JAN KUHLBRODT: Schrift unter Tage

Der erst vor wenigen Tagen mit dem Alfred-Döblin-Preis 2023 ausgezeichnete Schriftsteller und Philosoph Jan Kuhlbrodt reflektiert in seinem aktuellen Buch „Schrift unter Tage“ über die Möglichkeiten des Schreibens. Essays über Selbstbehauptung, Schrift und Sprache als Ausgang in die Welt, das Schreiben als Sichtbarmachung.

Der Philosoph und Gastprofessor des Deutschen Literaturinstituts Leipzig Jan Kuhlbrodt, geboren 1966 in Chemnitz, sitzt seit einigen Jahren im Rollstuhl. Diese physische Disposition verstärkt eine Poetik, die er in seinen Essays verfolgt: Schrift eröffnet einen Ausgang in die Welt, dort wo sie Text bildet, aber auch Bild ist. So ist Schrift Ausweg aus einem politischen Eingeschlossensein, aber auch aus einer Situation, in der das Eingeschlossensein gesundheitlich bedingt ist. Schreiben ist in beiden Situationen Selbstbehauptung, Vergewisserung der eigenen Anwesenheit in der Welt und zwischen den Texten. Kuhlbrodts Texte bewegen sich mit Hamann und Derrida in der jüngeren und jüngsten Philosophiegeschichte, blicken bei Elke Erb, Felix Philipp Ingold und Oleg Jurjew auf Gedichte oder eine in Romanen vorgestellte Welt, sie entwerfen Thesen, um sich in der papiernen realen Welt bewegen zu können. Und sie setzen das Gelesene und Geschriebene in einen historischen, aber auch biografischen Kontext.

Zum Autor:

Jan Kuhlbrodt, geboren 1966, studierte Philosophie in Frankfurt am Main und Literatur am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, lehrte dort auch als Dozent und Gastprofessor. Er lebt als freier Schriftsteller und Herausgeber in Leipzig. Für einen Auszug aus seinem derzeit entstehenden Roman „Krüppelpassion oder Vom Gehen“, der im September im Gans Verlag erscheint, wurde er im Mai 2023 mit dem Alfred-Döblin-Preis 2023 ausgezeichnet.


Stimmen zum Buch:

„Eine wahre Fundgrube für Leser:innen, die eigene Denkhorizonte erweitern möchten.“ – B. R. M. Ulbrich in „Bennads Buchtipps“

„Eine Reihe eindringlicher Essays zur literarischen, künstlerischen und philosophischen Kultur von Hamann und Hegel bis hin zu Schestow, Pound, Levinas und zu zeitgenössischen Autoren.“ – Felix Philipp Ingold bei Planetlyrik

„Schreibt Kuhlbrodt über (Carlfriedrich) Claus, und führt in seinem Essay aus, wie Sprache und Schrift Landschaften bilden. Man sollte das unbedingt lesen, wie auch die anderen Texte, eben das ganze Buch. Unter anderem, um zu sehen, wie klug die einzelnen Texte aufeinanderfolgen. Von der Erläuterung, wie wichtig das Übertreten von Regeln für die Kunst ist, geht es in den folgenden „Thesen zum Reim“ um Sinn und Zweck der gebundenen Rede.“ – Elke Engelhardt bei „Signaturen“.

Tobias Lehmkuhl stellt den Band im Büchermarkt im Deutschlandradio vor


Informationen zum Buch:

Jan Kuhlbrodt
Schrift unter Tage. Essays und Kolumnen
Gans Verlag, 2023
Gegenwarten (Wissenschaft), Band 2 | 172 Seiten | Klappenbroschur, fadengebunden
€ 29,90 [D] | € 30,80 [A]
ISBN 978-3-946392-29-3
Das Cover ziert eine Zeichnung des Chemnitzer Künstlers Carlfriedrich Claus.
https://www.gansverlag.de/

Leseprobe aus dem Buch.


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Gans Verlag.



Lesezeichen von: Herta Müller

Lesezeichen sind kurze Zitate von Autor*innen über das Leben, Lesen, Schreiben. Gedankenanstöße, Diskussionsstoff, Merkmale.

„Wenn ich erklären soll, warum für mich ein Buch rigoros ist oder flach, kann ich nur auf die Dichte der Stellen hinweisen, die im Kopf den Irrlauf hervorrufen, Stellen, die mir die Gedanken sofort dorthin ziehen, wo sich keine Worte aufhalten können. Je dichter diese Stellen im Text sind, um so rigoroser ist er, je schütterer sie stehen, um so flacher ist der Text. Das Kriterium der Qualität eines Textes ist für mich immer dieses eine gewesen: kommt es zum stummen Irrlauf im Kopf oder nicht.“

Aus: „Der König verneigt sich und tötet“, Herta Müller, Hanser Verlag, 2003.

Was Sprache ausmacht, wie Muttersprache den Menschen prägt, was Worte verschweigen, was Schweigen sagt, was Reden und Schreiben in einer Diktatur bedeutet, um all dies dreht sich dieser Band der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, angesiedelt zwischen Autobiographie und Essay. Ein Grundriss ihrer Poetologie, ein Zeugnis davon, wie ihre Dichtkunst geprägt wurde durch das Aufwachsen in einer Gesellschaft, in der das Schweigen alles überlagerte.
Und der Text einer Schriftstellerin, die bei mir immer das eine erreicht: den stummen Irrlauf im Kopf in Gang zu setzen.

#MeinKlassiker (3): Ilse Aichinger – poetischer Widerstand gegen eine Sprache der Lüge

Literaturkritiker Michael Braun bezeichnet es als sein „Lebensbuch“, sein poetisches Evangelium: „Schlechte Wörter“ von Ilse Aichinger.

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Bild von Peter H auf Pixabay

Unerwartet und viel zu früh verstarb im Dezember 2022 der Lyrikkritiker und Essayist Michael Braun. „Man kann behaupten, dass er Deutschlands wichtigster Lyrikkritiker war“, würdigte ihn Gregor Dotzauer in einem Nachruf. Ich bin sehr dankbar, dass Michael Braun auch hier in dieser Reihe über seinen Klassiker in seiner unnachahmlichen Weise geschrieben hat.

Mein Klassiker von Michael Braun:

Im Zeitalter der beschleunigten Kommunikationsprozesse und des universellen Kommentar-Gezappels auf Facebook und Twitter ist das Schweigen zum Störfall geworden. In der Dichtung von Ilse Aichinger ist das Schweigen jedoch „die Hauptsache“. „Ich habe eigentlich nach langer Zeit erkannt“, so hatte die Dichterin 1993 erklärt, „dass das Schweigen die Hauptsache ist. Ich bin für Langsamkeit, für Verschwiegenheit, dass man nur dann schreibt, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt.“ Der Glaube daran, dass es notwendig ist, den Wörtern „die Lautlosigkeit zurückzugewinnen, aus der sie entstanden sind “ – das ist der Ausgangspunkt jeder substantiellen Poetik, das ist die Voraussetzung für einen gültigen Satz.

Mit Ilse Aichinger, am 1. November 1921 in Wien geboren, ist die letzte lebende Zeugin der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur am 11. November 2016 gestorben. Über ihrem Leben lag früh eine Todesdrohung. Da sie nach den Kriterien der Nationalsozialisten als „Halbjüdin“ galt, wuchs sie in Wien unter schwierigsten Bedingungen auf, immer in Gefahr, von den neuen Machthabern nach 1938 deportiert und ermordet zu werden. Nur mit viel Glück überlebte sie mit ihrer Mutter, einer jüdischen Ärztin, die Barbarei. Vor ihren Augen wurde ihre Großmutter 1942 in Wien verschleppt und dann später im Vernichtungslager Minsk ermordet. Diese Erfahrung der fortdauernden Todesdrohung hat Ilse Aichinger das Sprachvertrauen geraubt.

Ihr Buch „Schlechte Wörter“, das erstmals 1976 erschien, ist zu meinem Lebensbuch geworden, zu meinem poetischen Evangelium. Es müsste zur Pflichtlektüre für alle literarisch Ambitionierten erklärt werden. Denn dem bewusstlosen, reflexhaften Gebrauch der Sprache, dem Herumfuchteln mit den instrumentalisierten, ideologisch verseuchten Wörtern wird hier der Boden entzogen. Ilse Aichingers Schreiben vollzieht den poetischen Widerstand gegen eine Sprache der Lüge, die stets dort beginnt, wo man sich den gefälligen Wörtern, den verführerischen Großbegriffen überlässt. Der Titeltext des Bandes „Schlechte Wörter“ beginnt daher mit einem Misstrauensvotum gegen die „besseren Wörter“: „Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr. ‚Der Regen, der gegen die Fenster stürzt.‘ Früher wäre mir da etwas ganz anderes eingefallen. Damit ist es jetzt genug. ‚Der Regen, der gegen die Fenster stürzt.‘ Das reicht.“ In einem späteren Buch, dem „Journal des Verschwindens“ (in „Film und Verhängnis“, S. Fischer Verlag, 2001), deutete Aichinger an, sie wolle selbst eigentlich nicht existieren, sie wolle verschwinden. Sie möchte das nachvollziehen, was ihre Angehörigen unfreiwillig getan haben, als sie ermordet wurden. Schon in ihrem phänomenalen Aufzeichnungsbuch „Kleist, Moos, Fasane“ hatte sie 1985 ihren Weg vorgezeichnet: „Schreiben ist sterben lernen.“ Und: „Die Hölle himmelt mich ein.“

Michael Braun

Ilse Aichinger: Schlechte Wörter. S. Fischer Verlag (Fischer Taschenbuch), Frankfurt am Main 1976 ff. 112 Seiten, 5,95 Euro.

Maike Bellmann – Weil es so ist

Ein feines Fundstück bei Facebook: Lyrik von Maike Bellmann.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

AM ENDE: ARGUMENTE

Weil es so ist,
Sagst du,
Wenn nichts mehr so ist.

Reine Ansichtssache,
Sagst du,
Und siehst mich nicht an.

Alles eine Frage der Perspektive,
Sagst du,
Als ob wir eine hätten.

Maike Bellmann

Schon oft genug war ich nah daran, den einen oder anderen Social Media-Kanal, mit dem der Blog verlinkt ist, zu kappen. Zu viel Informationsüberreizung, zu viel Desinformation und in diesen Zeiten auch viel zu viel üble Postings, die an der Menschheit zweifeln lassen.

Und dann, mitten in dieser Flut, finden sich doch die kleinen Perlen, bei denen sich das Herausfischen lohnt. So folge ich schon einige Zeit der Lyrikerin Maike Bellmann, deren Gedichte mich immer wieder zum Innehalten, zum Nachdenken und zum Schmunzeln bringen auf Facebook. Schon länger spricht sie davon, einen Blog zu eröffnen – ich hoffe sehr darauf, das Medium wäre mir lieber. Und so kommen derzeit leider nur ihre F****book-Freunde in den Genuss des Mitlesens.

An den obigen Zeilen blieb ich gestern lange hängen: Das Gedicht finde ich hervorragend, es sprang mich förmlich an – kein Wunder, mag ich doch auch die Arbeiten von Erich Fried sehr in ihrer nur scheinbaren Schlichtheit und fast schon nüchternen Ausdrucksweise. Und dennoch: Dieses Spiel mit Wörtern und Sprache, die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen – das ist frappant, fein gesponnene Zurückhaltung.

Ich ziehe meinen Hut vor Maikes Gedichten. Und ein großes Danke schön an Maike, dass ich dies hier veröffentlichen durfte!
Wer mehr davon lesen will, kann dieses derzeit hier tun: Maike Bellmann.
Und wer wie ich darauf hofft, dass sie künftig auch auf einem Blog veröffentlicht, der soll dies doch bitte in den Kommentaren kundtun.


Bild zum Download: Glockenstrang


 

Joseph Mitchell: Old Mr. Flood – Vom Fischessen, Whiskey, Tod und Wiedergeburt

Joseph Mitchell, der Chefreporter des New Yorker, war schon zu Lebzeiten legendär. Seine Reportagen waren mehr als das, waren Literatur.

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Bild: (c) Michael Flötotto

Mein Bekannter Mr. Hugh. G. Flood, ein zäher, dreiundneunzigjähriger ehemaliger Abbruchunternehmer mit schottisch-irischen Wurzeln, erklärt gerne, dass er felsenfest entschlossen ist, bis zum Nachmittag des 27. Juli 1965 zu leben, wenn er hundertfünfzehn Jahre alt wird. „Mehr will ich gar nicht“, sagt er. „Ich will nur hundertfünfzehn werden. Das reicht mir.“

Joseph Mitchell. „Old Mr. Flood. Von Fischessen, Whiskey, Tod und Wiedergeburt“


Das nenne ich Glück. Zumindest Leserglück. Ein Glückstreffer: Die Reportagen des Joseph Mitchell, die der Diaphanes Verlag seit einiger Zeit in einer Reihe herausgibt. Erstmals sind dadurch die Texte dieses journalistischen Urgesteins der USA in Deutsch zu lesen. Das jüngste Buch in dieser Reihe, „Old Mr. Flood“ versammelt drei Reportagen aus den 1940er Jahren. Diese gehen schon stilistisch weit über das hinaus, was bei uns gewöhnlich als Reportage gewertet wird – sie sind literarische Erzählungen. Zudem ist die Titelfigur, Old Mr. Flood, fiktiv: Eine Type, angelehnt an die Originale, die der Reporter bei seinen Streifzügen in New York kennenlernte.

Herrscher des Fischmarkts in Manhattan

Old Mr. Flood ist „klein und runzlig“, hat wachsame, eisblaue Augen und ist stets überaus korrekt, wenn auch altmodisch gekleidet. Und er ist der heimliche Herrscher des Fulton Fish Markets in Manhattan. Obwohl selbst nicht im Fischhandel tätig gewesen, weiß keiner so viel über Fische und Muscheln wie er. Man kann gut und gern behaupten: Sein ganzes Leben dreht sich um nichts anderes als Fische. Er wohnt in einem „verschlafenen Hafenhotel“, wo er abends mit seinen Kumpels, mehr oder weniger noch knackig und auf den Beinen, über Fische spricht. Tagsüber treibt er sich auf dem Markt herum, kontrolliert die Ware, führt Pläuschchen mit den Händlern, hält sich auf dem neuesten Stand über Fischfanggebiete und die jüngsten Fänge, testet die Fischlokale der Gegend und setzt – vor allem wenn er mit seinem Reporter-Freund zusammenkommt – die phänomenalsten Fischlegenden in die Welt.

Vorbild für Generationen amerikanischer Reporter

Das alles ist so lebendig und bildhaft geschildert, man wähnt sich beim Lesen mittendrin im Geschehen. Wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film mit einem Walter Matthau als brummiger, aber liebenswerter Hauptfigur. Der Geruch des Marktes, der Geschmack von Salzwasser, die Geräusche des Hafens – sie bilden den sinnlichen Hintergrund beim Lesen. Das bewirkt vor allem die direkte, schwungvolle und bildliche Sprache, die Joseph Mitchell, Vorbild für Generationen amerikanischer Reporter, eindrucksvoll beherrschte. Er erweckte Wörter zum Leben, ließ aus Sätzen Bilder werden und würzte dies noch unnachahmlich mit einer guten Dosis Humor:

Mr. Flood warf einen Blick darauf und sagte: „Oh Gott, was ist das? Ist das einer von diesen Schreiberlingen, die sich in den Zeitungen über Restaurants ausbreiten und vor Begeisterung nicht mehr einkriegen, egal was man ihnen vorsetzt? Jede Zeitung hat inzwischen einen, der über Restaurants schreibt, einen Experten, der seine Meinung zum Besten gibt, und wenn er arbeitslos wär und in ein Restaurant gehen und um eine Stelle bitten würde, dieser Kochexperte, dieser Alleswisser mit seiner ganzen Erfahrung, dann würden sie ihn nicht mal die Kartoffeln für den Eintopf schälen lassen.“

„Der Herr ist eben ein Gurmet“, sagte Mr. Murchison. „Komm schon, lies vor, was er schreibt.“
Mr. Flood las ein, zwei Absätze. Dann grunzte er und reichte mir den Artikel. „Gott helf uns mein Sohn“, sagte er. „Lesen Sie.“

Mr. Beebe beschrieb in der Kolumne eine Mahlzeit, die von Edmond Berger, dem Chef de cuisine des Colony Restaurant, für ihn und einen Freund „aufgefahren“ worden war. Ausführlich erging er sich über das Menü. Ein Gang, der Fischgang, war „Filet de Sole en Bateau Beebe“. „Die Seezunge, von Chef Berger anlässlich unseres Mahls ersonnen und liebenswürdigerweise auf den Namen des Verfassers dieser Zeilen getauft“, schrieb Mr. Beebe, „war ein delikates Filet, angerichtet auf einer halben gebackenen Banane, ein Trick, den man sich merken sollte.“
„Grundgütiger!“, sagte Mr. Flood.

„Hört sich gut an, was?“, fragte Mr. Murchison. „Ne halbe gebackene Bannaneh mit nem delikaten Stück Flunder drauf. Warum hat er nicht gleich noch ne rote Schleife drumgebunden, wenn er schon dabei war?“

„Als Nächstes legen sie noch eine Kirsche auf gekochten Kabeljau“, sagte Mr. Flood. „Wie wär`s damit, ein delikates Stück Kabeljau, auf dem eine Kirsche angerichtet ist?“
Die beiden Männer gackerten.

Zumal Mr. Flood eine fiktive Figur war, werden wir nie erfahren, ob er sein Ziel, den 115. Geburtstag zu feiern, mittels der von ihm propagierten Fischdiät erreichte. Doch zuzutrauen wäre es dieser Figur, wäre sie denn leibhaftig gewesen, durchaus: Soviel Lebensfreude und Lebenskraft strahlen diese Menschen aus, von denen der Reporter Mitchell erzählte. Es sind, so schrieb Jörg Häntzschel in einer Besprechung in der Süddeutschen Zeitung, „Lebensreportagen“.

Kraftvolle Reportagen aus New York

Zwar handeln sie von einer Welt, die so inzwischen nicht mehr existiert – nicht mehr das Alte-Männer-Hotel, nicht mehr der Fischmarkt. Und sie handeln von Menschen, die nicht mehr leben. Aber die Erzählungen, diese selbst, sie bleiben lebendig. Und das ist der Kraft des Erzählers zu verdanken. Ein wenig neidisch schielt man da schon über den großen Teich auf diese journalistische Kultur der kraftvollen, erzählerischen Reportage, die bei uns im Grunde mit den großen Namen der Weimarer Republik – Kisch und Roth, um nur zwei zu nennen – untergegangen ist.

„Old Mr. Flood“ kann ich getrost jedem empfehlen, der seine Freude hat an hervorragend geschriebenen Reportagen UND Erzählungen. Mitchell führt einfach vor, wie man eine Geschichte schreibt, wie man Erzählungen vorantreibt. Und seinen Lesern damit große Freude bereitet. Dazu muss man nicht einmal unbedingt Fischliebhaber sein.

Joseph Mitchell selbst war wohl auch so ein Original wie die von ihm beschriebene Gang der alten Männer: Er war Mitbegründer des New Journalism, Chefreporter des New Yorker und wurde dabei zur lebenden Legende. 1964 schrieb er mit „Joe Gold`s Secret“ seine letzte Reportage. Danach veröffentlichte er keine einzige Zeile mehr, ging aber trotzdem bis zu seinem Tod 1996 jeden Tag in die Redaktion.


Bibliographische Angaben:

Joseph Mitchell
Old Mr. Flood
Geschichten von Fischessen, Whiskey, Tod und Wiedergeburt

Übersetzt von Sven Koch und Andrea Stumpf
Diaphanes Verlag, 2017

Julian Barnes: Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln

In zehn Kapiteln schreibt Julian Barnes über die Arche Noah, Schiffbrüchige, Piraten und Holzwürmer. Und ein wunderbares halbes Kapitel über die Liebe.

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Bild von Ben Kerckx auf Pixabay

„Aber letztendlich, was können wir dafür, wir sind halt Holzwürmer.“

Julian Barnes, „Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln“

Und manches Mal sind Holzwürmer vielleicht sogar die besseren Menschen – auf diesen nihilistischen Gedanken könnte man durchaus kommen bei der Lektüre dieses wundersam-eigenartigen Buches. In zehn Kapiteln schreibt Julian Barnes über die Arche Noah, Wale und im Wal Gefangene, Schiffbrüchige, Piraten, Untergehende, solche, die sich gerade noch über Wasser halten und solche, die sich in diesem treiben lassen. Und er schreibt über Holzwürmer, die halt dann doch den längeren Atem haben als diese seltsame Spezies Mensch, die es fertigbringt, den Ast, auf dem sie sitzt, selber abzusägen. So dumm wäre ein Holzwurm denn doch nicht.

Man kann über dieses Buch vieles schreiben. Auch so:

„Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln beantwortet die Frage nach Fortgang und „Ziel“ der Menschheit sowie nach der Möglichkeit, sie wahrhaft und eindeutig zu erzählen. Im Sinne der postmodernen Theorie negativ: Geschichte zerfällt in Geschichten, die sich negativ widersprechen, relativieren oder auch kommentieren und ergänzen können. Charakteristisch für Barnes ist jedoch die Einbettung dieses theoretischen Gehalts in überraschende Handlungen und einen ironischen Erzählton.“ (Quelle: „Harenberg. Das Buch der 1000 Bücher).

Man könnte aber auch sagen: Charakteristisch ist für Julian Barnes, dass er sich bei allem Weltzweifel und Skeptizismus, den er gegenüber der Fortschritts- und Entwicklungsfähigkeit seiner Mitmenschen hegt, einen Glauben bewahrte – den, das die Liebe manches heilt. Und die dem ganzen Treiben auf Archen und Schiffen letzten Endes einen Sinn gibt.

„Und so ist es auch mit der Liebe. Wir müssen daran glauben, sonst sind wir verloren. Vielleicht erreichen wir die Liebe nicht, oder wir erreichen sie und stellen dann fest, daß sie uns unglücklich macht; trotzdem müssen wir daran glauben. Tun wir das nicht, dann kapitulieren wir einfach vor der Geschichte der Welt und vor anderer Leute Wahrheit.“

Eine Erinnerung an seine verstorbene Frau

Ein großes Wort, ein naiver Gedanke, mag man meinen. Aber diesem Glauben hat der Leser schließlich das zehneinhalbste Kapitel zu verdanken. Jenes Kapitel, übertitelt „In Klammern“, das insbesondere jetzt beim Wiederlesen zu einem der berührendsten und schönsten Texte von Julian Barnes wird. Denn: 2008 verlor der englische Schriftsteller seine Frau Pat, mit der er über 30 Jahre lang zusammen war, nach einer Tumordiagnose innerhalb weniger Wochen.

Ein Verlust, ein Einschnitt im Leben dieses Mannes, dessen Bedeutung für Barnes bei der Lektüre von „In Klammern“ deutlich wird. Denn dieses Kapitel ist eine der schönsten Liebeserklärungen, die ich bei einem männlichen Schriftsteller an seine Frau gelesen habe. Nur der Beginn davon:

„Ich erzähle Ihnen jetzt mal was von ihr. Es ist dieser mittlere Abschnitt der Nacht, wenn kein Licht durch die Vorhänge dringt, das einzige Straßengeräusch das Gequengel eines heimkehrenden Romeos ist, und die Vögel noch nicht mit ihrem routinemäßigen und doch aufmunternden Geschäft begonnen haben. Sie liegt auf der Seite, von mir weggedreht. Ich kann sie in der Dunkelheit nicht sehen, doch nach dem gedämpften Auf und Ab ihres Atems könnte ich Ihnen einen Plan von ihrem Körper zeichnen. Wenn sie glücklich ist, kann sie stundenlang in der gleichen Stellung schlafen. Ich habe in den kloakigen Teilen der Nacht immer schön auf sie aufgepasst, und ich kann bezeugen, daß sie sich nicht bewegt. Natürlich mag das einfach an guter Verdauung und ruhigen Träumen liegen; aber für mich ist es ein Zeichen von Glücklichsein.“

Reflexionen über die Liebe

Dieses Behüten und Beobachten in der Nacht bringt Barnes auf Reflexionen über die Liebe und die Unmöglichkeit, darüber in Prosa zu schreiben:

„Aber es gibt kein Genre, das auf den Namen Liebesprosa hört. Das klingt unbeholfen, fast wie ein Widerspruch in sich. LIEBESPROSA – EIN HANDBUCH FÜR TRANTÜTEN. Zu finden in der Abteilung Laubsägearbeiten.“

Barnes ist ein Schriftsteller, der Worte abwägt, seziert, ihren Einsatz durchdenkt. Und so philosophiert er über das Wesen der Liebe, fordert auf „bei der Liebe, ihrer Sprache und ihren Gesten“ präzise zu sein.

„Wenn sie unsere Rettung sein soll, müssen wir sie so klar betrachten, wie wir lernen sollten, den Tod zu betrachten.“

Um dennoch feststellen zu müssen: Das Geheimnis der Liebe, das Geheimnis von Paaren, es ist nicht zu ergründen. Gelänge es, bräuchte man nicht mehr darüber zu schreiben. Gelänge es, wäre es das Ende der Welt – was gäbe es dann noch zu tun? Gelingt die Liebe jedoch nicht, so hat Barnes einen guten Rat:

„Trotzdem müssen wir an Liebe glauben, genau wie wir an Willensfreiheit und objektive Wahrheit glauben müssen. Und wenn die Liebe eine Enttäuschung ist, sollten wir der Geschichte der Welt die Schuld geben.“

Barnes musste in diesen Nächten – in denen er dies dachte und den Schlaf seiner Frau bewachte – der Welt keine Schuld geben. Er konnte schreiben: „Für mich ist SIE der Mittelpunkt der Welt.“ Sein Mittelpunkt ist von ihm gegangen – und dies macht dieses wunderschöne Kapitel in der Geschichte der Welt jetzt zu etwas ganz Neuem, nun beim Wiederlesen. Und das Wort von Philip Larkin, das Barnes zitiert, – „Die Liebe ist, was von uns überlebt“ – bekommt nochmals eine andere, eine besondere Bedeutung.

Informationen zum Buch:

Julian Barnes
Eine Geschichte der Welt in 10,5 Kapitel
Übersetzt von Gertraude Krueger
Haffmanns Verlag, 1990
ISBN: 978-3251001620

#VerschämteLektüren (21): Jutta Reichelt und der verdammt gute Roman

Schriftstellerin Jutta Reichelt gesteht ein: Zu ihren verschämten Lektüren gehören auch Bücher darüber, wie man einen verdammt guten Roman schreibt.

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Bild von Michal Jarmoluk auf Pixabay

Vor etwa 25 Jahren wurde ich einmal von einer Muse geküßt. Am nächsten Morgen schrieb ich den ersten Satz meines immer noch unvollendeten Romans. Offenbar war jedoch ein Kuss nicht genug – bei dem einen Satz sollte es fortan bleiben. Wie das so ist mit den Musenküssen. Ob Schreiben-Können auch mit dem Viel-Schreiben kommt, was Übung ist, was Routine, wieviel Talent wiegt und wieviel Zu- und Selbstvertrauen, Handwerk und Übung ausmachen – darüber macht sich die Schriftstellerin Jutta Reichelt auf ihrem Blog „Über das Schreiben von Geschichten“ viele Gedanken. Man kann dabei mitlesen, davon lernen und zwischendurch sogar mitspielen – beispielsweise, wenn Christoph einfach verschwindet.
Und das führt zu ihrer „verschämten Lektüre“: Denn selbst Schriftstellerinnen träumen anfangs noch ein wenig vom „Musenkuss“, wenn er in Form eines verkappten Sachbuches daherkommt…

Jutta Reichelt bringt so einen ganz neuen Aspekt in die #VerschämteLektüren. Und wie das so ist mit den verdammt guten Romanen, das kann man dann im Frühjahr 2015 sehen: Da erscheint ihr neuer Roman beim Verlag Klöpfer & Meyer, den ich wegen seines ambitionierten Programms und seiner schön gemachten Bücher sehr schätze. Zur Verlagsvorschau mit Einblick in „Wiederholte Verdächtigungen“ geht es hier: http://www.book2look.com/book/HdJvCpFdt2

Jetzt aber Jutta und der Roman vom Musenkuss:

„Ich habe mich entschlossen (nach mehreren schlaflosen Nächten), diese Möglichkeit der #VerschämteLektüren für eine Offenbarung zu nutzen, die geeignet ist, meinen halbwegs guten Ruf als literarische Autorin zu ruinieren.

Ich muss dazu etwas ausholen: Als ich zu schreiben begann, wusste ich nicht, wie ich was schreiben wollte, aber ich wusste, dass die Autorinnen und Autoren, die ich schätzte und die meinen inneren Referenzrahmen bestimmten (hätte ich damals nicht so sagen können) „literarische“ Autoren waren.

Ich wusste nicht, wie und was sich schreibend lernen lässt und ob es dafür Regeln gibt. Ich wusste auch nicht, warum die Texte, die ich schrieb, mir nicht gefielen. Jedenfalls nicht so richtig. Ich versuchte, genauer darauf zu achten, wie „andere“ schrieben – und vergaß diese Frage aber über der Lektüre immer wieder sofort.

Trotzdem schrieb ich weiter. Ich hatte das Gefühl, das sich etwas an meinem Schreiben in die richtige Richtung entwickelte, ohne dass ich hätte sagen können, was es war. Ab und zu gab ich, was ich schrieb, meinem Bruder, der mir mit großer Geduld erzählte, was er in meinen Texten las – und wie sie vielleicht gewinnen könnten. Nannte auch AutorInnen, die mir vielleicht gefallen könnten. So ging viel Zeit dahin.

Schön wäre es gewesen, wenn es einfacher gewesen wäre. Und dann las ich diesen Titel (Trommelwirbel!): „Wie man einen verdammt guten Roman schreibt“ von James N. Frey!

Ich habe das Buch gelesen. Ich habe es sogar verschlungen. Es ist lange her, aber es war so! Ich habe für zwei bis vier Monate gedacht, ich wäre gerettet. Meine Texte wären gerettet. Ich habe gedacht, dass alles viel einfacher ist, als ich je für möglich gehalten hätte. Eine Prämisse! Alles, was mir fehlte, war eine Prämisse! Und: „Konflikt! Konflikt! Konflikt!“

Leider ist es dann alles doch komplizierter und einfacher zugleich und mittlerweile weiß ich, dass Schreibratgeber wie Medizin sind: Sie können wirkungslos sein, hilfreich – oder schädlich. Wir wissen meist, wie ein Text sein sollte, wir wissen nicht, was mit unserem Text nicht stimmt. Wir halten unsere Texte ja für spannend oder komisch oder unglaublich berührend und irren uns nicht über „die Regeln“, sondern über unseren konkreten Text. Das ist das Problem …

Mittlerweile weiß ich auch, dass „Schreibratgeber“ und noch dazu solche mit einem derart marktschreierischen Titel für manche Autorinnen „eigentlich“ in die zweite Reihe gehören – und weil ich immer noch viel zu viele Bücher besitze, sind sie da auch gelandet. In ehrenwerter Gesellschaft …“

Hier geht es zum Blog der Autorin: http://juttareichelt.com/

Und auch beim Literaturhaus Bremen kann man sie finden: http://www.literaturhaus-bremen.de/autor/jutta-reichelt