bis zum Nachmittag des 27. Juli 1965 zu leben, wenn er hundertfünfzehn Jahre alt wird. „Mehr will ich gar nicht“, sagt er. „Ich will nur hundertfünfzehn werden. Das reicht mir.“
Joseph Mitchell. „Old Mr. Flood. Von Fischessen, Whiskey, Tod und Wiedergeburt“
Das nenne ich Glück. Zumindest Leserglück. Ein Glückstreffer: Die Reportagen des Joseph Mitchell, die der Diaphanes Verlag seit einiger Zeit in einer Reihe herausgibt. Erstmals sind dadurch die Texte dieses journalistischen Urgesteins der USA in Deutsch zu lesen. Das jüngste Buch in dieser Reihe, „Old Mr. Flood“ versammelt drei Reportagen aus den 1940er Jahren. Diese gehen schon stilistisch weit über das hinaus, was bei uns gewöhnlich als Reportage gewertet wird – sie sind literarische Erzählungen. Zudem ist die Titelfigur, Old Mr. Flood, fiktiv: Eine Type, angelehnt an die Originale, die der Reporter bei seinen Streifzügen in New York kennenlernte.
Herrscher des Fischmarkts in Manhattan
Old Mr. Flood ist „klein und runzlig“, hat wachsame, eisblaue Augen und ist stets überaus korrekt, wenn auch altmodisch gekleidet. Und er ist der heimliche Herrscher des Fulton Fish Markets in Manhattan. Obwohl selbst nicht im Fischhandel tätig gewesen, weiß keiner so viel über Fische und Muscheln wie er. Man kann gut und gern behaupten: Sein ganzes Leben dreht sich um nichts anderes als Fische. Er wohnt in einem „verschlafenen Hafenhotel“, wo er abends mit seinen Kumpels, mehr oder weniger noch knackig und auf den Beinen, über Fische spricht. Tagsüber treibt er sich auf dem Markt herum, kontrolliert die Ware, führt Pläuschchen mit den Händlern, hält sich auf dem neuesten Stand über Fischfanggebiete und die jüngsten Fänge, testet die Fischlokale der Gegend und setzt – vor allem wenn er mit seinem Reporter-Freund zusammenkommt – die phänomenalsten Fischlegenden in die Welt.
Vorbild für Generationen amerikanischer Reporter
Das alles ist so lebendig und bildhaft geschildert, man wähnt sich beim Lesen mittendrin im Geschehen. Wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film mit einem Walter Matthau als brummiger, aber liebenswerter Hauptfigur. Der Geruch des Marktes, der Geschmack von Salzwasser, die Geräusche des Hafens – sie bilden den sinnlichen Hintergrund beim Lesen. Das bewirkt vor allem die direkte, schwungvolle und bildliche Sprache, die Joseph Mitchell, Vorbild für Generationen amerikanischer Reporter, eindrucksvoll beherrschte. Er erweckte Wörter zum Leben, ließ aus Sätzen Bilder werden und würzte dies noch unnachahmlich mit einer guten Dosis Humor:
Mr. Flood warf einen Blick darauf und sagte: „Oh Gott, was ist das? Ist das einer von diesen Schreiberlingen, die sich in den Zeitungen über Restaurants ausbreiten und vor Begeisterung nicht mehr einkriegen, egal was man ihnen vorsetzt? Jede Zeitung hat inzwischen einen, der über Restaurants schreibt, einen Experten, der seine Meinung zum Besten gibt, und wenn er arbeitslos wär und in ein Restaurant gehen und um eine Stelle bitten würde, dieser Kochexperte, dieser Alleswisser mit seiner ganzen Erfahrung, dann würden sie ihn nicht mal die Kartoffeln für den Eintopf schälen lassen.“
„Der Herr ist eben ein Gurmet“, sagte Mr. Murchison. „Komm schon, lies vor, was er schreibt.“ Mr. Flood las ein, zwei Absätze. Dann grunzte er und reichte mir den Artikel. „Gott helf uns mein Sohn“, sagte er. „Lesen Sie.“
Mr. Beebe beschrieb in der Kolumne eine Mahlzeit, die von Edmond Berger, dem Chef de cuisine des Colony Restaurant, für ihn und einen Freund „aufgefahren“ worden war. Ausführlich erging er sich über das Menü. Ein Gang, der Fischgang, war „Filet de Sole en Bateau Beebe“. „Die Seezunge, von Chef Berger anlässlich unseres Mahls ersonnen und liebenswürdigerweise auf den Namen des Verfassers dieser Zeilen getauft“, schrieb Mr. Beebe, „war ein delikates Filet, angerichtet auf einer halben gebackenen Banane, ein Trick, den man sich merken sollte.“ „Grundgütiger!“, sagte Mr. Flood.
„Hört sich gut an, was?“, fragte Mr. Murchison. „Ne halbe gebackene Bannaneh mit nem delikaten Stück Flunder drauf. Warum hat er nicht gleich noch ne rote Schleife drumgebunden, wenn er schon dabei war?“
„Als Nächstes legen sie noch eine Kirsche auf gekochten Kabeljau“, sagte Mr. Flood. „Wie wär`s damit, ein delikates Stück Kabeljau, auf dem eine Kirsche angerichtet ist?“ Die beiden Männer gackerten.
Zumal Mr. Flood eine fiktive Figur war, werden wir nie erfahren, ob er sein Ziel, den 115. Geburtstag zu feiern, mittels der von ihm propagierten Fischdiät erreichte. Doch zuzutrauen wäre es dieser Figur, wäre sie denn leibhaftig gewesen, durchaus: Soviel Lebensfreude und Lebenskraft strahlen diese Menschen aus, von denen der Reporter Mitchell erzählte. Es sind, so schrieb Jörg Häntzschel in einer Besprechung in der Süddeutschen Zeitung, „Lebensreportagen“.
Kraftvolle Reportagen aus New York
Zwar handeln sie von einer Welt, die so inzwischen nicht mehr existiert – nicht mehr das Alte-Männer-Hotel, nicht mehr der Fischmarkt. Und sie handeln von Menschen, die nicht mehr leben. Aber die Erzählungen, diese selbst, sie bleiben lebendig. Und das ist der Kraft des Erzählers zu verdanken. Ein wenig neidisch schielt man da schon über den großen Teich auf diese journalistische Kultur der kraftvollen, erzählerischen Reportage, die bei uns im Grunde mit den großen Namen der Weimarer Republik – Kisch und Roth, um nur zwei zu nennen – untergegangen ist.
„Old Mr. Flood“ kann ich getrost jedem empfehlen, der seine Freude hat an hervorragend geschriebenen Reportagen UND Erzählungen. Mitchell führt einfach vor, wie man eine Geschichte schreibt, wie man Erzählungen vorantreibt. Und seinen Lesern damit große Freude bereitet. Dazu muss man nicht einmal unbedingt Fischliebhaber sein.
Joseph Mitchell selbst war wohl auch so ein Original wie die von ihm beschriebene Gang der alten Männer: Er war Mitbegründer des New Journalism, Chefreporter des New Yorker und wurde dabei zur lebenden Legende. 1964 schrieb er mit „Joe Gold`s Secret“ seine letzte Reportage. Danach veröffentlichte er keine einzige Zeile mehr, ging aber trotzdem bis zu seinem Tod 1996 jeden Tag in die Redaktion.
Bibliographische Angaben:
Joseph Mitchell Old Mr. Flood Geschichten von Fischessen, Whiskey, Tod und Wiedergeburt Übersetzt von Sven Koch und Andrea Stumpf Diaphanes Verlag, 2017