Joachim Ringelnatz: Trostworte an einen Luftkranken

Florian L. Arnold, selbst Schriftsteller und bildender Künstler wie Ringelnatz auch, widmet dem luftigen Dichter Joachim Ringelnatz das Buch “Trostworte an einen Luftkranken”. Er habe sich daran erfreut, “auf ringels musenroos reitend, eigenwilligste flug- und flatterapparate zu ersinnen”.

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Humorvolle Spinner

Spinnete Köpfe, gescheit und begabt,
Weil ihr einen Pieps, einen Vogel habt,
erlachen euch manche und meiden
Euch. Ich mag euch leiden.

Ein Piepvogel lebt so hoch und frei
Über den Filzlatschen der Spießer.

Der Spießer meint: Ein Bandwurm sei
Kein stiller Genießer.

Doch Spießermeinung ist nicht mal so wichtig
Wie das, was aus Piepvogel fällt.

Nur der, der im Kopf nicht ganz richtig
Ist, lebt sich und unterhält.


Aus “Flugzeuggedanken”, 1929, von Joachim Ringelnatz

Es ist, als habe sich Herr Ringelnatz in diesem Gedicht selbst portraitiert. Er war so ein wilder Vogel, ein Piepvogel, der hoch und frei lebte. Am Ende, schon todkrank, unter den Nationalsozialisten auch vogelfrei. Der Dichter, Maler, Bühnenkünstler, der vor allem von (und für) seinen Auftritten lebte, wurde von der Bühne verbannt, seine Bücher beschlagnahmt und verbrannt. Er starb, erst 51 Jahre alt, an den Folgen seiner Tuberkulose-Erkrankung am 17. November 1934.

In den guten Jahren – also auch 1929, als sein Gedichtband “Flugzeuggedanken” beim Ernst Rowohlt Verlag erschien – war Ringelnatz ständig auf Reisen für seine Bühnenauftritte. Das brachte auch manches Flugabenteuer mit sich. Einige der schönsten Gedichte dazu sind in einer wundertoll illustrierten neuen Ausgabe erschienen: Florian L. Arnold, selbst Schriftsteller und bildender Künstler wie Ringelnatz auch, widmet dem luftigen Dichter das Buch “Trostworte an einen Luftkranken”. Er habe sich daran erfreut, “auf ringels musenroos reitend, eigenwilligste flug- und flatterapparate zu ersinnen”.

Mit “Trostworte an einen Luftkranken” zeigen Arnold den großen Joachim Ringelnatz als Verehrer und augenzwinkernden Spötter des Flugwesens: “Man glaubt es kaum, aber Ringelnatz hat der Fliegerei und ihren komischen Ausuferungen einen großen Platz in seinem Werk eingeräumt.” Ob es nun eine abenteuerliche Ballonfahrt, eine Fliege im Flugzeug, eine risikolustige Freundin am Seil in höchsten Lüften ist – Ringelnatz findet immer einen geistreichen Reim auf Ungereimtes. Und es erweist sich, daß seine Gedanken zu menschlichen Flugabenteuern auch beinah 100 Jahre nach ihrem Entstehen nichts an Witz und Gültigkeit verloren haben. “Im Gegenteil: Lest diese Texte, wenn ihr flugkrank oder Vielflieger seid, wenn ihr einen Fesselballon besitzt oder einen Zeppelin”, meint Florian L. Arnold augenzwinkernd.

Erschienen ist “Trostworte an einen Luftkranken” in der neu gegründeten “Edition Hibana”, in der schmale Texte und eigenwillige Illustrationen ihren Raum finden werden. Ein Blick auf die Seite zeigt: Auch die Illustrationen zu den Ringelnatz`schen Luftkünsten sind grandios, einfach zum Abheben.

Als Augsburgerin freue ich mich natürlich besonders, dass auch die “Freiballonfahrt mit Autoverfolgung” in der Auswahl ihren Platz fand: Denn, wenn “auf Augsburgs sonntagsbunten Flugplatz” die Sonne lacht, machen wir eigentlich nichts anderes, als mit unseren Töff-töffs den freischwebenden, gasgefüllten Tieren nachzujagen. Das Beitragsbild beweist es: Ballon am Augsburger Rathaus, direkt von mir verfolgt.


Informationen zum Buch:

Trostworte an einen Luftkranken
Fluggedichte und -gedanken
Gedichte von Joachim Ringelnatz
Edition Hibana, Ulm, 2021
Mit Bildern von Florian L. Arnold
44 Seiten, limit. Edition, durchgehend farbig illustriert
ISBN: 978-3-9822910-7-9

Björg Björnsdóttir: Der sechste Wintermonat

Mit den Gedichten von Björg Björnsdóttir, die erst im vergangenen Jahr in Island in erschienen sind, haben Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer, zwei unermüdliche Botschafter für die isländische Literatur, deutschsprachigen Leserinnen und Lesern ein besonderes Geschenk gemacht.

Eine sonntägliche Ruhe liegt über der Stadt. Noch setzt sich das Vogelgezirpe gegen den Straßenlärm durch. Durch die Zimmer weht eine frische Brise, die eine Ahnung vom heißen Tag, der kommen wird, mit sich bringt. Gewitterschwüle ist vertagt. Die Nacht wird aus den Augen gerieben, der Tag liegt vor mir wie ein offenes Buch. Das sind Morgenstunden, wie ich sie liebe – und wann, wenn nicht dann, ist die Zeit geeigneter, um Gedichte zu lesen, sich langsam in den Sinn und Gehalt lyrischer Sätze hinzutasten? Wie passend an solchen Tagen auch ein Zyklus über die Jahreszeiten:

Bild von David Mark auf Pixabay

Eine Welt in voller Blüte.

Eine Hummel.
Ein Rasenmäher in einem fernen Garten.

Eine Welt, die war,
eine Welt der Schwerelosigkeit.

Aus: „Heyannir – Der vierte Sommermonat“.

Mit den Gedichten von Björg Björnsdóttir, die 2020 in Island erschienen sind, haben Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer, zwei unermüdliche Botschafter für die isländische Literatur, deutschsprachigen Leserinnen und Lesern ein besonderes Geschenk gemacht.

Der Band „Der sechste Wintermonat“ umfasst einen Jahresreigen. Zwölf Gedichte haben die beiden Übersetzer aus Björnsdóttirs erstem Gedichtband „Árhringur / Jahresring“ übertragen. Dem Zyklus, der wie der isländische Kalender nur die beiden Jahreszeiten Winter und Sommer kennt, ist eine feine Melancholie eingeschrieben, das Wissen vom Werden und Vergehen:

An diesem Morgen
ist die Stadt still.

Wir sind allein,
ich und die Ankunft des Herbstes.

(aus dem „fünften Sommermonat“).

Erinnert an Rilke, gewiss. Doch die isländische Dichterin braucht nicht das ästhetisch Überhöhte, das zuweilen Bombastische, um ihrem lyrischen Ich eine Stimme zu geben, die die „Angst vor dem Unwiderruflichen“ und das „Bedauern“ im Herzen angesichts des Vergehens, vielleicht auch dieser Angst vor einem langen Winter, zum Ausdruck bringt. Wissend, dass der Sommer zwar groß ist, der Winter aber wiederkommen wird, feiert sie vielmehr in zurückhaltenden, stillen Zeilen die „Sanftheit des Augenblicks“. Das ist alles fein und genau beobachtet, voller poetischer Bilder. Naturlyrik, die zeitlos und doch zugleich auch ganz zeitgemäß wirkt. Gedichte, mit denen sich der Sommer genießen lässt – aber Achtung:

Die Tage der Faulenzerei sind vorbei.
Vor mir steht das Fahrrad.

Wehendes Haar,
wilder Wind,
das Stahlross im Windschatten.

Dieser Zyklus, ein poetisches Juwel, kommt auch in einer besonderen, ihm angemessenen Verpackung daher: „Der sechste Wintermonat“ erschien zunächst in der Corvinus Presse als limitierte „Volksausgabe“. Es folgte ein Künstlerbuch mit den signierten Grafiken von Jón Thor Gíslason, handgebunden und in einer Kassette. Doch allein schon die Volksausgabe ist ein Beispiel allerfeinster Buchkunst: Mit den Radierungen des Künstlers, Gedicht für Gedicht sorgsam gesetzt auf einer Linotype und Buch für Buch nach japanischer Art offen gebunden, ist es ein wahrer bibliophiler Schatz.

Wolfgang Schiffer erläutert in einem Beitrag die Entstehung des Buches von der ersten Idee bis zur Herstellung: https://wolfgangschiffer.wordpress.com/2021/04/26/vom-buch-ubers-manuskript-zu-einem-neuen-buch/

Zwei Gedichte in voller Länge bei Signaturen: https://www.signaturen-magazin.de/bjoerg-bjoernsdottir–zwei-gedichte-aus–der-jahresring–.html

Und hier alle Informationen zur Corvinus Presse: https://www.corvinus-presse.de/

Ulrike Draesner: Schwitters

“Schwitters“, der hochgelobte Künstlerroman von Ulrike Draesner, zeigt exemplarisch auf, was ein Exilantenschicksal bedeutet: Entwurzelung, Identitätsverlust, Vereinsamung.

„Der Rest fiel in seine Verantwortung. Er ging auf seine Gastgeber zu. An seiner Liebe zu Tee mit Milch arbeitete er, doch er schätzte quasi auf natürliche Art alle Arten von Pie, jeden Pudding, womit man in England jegliche Art von Dessert meinte, den Wolkenhimmel, den Dauerwind, sogar die dauerhaft winterlichen Raumtemperaturen.“

Ulrike Draesner, „Schwitters“

Doch obwohl der Emigrant, der Exilant sich bemüht, in seiner neuen Heimat Fuß zu fassen, er bleibt ein Außenseiter. Vielleicht auch, weil er das von Natur aus ist: So ging es ihm in Hannover, so ging es ihm, dem Schöpfer der „Ursonate“, der Auguste Bolte und der „Anna Blume“ mit seinen Beiträgen zur DADA-Bewegung, wo er immer ein Solitär blieb, ein Fremdkörper, so ergeht es ihm, dem „entarteten Künstler“ bei seinen Stationen im Exil, in Norwegen und schließlich England, wo er 1948 stirbt. „Schwitters“, der hochgelobte Künstlerroman von Ulrike Draesner, zeigt aber auch exemplarisch auf, was ein Exilantenschicksal bedeutet: Entwurzelung, Identitätsverlust, Vereinsamung. Wer wie Schwitters mit Sprache, mit einer besonderen Bildsprache arbeitet, ist doppelt geschlagen, dem sind auch die Grundlagen der beruflichen und künstlerischen Existenz entrissen.

Kurt Schwitters, Public domain, via Wikimedia Commons SCHWITTERS, Kurt_Merz 1925, 1. Relieve en cuadrado azul, 1925_748 (1980.74)

Edith Thomas war sein Lebensmensch

Die Jahre des Exils, vor allem aber die Jahre, in denen Kurt Schwitters dann mit seinem Lebensmenschen, Edith Thomas, kurz „Wantee“ (der ewige Hang zum Tee zärtlich verballhornt) einen neuen Dreh-, Angel- und Haltepunkt findet, rückt Ulrike Draesner in dieser stilistisch wie ästhetisch herausragenden und herausfordernden Annäherung an den MERZ-Schöpfer in den Mittelpunkt. Dabei gelingt ihr nicht nur eine sensible Charakterisierung des Künstlers, der auch zerrissen ist zwischen alten Familienbanden und neuer Liebe, sondern gewissermaßen auch eine Einführung in ein Stück Kunstgeschichte: Was DADA ausmacht, was MERZ ausmacht, das wird durch diesen Roman greifbar. Und dies immer auch in einer liebevoll-kritischen Distanz zum Künstler, der wie viele seiner Art durchaus den Hang zur Egomanie hatte. Michael Braun schreibt im „Tagesspiegel“:

„Ein Roman über eine Figur der Zeitgeschichte läuft immer Gefahr, die biografischen Fakten mittels Legendenbildung und hagiografischer Aufladung zu einem großen Erzählkino auszupinseln. Ulrike Draesner ist es dank ihrer feinen Sprachempfindlichkeit gelungen, diese Geschichte eines deutschen Exilanten und seiner Sprach- und Weltenwechsel von jedweder Schwärmerei freizuhalten und das späte Leben von Kurt Schwitters in all seinen Brüchen und markanten Selbstwidersprüchen freizulegen.“

Zuweilen kreist Ulrike Draesner diese Selbstwidersprüche für meinen Geschmack zu zögerlich ein, umrundet sie, lässt der Lust an Wortspielereien und Sprachkunst dann vollends freien Lauf – an der einen oder anderen Stelle läuft der Text dann etwas davon, wünschte man sich, näher an Schwitters denn an Draesner zu sein. Aber im Grunde ist dies wiederum auch fast schon symbolhaft: Sprache, so wuchernd und ständig wachsend wie der 1943 zerstörte MERZbau.

Informationen zum Buch:

Ulrike Draesner
Schwitters
Penguin Verlag, 2020
ISBN: 978-3-328-60126-5


Christoph Schlingensief: Kein falsches Wort jetzt

Aino Laberenz zeichnet in dem Band “Gespräche” ein differenziertes und komplexes Bild ihres Mannes Christoph Schlingensief. Ein Gastbeitrag von Gudrun Glock.

Bild: Gudrun Glock

Ein Gastbeitrag von Gudrun Glock

„Ich lass‘ die Dinge aufeinanderprallen. Das soll keine Provokation bedeuten, Provokation wäre trivial, sondern eher eine Art Erfrischung.“

Aino Laberenz, Ehefrau und Mitarbeiterin von Christoph Schlingensief, hat mit den Aufzeichnungen aus Gesprächen und Interviews mit Schlingensief ein sehr lebendiges Bild ihres Mannes entstehen lassen. „Christoph wollte, dass man sich seine Arbeit möglichst unvoreingenommen ansieht und sich bis zum Ende darauf einlässt“, sagt Laberenz und fügt an: „Was er von sich selber eingefordert hat, erwartete er auch von seinem Gegenüber“. So ist ein sehr differenziertes, komplexes und nachvollziehbares Bild entstanden, von dem Mann, der vielen das Klischee vom abgefahrenen, verzottelten und wirren Provokateur gegeben hat.

In chronologischer Anordnung, von seinem Kinodebut „Tunguska – die Kisten sind da“ von 1984, bis zu seinem letzten Interview mit Max Dax von der Musik- und Popkulturzeitschrift „spex“ 2010, in dem er unumwunden erklärt, „ich habe geklaut“, wirft das Buch Streiflichter auf jedes Genre, das Schlingensief bedient hat, seine Intention und Motivation.

“Ich will mit Kräften spielen”

Wo die einen ihm eine bescheidene Jugend nachsagen, um sich die Düsternis seiner Filme zu erklären, winkt er ab. Er besteht darauf, dass es ausschließlich um Kraft, Energie und Rhythmus gehe, keineswegs um Provokation, „ich will ja niemand reinigen, sondern mit Kräften spielen.“ Das muss man auf sich wirken lassen und nicht jeder hat das verstanden. Sehr oft muss ich schmunzeln. Über die herrlichen Statements dieses Künstlers, der sich jeglicher Einordnung entzieht. Über seine Konzepte, die einzig dazu dienen, keine zu sein. Und über mich, die Leserin, die aufgefordert ist, einzusteigen, was Schlingensief ganz klar zum Ausdruck bringt: „Die Kisten sind da (…) und jetzt verlange ich vom Zuschauer, dass er mich als Regisseur endlich mal vergisst, als jemand der etwas über den Tisch reicht wie Zucker und Kaffee, sondern jetzt soll der Zuschauer anfangen, die Kisten auszupacken.“

Als er auf seine Krankheit angesprochen wird, sagt er, „Krebs, das merkt man sehr schnell, ist nicht universell. Er ist bei jedem anders.“ Genau wie dein Schaffen, denke ich mir. Und am Ende brauche ich eine ganze Weile, bis ich wieder ganz aufgetaucht bin. Ich habe einem atemberaubenden Menschen näherkommen dürfen – atemberaubend schnell, atemberaubend ehrlich, atemberaubend facettenreich – unvergesslich!

Ein Gastbeitrag von Gudrun Glock


Zur Gastautorin:

Gudrun Glock  lebt und arbeitet bei Augsburg, wo sie für ein Augsburger Magazin  Beiträge, Buchrezensionen und die Kolumne „Nahrungskette“ schreibt. Ihr Hauptinteresse und Betätigungsfeld gilt dem Ernährungsaspekt der Ayurvedischen Lehre. Sie sagt dazu: „Wir kommunizieren während des Essens. Und Essen selbst bedeutet Kommunikation. Deshalb könnte man auch sagen, das zentrale Thema meiner Arbeit ist die Kommunikation, denn das ganze Leben ist Kommunikation.“
Homepage: http://augsburg-ayurveda.de/ 


Informationen zum Buch:

Christoph Schlingensief
Herausgeberin: Aino Laberenz
Kein falsches Wort jetzt. Gespräche
Kiepenheuer & Wisch
Erscheinungstermin 20.08.2020
336 Seiten
ISBN: 978-3-462-05508-5

Jutta Reichelt u.a.: Blaumeier oder der Möglichkeitssinn

Das Bremer Kreativprojekt Blaumeier begeistert seit Jahren sein Publikum. Ein Buch erzählt von den Menschen, die dahinterstehen, und davon, dass beinahe nichts unmöglich sein muss.

„So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“

Das Zitat von Robert Musil aus dem „Mann ohne Eigenschaften“ ist schon eine Blaupause für dieses Buch. Und was für ein Buch! Es macht schon durch sein Äußeres deutlich, dass es etwas Besonderes ist. Das Format! Die Haptik! Man kann es auf den Kopf stellen und dennoch etwas lesen. Das Layout rückt Dinge durcheinander und gerade. Da ist so viel Weißraum, wie die Gestalter sagen, Freiraum würde ich meinen, ist das, der Platz lässt für eigene Gedanken. Fotografien, die nicht nur schön sind und schwarzweiß, weil das einfach besser wirkt, sondern die Bilder sind, die Geschichten erzählen.

Und dazwischen immer wieder dieses Blau. Blau, blau, blau sind alle meine … in dem Fall: Blaumeier. Ich lese den Titel „Blaumeier oder der Möglichkeitssinn“ und mir kommt profanerweise nicht das Musil-Zitat in den Kopf, sondern als Ohrwurm dreht sich der Slogan aus der Werbung in Dauerschleife: „Nichts ist unmööööööööööööööööglich…!“

Blaumeier stehen für Inklusion und Gleichberechtigung

Aber das passt irgendwie auch, zu diesem Buch und zu seinen Protagonisten: Nichts ist unmöglich, wenn man Mitmacher, Gleichgesinnte und Unterstützer findet. Blauäugig wäre es zwar, nicht zu wissen, dass es auch Grenzen gibt, die die Gesellschaft errichtet, wie es beispielsweise in der Geschichte von Aladdin, dem Profi, aufscheint. Aber man darf auch nicht blau machen im Streben nach Inklusion und Gleichberechtigung – und das stellen die Blaumeier seit Jahrzehnten unter Beweis. Nicht aufgeben, Träume verwirklichen, einfach machen.

Was ist das für ein Buch und wer sind sie, diese Blaumeier?

„Es gibt ziemlich viele Menschen, die Blaumeier kennen“, schreibt Karolin Oesker vom gleichnamigen Verein. „In Bremen sowieso, aber auch an vielen anderen Orten: die Salonskis sind schon in Moskau aufgetreten, die Maler:innen haben in New York ausgestellt, die Süßen Frauen waren in Durban, die Fotograf:innen in Riga und der Chor Don Bleu in Peking – um nur einige der Städte zu nennen, an denen Blaumeiergruppen das Publikum begeistert, bezaubert und oft auch berührt haben.“

Das ist, wenn man weiß, wie Blaumeier entstand und woher die beteiligten Menschen kommen, keine Selbstverständlichkeit, immer noch nicht. Der Verein entwickelte sich im Zuge der Psychiatriereform: Bis weit in die 1980er-Jahre gab es in der ganzen Bundesrepublik noch Langzeitstationen beziehungsweise Kliniken, die mehr Heimen glichen, in denen psychisch Kranke quasi hospitalisiert waren. So auch in der Langzeitpsychiatrie Kloster Blankenburg bei Oldenburg, die erst 1986 aufgelöst wurde. In einem Ateliergebäude im Bremer Stadtteil Walle wurden nach der Auflösung des Hauses erste künstlerischen Angebote für Menschen mit und ohne Behinderung geschaffen: Vor allem für das Maskentheater, das auch Menschen, die nicht sprechen können oder wollen, den Einsatz auf der Bühne ermöglicht, wurden die Blaumeier mehr und mehr berühmt. Aber auch andere Künste werden gemeinsam ausgeübt: Es gibt eine Schreibwerkstatt, Kurse für Fotografie, Bildende Kunst, für Musik.

Die Menschen stehen im Mittelpunkt

Die Menschen, die sich hier engagieren und kreativ ausleben, einmal in den Mittelpunkt zu stellen, war Anliegen dieses Buches – 25 von den 250, stellvertretend für die vielen Gesichter und Stimmen, die Blaumeier prägen. Dass das Ganze aber kein gewöhnliches Buch mit Portraits geworden ist, sondern im Grunde ein optisches und inhaltliches Kunstwerk, verwundert bei so viel Talent an einem Ort wenig. Und zudem hat Schriftstellerin Jutta Reichelt, die selbst lange in der Theatergruppe  Die Salonskis mitwirkte, in den Texten von klassischen Portraiterzählungen Abstand genommen.

Die Textformen sind so individuell wie die vorgestellten Personen selbst, die Texte legen die Menschen nicht auf einige prägende Charaktereigenschaften fest, sie nähern sich an, sie stellen Fragen – und geben so, manchmal fast schon beiläufig, den Blick auf Dinge frei, die uns alle angehen, die jeden von uns beschäftigen und umtreiben.

„Die Masken reizen sie. Überhaupt das Theaterspielen. Rollenwechsel. Die versucht sie jetzt auch im Alltag. Lehnt sich einfach mal zurück und lässt die anderen machen. Manchmal tut sie so, als sei es das Normalste auf der Welt, sich nicht um andere zu kümmern. Und gelegentlich spielt sie sogar mit dem Gedanken, dass sie ein Recht hat, hier zu sein. Wie alle anderen auch. Einfach so.“

Eine Stärke dieser Texte ist es, dass man sie schon sehr aufmerksam lesen muss, dass man sie mitunter auch mehrfach lesen muss, wenn man partout genau wissen möchte, ob nun einer der gerade portraitierten Blaumeier ein Kreativer mit oder ohne Behinderung ist. Weil es meist auch um ganz andere Fragen geht: Wieviel Kunst braucht der Mensch? Und was macht sie mit einem die Kunst. Es wird erzählt von der Angst vorm Scheitern, dem Lampenfieber, den Schreibblockaden. Und wie es dann ist, wenn der Applaus kommt, die Befriedigung, wenn ein Projekt abgeschlossen ist.

Von Talenten und Träumen und vom Wünschen

Und ist die Unterscheidung in Nicht- oder Doch überhaupt wichtig? Und ist es nicht das, was Projekte wie Blaumeier und andere und was auch dieses Buch erreichen will: Dass der Mensch mit seinen Talenten, Fähigkeiten, Wünschen und Träumen zählt und sonst nichts anderes?

Aber außerhalb von Blaumeier wird eben noch allzu oft differenziert und ausgegrenzt – auch das machen diese Portraits auf ihre behutsam-antastende Weise deutlich: Vielleicht fährt Jürgen nicht nur nicht mehr mit der Bahn, „weil jeder Gang schlank macht“, sondern vielleicht auch, weil er die abschätzenden Blicke anderer nicht mehr erträgt? Oder wie wäre es, wenn Aladdin, der Profi, der schon in mehreren Filmen mitgewirkt hat, wie jeder andere Schauspieler auch als Profi wahrgenommen würde?

„Aladdin ist ein Profi. Oder etwas sehr Ähnliches. Wenn Aladdin noch etwas fehlt zum richtigen, vollständigen Profi, dann ist es nicht Talent oder Erfahrung, Disziplin oder Begeisterung. Das alles besitzt Aladdin. Der einzige Grund dafür, dass Aladdin noch kein vollständiger Profi ist: Es ist nicht vorgesehen!“

Weil es nicht vorgesehen ist, dass Theater, Film oder Fernsehen Schauspieler:innen mit Behinderung beschäftigen, dass Schauspielschulen sie ausbilden, es ist ja noch nicht einmal selbstverständlich, dass Menschen mit Behinderung auch von Menschen gespielt werden.

Fragen, die es noch zu beantworten gilt – und weil dieses Buch solche Fragen stellt, reicht es weit hinaus über die Geschichte eines Bremer Kreativprojektes, sondern wird zu einem Buch, das auch jene, die die Blaumeier noch nicht erlebt haben, ins Grübeln kommen, vielleicht auch eigene Ideen entwickeln und vor allem mit einem offenerem Blick und einem neuerwachten Möglichkeitssinn durch die Welt gehen.


Informationen zum Projekt:

Mehr Informationen über die Blaumeier und viele Geschichten finden sich hier: https://www.blaumeier.de/

Das Buch selbst kann auch dort im Shop erworben werden: https://www.blaumeier.de/de/shop/