Neu im axel dielmann – verlag: Drei Romane, drei Facetten des Lebens und Lesens

Mit drei neuerschienenen Romanen rundet der axel dielmann – verlag sein diesjähriges Literaturprogramm ab. Und zeigt damit alle Facetten des Lebens und Lesens – vom aufregenden Spionagethriller über eine Künstlerbiographie bis hin zum Einblick in den Tag einer Familie.

Nach einem kühnen, aber erfolgreichen Lyrik-Halbjahr im Herbst 2022 und dem großen Auftritt mit 16 Titeln in der »BOX – die wilden Slowenen« zum Gastlandauftritt bei der Frankfurter Buchmesse, konzentriert sich der axel dielmann – verlag aktuell in diesem Bücherherbst ganz auf Romane. Man kann sich auf drei Neuerscheinungen freuen:
Dierk Wolters, Kultur-Chef der Frankfurter Neuen Presse, veröffentlicht bei dielmann seinen zweiten Roman »dienstag«, nachdem sein Debüt bei Weissbooks erschienen war;
Jakob Sturm, Künstler und Raumaktivist, legt im axel dielmann – verlag sein nun drittes Künstler-Buch vor, die Neu- und Umschreibung seines Weges in der Kunstwelt;
Siegfried Schröpf, Schriftsteller und Solar-Unternehmer in Amberg, ist mit seinem vierten Band der »Schöngeist-Serie« bei dielmann, und sein nur selten heldenhafter Anwalt-Protagonist Thomas Schöngeist lotet diesmal gemeinsame Vergangenheiten von Chile und Deutschland aus.

Im Frühjahr werden, um die editorische Vielfalt auch in dieser Hinsicht ins Gleichgewicht zu stellen, drei großartige Autorinnen mit ihren Büchern im axel dielmann – verlag erscheinen.


Die drei Romane:

Siegfried Schröpf
Schöngeist und die Chilenin
Spionagethriller

Ein neues Mandat in Chile weckt bei Anwalt Thomas Schöngeist wehmütige Erinnerungen an die leidenschaftliche Liebesbeziehung zu einer Deutsch-Chilenin und an eine wilde Zeit, in der Schöngeist während seines Jura-Studiums in einen Strudel zeitgeschichtlicher Ereignisse gezogen worden war. Doch nun scheinen die kulturellen Differenzen zu María Pilar, Enkelin eines vor den Nazis geflohenen jüdischen Molkerei-Unternehmers, unüberbrückbar: Ein düsteres Geheimnis klingt da an, das nie restlos aufgeklärt wurde. Eine deutsch-jüdische Familiensaga, die in Unterfranken unter dem Hakenkreuz ihren Anfang nimmt und in der Nacht des Wahlsiegs Salvador Allendes in Chile eine dramatische Katharsis erfährt. Unter der Hand entfaltet sich ein verwickelter Spionagethriller, bei dem nicht nur Augusto Pinochets Geheimdienst eine unrühmliche Rolle spielt. Mit von der historischen Partie sind ebenso der amerikanische CIA wie der westdeutsche BND und die Ostberliner Stasi. Siegfried Schröpf, der selbst zwei Jahre lang in Santiago de Chile gelebt hat, entfaltet ein komplexes Panorama deutsch-chilenischer Geschichte im mörderischen 20. Jahrhundert.

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Jakob Sturm
Die geteilte Zeit

Autobiographischer Roman

Jakob Sturm ist Künstler, Raumaktivist und Autor. Er arbeitet u.a. als Initiator von Projekten, die sich mit der Neudefinition und Formatierung bestehender Architekturen und Räume im sozialen und urbanen Kontext, deren Möglichkeiten und Nutzungen beschäftigen. Auch mit seinem dritten Roman bleibt er bei dem, was ihn schon in den beiden vorigen Büchern »Orte möglichen Wohnens / Meine Geschichte, mein Weg in die Kunst und von der Utopie« von 2020 und »Abschied vom Vater – Gegenwart / Ein persönlicher Essay über Kunst« von 2022 umgetrieben hat. Das Schreiben, die Reflexion des Er-Schreibens seiner familären und künstlerischen Hintergünde fließen in eine neue Geschichte ein. Realität und Fiktion gehen ineinander über, Kunst und Leben treffen sich:
»Die Kunst war das Realitätsprinzip, die Familie lebte im Unmöglichen. Leben war plötzlich etwas Ideelles.«

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Dierk Wolters
dienstag
Roman


Die Uhr tickt, läuft durch einen offenbar ganz normalen Tag, einen Dienstag. Von dessen Morgen an bis in den Abend springt Dierk Wolters’ Erzählzeiger zwischen sechs Mitgliedern einer Familie hin und her, lässt hören, was sie umtreibt. Aber Dierk Wolters kratzt in seinem zweiten Roman weit mehr als einen repräsentativen Wochentag frei.
Vom Großvater bis zum Nesthäkchen, von mütterlichen Versorgungssorgen bis zum Ärger im Altenheim, von Freizeitsport bis Berufsnot reichen diese inneren Stimmen, und selbstverständlich nehmen sie auch einander aufs Korn. Unabhängig davon, ob es sich um Gedankensplitter eines der Familienmitglieder oder um eine innere Suada handelt, die teils amüsant, teils tiefgehend, teils bestens vertraut, teils schrullig sind – interessant ist es vor allem, das zu belauschen, was zwischen den Figuren geschieht. Oder eben auch nicht.

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Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag.

Joachim Ringelnatz: Trostworte an einen Luftkranken

Florian L. Arnold, selbst Schriftsteller und bildender Künstler wie Ringelnatz auch, widmet dem luftigen Dichter Joachim Ringelnatz das Buch „Trostworte an einen Luftkranken“. Er habe sich daran erfreut, „auf ringels musenroos reitend, eigenwilligste flug- und flatterapparate zu ersinnen“.

Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Humorvolle Spinner

Spinnete Köpfe, gescheit und begabt,
Weil ihr einen Pieps, einen Vogel habt,
erlachen euch manche und meiden
Euch. Ich mag euch leiden.

Ein Piepvogel lebt so hoch und frei
Über den Filzlatschen der Spießer.

Der Spießer meint: Ein Bandwurm sei
Kein stiller Genießer.

Doch Spießermeinung ist nicht mal so wichtig
Wie das, was aus Piepvogel fällt.

Nur der, der im Kopf nicht ganz richtig
Ist, lebt sich und unterhält.


Aus „Flugzeuggedanken“, 1929, von Joachim Ringelnatz

Es ist, als habe sich Herr Ringelnatz in diesem Gedicht selbst portraitiert. Er war so ein wilder Vogel, ein Piepvogel, der hoch und frei lebte. Am Ende, schon todkrank, unter den Nationalsozialisten auch vogelfrei. Der Dichter, Maler, Bühnenkünstler, der vor allem von (und für) seinen Auftritten lebte, wurde von der Bühne verbannt, seine Bücher beschlagnahmt und verbrannt. Er starb, erst 51 Jahre alt, an den Folgen seiner Tuberkulose-Erkrankung am 17. November 1934.

In den guten Jahren – also auch 1929, als sein Gedichtband „Flugzeuggedanken“ beim Ernst Rowohlt Verlag erschien – war Ringelnatz ständig auf Reisen für seine Bühnenauftritte. Das brachte auch manches Flugabenteuer mit sich. Einige der schönsten Gedichte dazu sind in einer wundertoll illustrierten neuen Ausgabe erschienen: Florian L. Arnold, selbst Schriftsteller und bildender Künstler wie Ringelnatz auch, widmet dem luftigen Dichter das Buch „Trostworte an einen Luftkranken“. Er habe sich daran erfreut, „auf ringels musenroos reitend, eigenwilligste flug- und flatterapparate zu ersinnen“.

Mit „Trostworte an einen Luftkranken“ zeigen Arnold den großen Joachim Ringelnatz als Verehrer und augenzwinkernden Spötter des Flugwesens: „Man glaubt es kaum, aber Ringelnatz hat der Fliegerei und ihren komischen Ausuferungen einen großen Platz in seinem Werk eingeräumt.“ Ob es nun eine abenteuerliche Ballonfahrt, eine Fliege im Flugzeug, eine risikolustige Freundin am Seil in höchsten Lüften ist – Ringelnatz findet immer einen geistreichen Reim auf Ungereimtes. Und es erweist sich, daß seine Gedanken zu menschlichen Flugabenteuern auch beinah 100 Jahre nach ihrem Entstehen nichts an Witz und Gültigkeit verloren haben. „Im Gegenteil: Lest diese Texte, wenn ihr flugkrank oder Vielflieger seid, wenn ihr einen Fesselballon besitzt oder einen Zeppelin“, meint Florian L. Arnold augenzwinkernd.

Erschienen ist „Trostworte an einen Luftkranken“ in der neu gegründeten „Edition Hibana“, in der schmale Texte und eigenwillige Illustrationen ihren Raum finden werden. Ein Blick auf die Seite zeigt: Auch die Illustrationen zu den Ringelnatz`schen Luftkünsten sind grandios, einfach zum Abheben.

Als Augsburgerin freue ich mich natürlich besonders, dass auch die „Freiballonfahrt mit Autoverfolgung“ in der Auswahl ihren Platz fand: Denn, wenn „auf Augsburgs sonntagsbunten Flugplatz“ die Sonne lacht, machen wir eigentlich nichts anderes, als mit unseren Töff-töffs den freischwebenden, gasgefüllten Tieren nachzujagen. Das Beitragsbild beweist es: Ballon am Augsburger Rathaus, direkt von mir verfolgt.


Informationen zum Buch:

Trostworte an einen Luftkranken
Fluggedichte und -gedanken
Gedichte von Joachim Ringelnatz
Edition Hibana, Ulm, 2021
Mit Bildern von Florian L. Arnold
44 Seiten, limit. Edition, durchgehend farbig illustriert
ISBN: 978-3-9822910-7-9

Björg Björnsdóttir: Der sechste Wintermonat

Mit den Gedichten von Björg Björnsdóttir, die erst im vergangenen Jahr in Island in erschienen sind, haben Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer, zwei unermüdliche Botschafter für die isländische Literatur, deutschsprachigen Leserinnen und Lesern ein besonderes Geschenk gemacht.

Eine sonntägliche Ruhe liegt über der Stadt. Noch setzt sich das Vogelgezirpe gegen den Straßenlärm durch. Durch die Zimmer weht eine frische Brise, die eine Ahnung vom heißen Tag, der kommen wird, mit sich bringt. Gewitterschwüle ist vertagt. Die Nacht wird aus den Augen gerieben, der Tag liegt vor mir wie ein offenes Buch. Das sind Morgenstunden, wie ich sie liebe – und wann, wenn nicht dann, ist die Zeit geeigneter, um Gedichte zu lesen, sich langsam in den Sinn und Gehalt lyrischer Sätze hinzutasten? Wie passend an solchen Tagen auch ein Zyklus über die Jahreszeiten:

Bild von David Mark auf Pixabay

Eine Welt in voller Blüte.

Eine Hummel.
Ein Rasenmäher in einem fernen Garten.

Eine Welt, die war,
eine Welt der Schwerelosigkeit.

Aus: „Heyannir – Der vierte Sommermonat“.

Mit den Gedichten von Björg Björnsdóttir, die 2020 in Island erschienen sind, haben Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer, zwei unermüdliche Botschafter für die isländische Literatur, deutschsprachigen Leserinnen und Lesern ein besonderes Geschenk gemacht.

Der Band „Der sechste Wintermonat“ umfasst einen Jahresreigen. Zwölf Gedichte haben die beiden Übersetzer aus Björnsdóttirs erstem Gedichtband „Árhringur / Jahresring“ übertragen. Dem Zyklus, der wie der isländische Kalender nur die beiden Jahreszeiten Winter und Sommer kennt, ist eine feine Melancholie eingeschrieben, das Wissen vom Werden und Vergehen:

An diesem Morgen
ist die Stadt still.

Wir sind allein,
ich und die Ankunft des Herbstes.

(aus dem „fünften Sommermonat“).

Erinnert an Rilke, gewiss. Doch die isländische Dichterin braucht nicht das ästhetisch Überhöhte, das zuweilen Bombastische, um ihrem lyrischen Ich eine Stimme zu geben, die die „Angst vor dem Unwiderruflichen“ und das „Bedauern“ im Herzen angesichts des Vergehens, vielleicht auch dieser Angst vor einem langen Winter, zum Ausdruck bringt. Wissend, dass der Sommer zwar groß ist, der Winter aber wiederkommen wird, feiert sie vielmehr in zurückhaltenden, stillen Zeilen die „Sanftheit des Augenblicks“. Das ist alles fein und genau beobachtet, voller poetischer Bilder. Naturlyrik, die zeitlos und doch zugleich auch ganz zeitgemäß wirkt. Gedichte, mit denen sich der Sommer genießen lässt – aber Achtung:

Die Tage der Faulenzerei sind vorbei.
Vor mir steht das Fahrrad.

Wehendes Haar,
wilder Wind,
das Stahlross im Windschatten.

Dieser Zyklus, ein poetisches Juwel, kommt auch in einer besonderen, ihm angemessenen Verpackung daher: „Der sechste Wintermonat“ erschien zunächst in der Corvinus Presse als limitierte „Volksausgabe“. Es folgte ein Künstlerbuch mit den signierten Grafiken von Jón Thor Gíslason, handgebunden und in einer Kassette. Doch allein schon die Volksausgabe ist ein Beispiel allerfeinster Buchkunst: Mit den Radierungen des Künstlers, Gedicht für Gedicht sorgsam gesetzt auf einer Linotype und Buch für Buch nach japanischer Art offen gebunden, ist es ein wahrer bibliophiler Schatz.

Wolfgang Schiffer erläutert in einem Beitrag die Entstehung des Buches von der ersten Idee bis zur Herstellung: https://wolfgangschiffer.wordpress.com/2021/04/26/vom-buch-ubers-manuskript-zu-einem-neuen-buch/

Zwei Gedichte in voller Länge bei Signaturen: https://www.signaturen-magazin.de/bjoerg-bjoernsdottir–zwei-gedichte-aus–der-jahresring–.html

Und hier alle Informationen zur Corvinus Presse: https://www.corvinus-presse.de/

Ulrike Draesner: Schwitters

„Schwitters“, der hochgelobte Künstlerroman von Ulrike Draesner, zeigt exemplarisch auf, was ein Exilantenschicksal bedeutet: Entwurzelung, Identitätsverlust, Vereinsamung.

„Der Rest fiel in seine Verantwortung. Er ging auf seine Gastgeber zu. An seiner Liebe zu Tee mit Milch arbeitete er, doch er schätzte quasi auf natürliche Art alle Arten von Pie, jeden Pudding, womit man in England jegliche Art von Dessert meinte, den Wolkenhimmel, den Dauerwind, sogar die dauerhaft winterlichen Raumtemperaturen.“

Ulrike Draesner, „Schwitters“

Doch obwohl der Emigrant, der Exilant sich bemüht, in seiner neuen Heimat Fuß zu fassen, er bleibt ein Außenseiter. Vielleicht auch, weil er das von Natur aus ist: So ging es ihm in Hannover, so ging es ihm, dem Schöpfer der „Ursonate“, der Auguste Bolte und der „Anna Blume“ mit seinen Beiträgen zur DADA-Bewegung, wo er immer ein Solitär blieb, ein Fremdkörper, so ergeht es ihm, dem „entarteten Künstler“ bei seinen Stationen im Exil, in Norwegen und schließlich England, wo er 1948 stirbt. „Schwitters“, der hochgelobte Künstlerroman von Ulrike Draesner, zeigt aber auch exemplarisch auf, was ein Exilantenschicksal bedeutet: Entwurzelung, Identitätsverlust, Vereinsamung. Wer wie Schwitters mit Sprache, mit einer besonderen Bildsprache arbeitet, ist doppelt geschlagen, dem sind auch die Grundlagen der beruflichen und künstlerischen Existenz entrissen.

Kurt Schwitters, Public domain, via Wikimedia Commons SCHWITTERS, Kurt_Merz 1925, 1. Relieve en cuadrado azul, 1925_748 (1980.74)

Edith Thomas war sein Lebensmensch

Die Jahre des Exils, vor allem aber die Jahre, in denen Kurt Schwitters dann mit seinem Lebensmenschen, Edith Thomas, kurz „Wantee“ (der ewige Hang zum Tee zärtlich verballhornt) einen neuen Dreh-, Angel- und Haltepunkt findet, rückt Ulrike Draesner in dieser stilistisch wie ästhetisch herausragenden und herausfordernden Annäherung an den MERZ-Schöpfer in den Mittelpunkt. Dabei gelingt ihr nicht nur eine sensible Charakterisierung des Künstlers, der auch zerrissen ist zwischen alten Familienbanden und neuer Liebe, sondern gewissermaßen auch eine Einführung in ein Stück Kunstgeschichte: Was DADA ausmacht, was MERZ ausmacht, das wird durch diesen Roman greifbar. Und dies immer auch in einer liebevoll-kritischen Distanz zum Künstler, der wie viele seiner Art durchaus den Hang zur Egomanie hatte. Michael Braun schreibt im „Tagesspiegel“:

„Ein Roman über eine Figur der Zeitgeschichte läuft immer Gefahr, die biografischen Fakten mittels Legendenbildung und hagiografischer Aufladung zu einem großen Erzählkino auszupinseln. Ulrike Draesner ist es dank ihrer feinen Sprachempfindlichkeit gelungen, diese Geschichte eines deutschen Exilanten und seiner Sprach- und Weltenwechsel von jedweder Schwärmerei freizuhalten und das späte Leben von Kurt Schwitters in all seinen Brüchen und markanten Selbstwidersprüchen freizulegen.“

Zuweilen kreist Ulrike Draesner diese Selbstwidersprüche für meinen Geschmack zu zögerlich ein, umrundet sie, lässt der Lust an Wortspielereien und Sprachkunst dann vollends freien Lauf – an der einen oder anderen Stelle läuft der Text dann etwas davon, wünschte man sich, näher an Schwitters denn an Draesner zu sein. Aber im Grunde ist dies wiederum auch fast schon symbolhaft: Sprache, so wuchernd und ständig wachsend wie der 1943 zerstörte MERZbau.

Informationen zum Buch:

Ulrike Draesner
Schwitters
Penguin Verlag, 2020
ISBN: 978-3-328-60126-5


Christoph Schlingensief: Kein falsches Wort jetzt

Aino Laberenz zeichnet in dem Band „Gespräche“ ein differenziertes und komplexes Bild ihres Mannes Christoph Schlingensief. Ein Gastbeitrag von Gudrun Glock.

Bild: Gudrun Glock

Ein Gastbeitrag von Gudrun Glock

„Ich lass‘ die Dinge aufeinanderprallen. Das soll keine Provokation bedeuten, Provokation wäre trivial, sondern eher eine Art Erfrischung.“

Aino Laberenz, Ehefrau und Mitarbeiterin von Christoph Schlingensief, hat mit den Aufzeichnungen aus Gesprächen und Interviews mit Schlingensief ein sehr lebendiges Bild ihres Mannes entstehen lassen. „Christoph wollte, dass man sich seine Arbeit möglichst unvoreingenommen ansieht und sich bis zum Ende darauf einlässt“, sagt Laberenz und fügt an: „Was er von sich selber eingefordert hat, erwartete er auch von seinem Gegenüber“. So ist ein sehr differenziertes, komplexes und nachvollziehbares Bild entstanden, von dem Mann, der vielen das Klischee vom abgefahrenen, verzottelten und wirren Provokateur gegeben hat.

In chronologischer Anordnung, von seinem Kinodebut „Tunguska – die Kisten sind da“ von 1984, bis zu seinem letzten Interview mit Max Dax von der Musik- und Popkulturzeitschrift „spex“ 2010, in dem er unumwunden erklärt, „ich habe geklaut“, wirft das Buch Streiflichter auf jedes Genre, das Schlingensief bedient hat, seine Intention und Motivation.

„Ich will mit Kräften spielen“

Wo die einen ihm eine bescheidene Jugend nachsagen, um sich die Düsternis seiner Filme zu erklären, winkt er ab. Er besteht darauf, dass es ausschließlich um Kraft, Energie und Rhythmus gehe, keineswegs um Provokation, „ich will ja niemand reinigen, sondern mit Kräften spielen.“ Das muss man auf sich wirken lassen und nicht jeder hat das verstanden. Sehr oft muss ich schmunzeln. Über die herrlichen Statements dieses Künstlers, der sich jeglicher Einordnung entzieht. Über seine Konzepte, die einzig dazu dienen, keine zu sein. Und über mich, die Leserin, die aufgefordert ist, einzusteigen, was Schlingensief ganz klar zum Ausdruck bringt: „Die Kisten sind da (…) und jetzt verlange ich vom Zuschauer, dass er mich als Regisseur endlich mal vergisst, als jemand der etwas über den Tisch reicht wie Zucker und Kaffee, sondern jetzt soll der Zuschauer anfangen, die Kisten auszupacken.“

Als er auf seine Krankheit angesprochen wird, sagt er, „Krebs, das merkt man sehr schnell, ist nicht universell. Er ist bei jedem anders.“ Genau wie dein Schaffen, denke ich mir. Und am Ende brauche ich eine ganze Weile, bis ich wieder ganz aufgetaucht bin. Ich habe einem atemberaubenden Menschen näherkommen dürfen – atemberaubend schnell, atemberaubend ehrlich, atemberaubend facettenreich – unvergesslich!

Ein Gastbeitrag von Gudrun Glock


Zur Gastautorin:

Gudrun Glock  lebt und arbeitet bei Augsburg, wo sie für ein Augsburger Magazin  Beiträge, Buchrezensionen und die Kolumne „Nahrungskette“ schreibt. Ihr Hauptinteresse und Betätigungsfeld gilt dem Ernährungsaspekt der Ayurvedischen Lehre. Sie sagt dazu: „Wir kommunizieren während des Essens. Und Essen selbst bedeutet Kommunikation. Deshalb könnte man auch sagen, das zentrale Thema meiner Arbeit ist die Kommunikation, denn das ganze Leben ist Kommunikation.“
Homepage: http://augsburg-ayurveda.de/ 


Informationen zum Buch:

Christoph Schlingensief
Herausgeberin: Aino Laberenz
Kein falsches Wort jetzt. Gespräche
Kiepenheuer & Wisch
Erscheinungstermin 20.08.2020
336 Seiten
ISBN: 978-3-462-05508-5

Jutta Reichelt u.a.: Blaumeier oder der Möglichkeitssinn

Das Bremer Kreativprojekt Blaumeier begeistert seit Jahren sein Publikum. Ein Buch erzählt von den Menschen, die dahinterstehen, und davon, dass beinahe nichts unmöglich sein muss.

„So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“

Das Zitat von Robert Musil aus dem „Mann ohne Eigenschaften“ ist schon eine Blaupause für dieses Buch. Und was für ein Buch! Es macht schon durch sein Äußeres deutlich, dass es etwas Besonderes ist. Das Format! Die Haptik! Man kann es auf den Kopf stellen und dennoch etwas lesen. Das Layout rückt Dinge durcheinander und gerade. Da ist so viel Weißraum, wie die Gestalter sagen, Freiraum würde ich meinen, ist das, der Platz lässt für eigene Gedanken. Fotografien, die nicht nur schön sind und schwarzweiß, weil das einfach besser wirkt, sondern die Bilder sind, die Geschichten erzählen.

Und dazwischen immer wieder dieses Blau. Blau, blau, blau sind alle meine … in dem Fall: Blaumeier. Ich lese den Titel „Blaumeier oder der Möglichkeitssinn“ und mir kommt profanerweise nicht das Musil-Zitat in den Kopf, sondern als Ohrwurm dreht sich der Slogan aus der Werbung in Dauerschleife: „Nichts ist unmööööööööööööööööglich…!“

Blaumeier stehen für Inklusion und Gleichberechtigung

Aber das passt irgendwie auch, zu diesem Buch und zu seinen Protagonisten: Nichts ist unmöglich, wenn man Mitmacher, Gleichgesinnte und Unterstützer findet. Blauäugig wäre es zwar, nicht zu wissen, dass es auch Grenzen gibt, die die Gesellschaft errichtet, wie es beispielsweise in der Geschichte von Aladdin, dem Profi, aufscheint. Aber man darf auch nicht blau machen im Streben nach Inklusion und Gleichberechtigung – und das stellen die Blaumeier seit Jahrzehnten unter Beweis. Nicht aufgeben, Träume verwirklichen, einfach machen.

Was ist das für ein Buch und wer sind sie, diese Blaumeier?

„Es gibt ziemlich viele Menschen, die Blaumeier kennen“, schreibt Karolin Oesker vom gleichnamigen Verein. „In Bremen sowieso, aber auch an vielen anderen Orten: die Salonskis sind schon in Moskau aufgetreten, die Maler:innen haben in New York ausgestellt, die Süßen Frauen waren in Durban, die Fotograf:innen in Riga und der Chor Don Bleu in Peking – um nur einige der Städte zu nennen, an denen Blaumeiergruppen das Publikum begeistert, bezaubert und oft auch berührt haben.“

Das ist, wenn man weiß, wie Blaumeier entstand und woher die beteiligten Menschen kommen, keine Selbstverständlichkeit, immer noch nicht. Der Verein entwickelte sich im Zuge der Psychiatriereform: Bis weit in die 1980er-Jahre gab es in der ganzen Bundesrepublik noch Langzeitstationen beziehungsweise Kliniken, die mehr Heimen glichen, in denen psychisch Kranke quasi hospitalisiert waren. So auch in der Langzeitpsychiatrie Kloster Blankenburg bei Oldenburg, die erst 1986 aufgelöst wurde. In einem Ateliergebäude im Bremer Stadtteil Walle wurden nach der Auflösung des Hauses erste künstlerischen Angebote für Menschen mit und ohne Behinderung geschaffen: Vor allem für das Maskentheater, das auch Menschen, die nicht sprechen können oder wollen, den Einsatz auf der Bühne ermöglicht, wurden die Blaumeier mehr und mehr berühmt. Aber auch andere Künste werden gemeinsam ausgeübt: Es gibt eine Schreibwerkstatt, Kurse für Fotografie, Bildende Kunst, für Musik.

Die Menschen stehen im Mittelpunkt

Die Menschen, die sich hier engagieren und kreativ ausleben, einmal in den Mittelpunkt zu stellen, war Anliegen dieses Buches – 25 von den 250, stellvertretend für die vielen Gesichter und Stimmen, die Blaumeier prägen. Dass das Ganze aber kein gewöhnliches Buch mit Portraits geworden ist, sondern im Grunde ein optisches und inhaltliches Kunstwerk, verwundert bei so viel Talent an einem Ort wenig. Und zudem hat Schriftstellerin Jutta Reichelt, die selbst lange in der Theatergruppe  Die Salonskis mitwirkte, in den Texten von klassischen Portraiterzählungen Abstand genommen.

Die Textformen sind so individuell wie die vorgestellten Personen selbst, die Texte legen die Menschen nicht auf einige prägende Charaktereigenschaften fest, sie nähern sich an, sie stellen Fragen – und geben so, manchmal fast schon beiläufig, den Blick auf Dinge frei, die uns alle angehen, die jeden von uns beschäftigen und umtreiben.

„Die Masken reizen sie. Überhaupt das Theaterspielen. Rollenwechsel. Die versucht sie jetzt auch im Alltag. Lehnt sich einfach mal zurück und lässt die anderen machen. Manchmal tut sie so, als sei es das Normalste auf der Welt, sich nicht um andere zu kümmern. Und gelegentlich spielt sie sogar mit dem Gedanken, dass sie ein Recht hat, hier zu sein. Wie alle anderen auch. Einfach so.“

Eine Stärke dieser Texte ist es, dass man sie schon sehr aufmerksam lesen muss, dass man sie mitunter auch mehrfach lesen muss, wenn man partout genau wissen möchte, ob nun einer der gerade portraitierten Blaumeier ein Kreativer mit oder ohne Behinderung ist. Weil es meist auch um ganz andere Fragen geht: Wieviel Kunst braucht der Mensch? Und was macht sie mit einem die Kunst. Es wird erzählt von der Angst vorm Scheitern, dem Lampenfieber, den Schreibblockaden. Und wie es dann ist, wenn der Applaus kommt, die Befriedigung, wenn ein Projekt abgeschlossen ist.

Von Talenten und Träumen und vom Wünschen

Und ist die Unterscheidung in Nicht- oder Doch überhaupt wichtig? Und ist es nicht das, was Projekte wie Blaumeier und andere und was auch dieses Buch erreichen will: Dass der Mensch mit seinen Talenten, Fähigkeiten, Wünschen und Träumen zählt und sonst nichts anderes?

Aber außerhalb von Blaumeier wird eben noch allzu oft differenziert und ausgegrenzt – auch das machen diese Portraits auf ihre behutsam-antastende Weise deutlich: Vielleicht fährt Jürgen nicht nur nicht mehr mit der Bahn, „weil jeder Gang schlank macht“, sondern vielleicht auch, weil er die abschätzenden Blicke anderer nicht mehr erträgt? Oder wie wäre es, wenn Aladdin, der Profi, der schon in mehreren Filmen mitgewirkt hat, wie jeder andere Schauspieler auch als Profi wahrgenommen würde?

„Aladdin ist ein Profi. Oder etwas sehr Ähnliches. Wenn Aladdin noch etwas fehlt zum richtigen, vollständigen Profi, dann ist es nicht Talent oder Erfahrung, Disziplin oder Begeisterung. Das alles besitzt Aladdin. Der einzige Grund dafür, dass Aladdin noch kein vollständiger Profi ist: Es ist nicht vorgesehen!“

Weil es nicht vorgesehen ist, dass Theater, Film oder Fernsehen Schauspieler:innen mit Behinderung beschäftigen, dass Schauspielschulen sie ausbilden, es ist ja noch nicht einmal selbstverständlich, dass Menschen mit Behinderung auch von Menschen gespielt werden.

Fragen, die es noch zu beantworten gilt – und weil dieses Buch solche Fragen stellt, reicht es weit hinaus über die Geschichte eines Bremer Kreativprojektes, sondern wird zu einem Buch, das auch jene, die die Blaumeier noch nicht erlebt haben, ins Grübeln kommen, vielleicht auch eigene Ideen entwickeln und vor allem mit einem offenerem Blick und einem neuerwachten Möglichkeitssinn durch die Welt gehen.


Informationen zum Projekt:

Mehr Informationen über die Blaumeier und viele Geschichten finden sich hier: https://www.blaumeier.de/

Das Buch selbst kann auch dort im Shop erworben werden: https://www.blaumeier.de/de/shop/

Kristof Magnusson: Ein Mann der Kunst

Mit milder Ironie zeichnet Kristof Magnusson in seinem dritten Roman ein Bild kulturbeflissener Bildungsbürger und schwieriger Künstler. Herrlich unterhaltsam!

Bild von Kai Pilger auf Pixabay

„Die Hansens waren also intensiv damit beschäftigt, sich vorzubereiten. Sich einzulesen, was eines ihrer Lieblingsworte war, wobei Martha Hansen eine noch größere, protestantisch-textbegeisterte Ernsthaftigkeit an den Tag legte als ihr Mann. Das Wichtigste war dabei für Martha Hansen stets: ein kritisches Bewusstsein!
Und Martha Hansens kritisches Bewusstsein vertrug sich eben nicht mit dem kritischen Bewusstsein, das KD Pratz auf seinen Bildern so deutlich zur Schau stellte. Immer wieder, gerade wenn sie nun in dem Heft die älteren Bilder von KD Pratz betrachtete, sagte sie: »Das Bild spricht nicht zu mir.«

Kristof Magnusson, »Ein Mann der Kunst«

Wer sich ab und an auf Vernissagen, kulturellen Veranstaltungen oder aber im Gehege eines Kunstvereins tümmelt, der wird an diesem Roman ein besonderes Vergnügen haben. Mit milder Ironie und sehr scharfsichtig nimmt Kristof Magnusson, der zunächst vor allem durch seine Theaterkomödien bekannt wurde, in seinem inzwischen dritten Roman die Kunstszene aufs Korn. Das ist herrlich zu lesen, nah an der Realität und äußerst unterhaltsam.

Der Plot: Ein Frankfurter Kunstverein, der sich für das kleine, aber ambitionierte Museum Wendevogel einsetzt, bekommt ein Grundstück vererbt. Landes- und Bundesmittel werden in Aussicht gestellt, wenn dort ein eigener Anbau für die Werke des Malerfürsten KD Pratz entsteht. Der als schwierig geltende Künstler, der seit Jahren zurückgezogen auf einer Burg im Rheingau lebt, ist unter den Mäzenaten jedoch nicht unumstritten. Also geht es auf zu einer Busfahrt für Kulturbeflissene, eine Butterfahrt für Geld- und Kunstleute gewissermaßen, um den Künstler vor Ort in seinem Atelier zu begutachten. Ein Vorhaben, das im kreativen Chaos endet …

Kunstliebhaberinnen auf Butterfahrt

Ich-Erzähler „Consti“, seines Zeichens Architekt und Sohn der kunstbegeisterten, alleinerziehenden, feministisch-grün angehauchten Psychotherapeutin Ingeborg, begleitet die Mutter, eine frustrierte Museumsassistentin, einen ehrgeizigen Museumsleiter, ein „Einstecktuch“ (sprich Geldsack) sowie einige weitere prägnante Typen auf dieser Wochenendreise. Das ist plastisch beschrieben, mit viel Gespür für die einzelnen Figuren – man sieht sie förmlich vor sich, die Damen in lockeren Leinen- und bunten Seidengewändern, bestückt mit auffälligem Holzhalsschmuck und Designerbrillen, die Herren im Rollkragenpullover oder legerem Freizeitlook.

Als die Gruppe mit dem ewig grantigen Maler zusammentrifft, stoßen zwei Welten aufeinander und Erzähler Constantin wird mehr und mehr zum Vermittler zwischen den beiden Parteien.

»KD Pratz tat mir leid. Es war eine Gemeinheit von uns, ihn mit der Aussicht auf sein eigenes Museum aus seiner Isolation zu locken. Seinen Ruhm, seine Produktivität, seine besten Bilder verdankte er dieser Isolation, nun sollte er sie aufgeben, uns nett empfangen und gleichzeitig weiterhin den entrückten, genialischen Einsiedler geben.«

Künstlerischer Narzissmus

Was Constantin hier wohl unterschätzt: Die Entrücktheit ist Teil der Show, der Imagebildung. Und angetrieben ist der Künstler von seinem ihm eigenen Narzissmus – ein eigenes Museum, da macht selbst ein KD Pratz Kompromisse. Mit seinem KD Pratz hat Magnusson einen Künstler erschaffen, der durchaus an lebende Vorbilder erinnert, mich zu allererst übrigens an Markus Lüpertz. Magnusson selbst stellt andere Bezüge her:

»Provokant könnte man sagen, dass KD Pratz detailverliebter als Gerhard Richter ist, archaischer als Anselm Kiefer und expressiver als Georg Baselitz.«

Lover von Marina Abramović

Durch eine kurzfristige Beziehung mit Marina Abramović, die der Autor seinem Künstler gönnt, gewinnt die Kunstfigur KD Pratz zudem noch mehr an Realitätsnähe. Sein Liebesleben, sein Umgang mit Frauen und die Art, sie darzustellen, führt jedoch zum Eklat zwischen der kritischen Ingeborg und dem egomanischen Künstler – und so scheint am Ende der Traum von einem KD Pratz-Museum ebenso ins Wasser zu fallen wie die Kunstwerke, die er in den vergangenen Jahren schuf: Eine spontane „life performance“, bei der die Kunstvereinsmitglieder angeführt von KD Pratz dessen Bilder im Rhein versenken, gehört zu den amüsanten Höhepunkten dieses Romans.
Ob es doch noch zu einem KD-Pratz-Museum kommt? Das sei hier nicht verraten. Nur so viel: Es gibt einen herrlich übertriebenen Showdown im Guggenheim in New York – und alle sind zufrieden.

„Ein Mann der Kunst“ ist eine schwungvoll geschriebene Satire, die das Kunstleben und die Mechanismen des Kunstmarkts mit liebevollem Spott beschreibt. Prädikat: Unterhaltsam!

Informationen zum Buch:

Kristof Magnusson
Ein Mann der Kunst
Verlag Antje Kunstmann, 2020
Hardcover, 240 Seiten, 22,00 Euro
ISBN: 978-3-95614-382-3

Dieter Lohr: „Ohne Titel. Aquarell auf Karton. Unsigniert.“

Mit einem vielstimmigen Text nähert sich Dieter Lohr dem Schicksal des Dadaisten Alfred Seidl an, der beinahe zum Opfer der Euthanasie geworden wäre.

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Alfred Seidl (1892 – 1953), ohne Titel, um 1922, Aquarell auf Papier, 9 x 19,3 cm © Sammlung Prinzhorn, Universitätsklinik Heidelberg (Inventarnummer 4502)

Karthaus, 3. Februar 1933

Lieber Florian!

Was ist denn nun die ostmärkische Scholle? Ist`s Regensburg, ist es Karthaus? München auf alle Fälle ist es nicht, und wer alle heiligen Herrschaftszeiten in der heiligen Heimat vorbeizuschauen sich genehmt und dann seinen werten Herrn Bruder, den wahrhaft Schollenverhafteten, in seiner Schollerei für nicht besuchswürdig erachtet, der ist ein Auswanderer, mein Herr, und nicht bemächtigt, sich Schollenkönig zu nennen. Lass er sich das gesagt sein.
Ob das neue Kabinett Hitler was dran ändert?

Es grüßt
Alfred

Glückwunsch zum neuen Stück; möge ihm Erfolg beschieden und beschienen sein.

Dieter Lohr, „Ohne Titel. Aquarell auf Karton. Unsigniert.“


Ist der Brief fiktiv oder nicht? Ist`s ein dokumentarisches Zeugnis, ist es Fiktion? Die Leser bleiben am Ende im Ungewissen. Und doch entsteht ein greifbares Portrait, ersteht ein Leben wieder auf in all seiner Dramatik und am Ende ist es auch gleichgültig, was von den Mosaiksteinen in diesem interessant konstruierten Buch Wahrheit ist und was Dichtung: Fassbar wird dennoch das Schicksal eines Malers und Schriftstellers zwischen Genie und Wahnsinn und das Barbarentum einer wahnsinnigen Zeit.

Frühe Anzeichen einer psychischen Erkrankung

Alfred Seidl, soviel ist gewiss, kam 1892 als Sohn einer gutbürgerlichen Familie auf die Welt. Nach einem abgebrochenen Jurastudium in München ging er zurück in seine Heimatstadt, betätigte sich dort als Maler und Schriftsteller. Früh zeigt er Symptome einer psychischen Erkrankung, 1921 wird er das erste Mal in die Heil- und Pflegeanstalt Karthaus-Prüll eingewiesen. Dort will man in der Zwischenkriegszeit in der Behandlung psychisch Kranker Reformen einführen, so wird die Arbeitstherapie ausgebaut, aber auch das kreative Talent der Patienten gefördert. Seidl, der sich dem Dadaismus nahe fühlt, schafft einige Werke, die nicht zuletzt auch in die berühmte Prinzhorn-Sammlung gelangen.

Euthanasie trifft psychisch kranke Menschen

Die Reformbemühungen in der Psychiatrie werden mit dem Nationalsozialismus gestoppt, die Heilanstalten zu Tötungsanstalten, mit der Aktion „T4“ setzt die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ ein. Auch Alfred Seidl, der schillernde, auffallende Künstler, der gerne mal im Kaftan oder im Büßerhemd durch Regensburg wandelt, soll mit den „grauen Bussen“ in den Tod transportiert werden. Gerettet wird er von seinem Bruder Florian – ein Schriftsteller, der mit Volk- und Boden-Literatur Karriere macht, strammer Nazi ist und dessen Name in Regensburg noch lange für heftige Diskussionen sorgte: Erst 1999 wird eine nach ihm benannte Straße umbenannt, nachdem es heftige Diskussionen gegeben hatte.

Im Zentrum des Buches stehen jedoch nicht die Briefe zwischen den Brüdern – oder vielmehr die Briefe Alfreds an Florian, Gegenstücke sind nicht enthalten. Vielmehr, und das ist ein Problem der komplexen Konstruktion, ist diese fiktionale Annäherung an eine Biographie ein Mosaik aus dokumentarischen Texten, denen zuweilen das Zentrum abhandenkommt.

Zeitzeugnisse und Dokumente über den Künstler

Wo die biographische Erzählung ergänzt und unterbrochen wird durch Originaltexte um die Themenkomplexe der „Art Brut“, der Euthanasie, der Psychiatriegeschichte und des Umgangs der Nationalsozialisten mit Kranken und Behinderten, durch Zeugnisse der Regensburger Zeit, Reden, Briefe und Zeitungsartikel, sowie durch Gedankensplitter eines Vincent (die Nähe zu van Gogh ist unverkennbar), der wohl das alter ego Alfred Seidls ist, wird „Ohne Titel“ zu einem eindringlichen Buch, das vor Augen führt, was Intoleranz (auch eine Mahnung in die Gegenwart hinein) und Rassenwahn zur Folge haben.

Doch Lohr führt mit zwei weiteren Ebenen, die in der Gegenwart spielen – dort treiben ein Kunstkäufer und eine Kunstagentin den Markt für den bis dahin noch wenig bekannten Art brut-Künstler Seidl an und es kommt der Autor, der im Dialog mit einem unbenannten Anderen die Vorgänge des Buches reflektiert, selbst zu Wort – ein weiteres Thema ein, das als Kritik am Kunstmarkt verstanden werden könnte. Dass auf dem Kunstmarkt „art brut“ hoch gehandelt und gefeiert wird, die Künstler selbst und deren Schwierigkeiten am Leben darüber selbst jedoch oftmals vergessen werden – das ist ein Punkt, der aus diesen Ebenen jedoch nicht klar hervorgeht, der in der Fülle des Materials ein wenig verschwindet. Auch wenn es die Intention des Autors Dieter Lohr ist, die Leser im Ungewissen zu lassen, was „echt“ und was „gefälscht“ ist – die Vielzahl der Stimmen lenkt vom Kern ab, erschwert den Zugang.

Aber es soll nicht mit Erbsenzählen enden: „Ohne Titel. Aquarell auf Karton. Unsigniert.“ ist ein wichtiges, eindringliches Buch, das mit der fiktionalen Biographie eines Einzelnen auf ein Thema hinführt, das nicht vergessen werden darf.

„Erbsünde erbkrankt die Erblinde. Erblindung des Erbschmerzes, des Welt- und Erbschmerzes im Erblassen erblasen erlesen des Erbenzählers Zahlen. Zahlenzähler. Erbrechen erbrechnen abrechnen, abzählen. Ab und zu Müllers Kuh im Schafsgewand im Erbsünderhemd der Erbsünderbock die Erbsengemeinschaft.“


Informationen zum Buch:

Dieter Lohr
„Ohne Titel. Aquarell auf Karton. Unsigniert.“
BALAENA Verlag, Landesberg am Lech, 2020
Gebunden, 372 Seiten, umfangreiches Namensverzeichnis, 32,00 Euro
ISBN 978-3-9819984-2-9

Homepage von Dieter Lohr: http://dieterlohr.de/

Barbara Beuys: Maria Sibylla Merian

Eine der Frauen, die in Wissenschaft und Forschung einen bedeutenden Beitrag geleistet haben, ist Maria Sibylle Merian. Ihr werden die Grundlagen der Insektenforschung zugeschrieben.

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Bild von Larisa Koshkina auf Pixabay

Sabine vom Blog „Binge Reading & More“ hat die interessante Reihe „Women in Science“ ins Leben gerufen: Frauen, die in vielen Bereichen der Wissenschaften und Forschung einen bedeutenden Beitrag geleistet haben, werden dabei in den Mittelpunkt gestellt. Die Bloggerinnen, die sich mit Texten beteiligten, portraitierten dabei so unterschiedliche Wissenschaftlerinnen wie die Informatik-Pionierin Grace Hopper, die Philosophin Hannah Arendt oder die Verhaltensbiologin Elisabeth Oberzaucher. Und für mich ein guter Anlass, mich endlich einmal näher mit Maria Sibylla Merian zu beschäftigen.

Mein Text über die berühmte Insektenforscherin und Künstlerin:

Surinam! Schon der Name klingt wie eine exotische Verheißung. Zwar steht das kleinste unabhängige Land Südamerikas nicht auf der Top Ten der Reiseländer, doch ist es für Touristen inzwischen relativ bequem zu besuchen. Aber was bewegte vor mehr als 300 Jahren eine Frau dazu, sich von Amsterdam aus auf eine nicht ungefährliche Seereise in dieses exotische Land aufzumachen? Was bewegte diese Dame anno 1699 dazu, die Strapazen und Gefahren solch eines Unternehmens auf sich zu nehmen? Um es kurz zu machen: Es war der reine Forschungstrieb.

Erstmalige Erforschung der Flora und Fauna Surinams

Der Aufenthalt in der niederländischen Kolonie Surinam, den sie wegen gesundheitlicher Beschwerden 1701 vorzeitig beenden musste, war sicher das größte Abenteuer im Leben der Maria Sibylla Merian, die aber auch sonst nicht über mangelnde Beschäftigung und Abwechslung klagen konnte. Mit der erstmaligen Erforschung der Flora und Fauna Surinams war die gebürtige Frankfurterin im Grunde die Wegbereiterin für Alexander von Humboldt und andere, die naturwissenschaftliches Interesse nach Südamerika zog.

Welche Bedeutung die Forscherin heute noch für das kleine Land hat, zeigt sich am Geschenk, das die Niederlande der ehemaligen Kolonie 1975 zur Unabhängigkeit machte: Surinam erhielt eine der raren Originalausgaben der „Metamorphosis insectorum Surinamensium“. Das opulente Werk mit Kupferstichen und Texten, das als Folioausgabe erschien und von Merian zum Teil handkoloriert wurde, gilt als ihr Hauptwerk, die wenigen erhaltenen Originalbände sind inzwischen bibliophile Kostbarkeiten.

Wer aber war diese Frau, die sich wegen einiger Insekten und Raupen, um es salopp auszudrücken, in solche Abenteuer stürzte?

Kind einer Verlegerfamilie

Maria Sibylla Merian wird am 2. April 1647 in Frankfurt geboren. Sie stammt aus der berühmten Verlegerfamilie, jedoch aus der zweiten Ehe von Matthäus Merian dem Älteren. Der Vater stirbt bereits drei Jahre nach ihrer Geburt, die Mutter heiratet erneut, den Maler Jacob Marrel. Die künstlerische Ader ist ihr also bereits schon durch die väterliche Familienseite mitgegeben, der Stiefvater wird dieses Talent fördern und ihr den Weg für ihre spätere berufliche Karriere bereiten.

Der Name Merian nutzt der kleinen Familie zunächst wenig: Maria Sibyllas Halbbrüder übernehmen die Verlagsgeschäfte, die Stiefmutter, wird gemieden und finanziell abgespeist. Maria Sibylla geht schon in frühen Jahren beim Stiefvater Marrel in die Lehre, arbeitet in dessen Atelier – oder besser Kunstwerkstatt – mit. Nichts Ungewöhnliches zu dieser Zeit, wie die Merian-Biographin Barbara Beuys hervorhebt:

„Zu sehr hat das 19. Jahrhundert, als Bürgertöchter keinen Beruf erlernen durften, weil standesgemäßes Frauenleben sich nur mit Kindern, am Herd und im häuslichen Salon abspielte, den Blick dafür verstellt, dass in ferneren Epochen Gleichberechtigung Realität war – bei Handwerkern wie bei Kaufleuten. (…) Die mittelalterliche Stadt hatte die Frau aus der Vormundschaft ihrer Verwandten und ihres Mannes befreit; sie wurde eine Person eigenen Rechts und war geschäftsfähig. Finster dagegen war die moderne Zeit.“

Frühe Unabhängigkeit erlernt

Diese hohe Selbständigkeit und Unabhängigkeit wird sich Maria Sibylla Merian auch im weiteren Lauf ihres ungewöhnlichen Lebens bewahren. Von ihrer Herkunftsfamilie bekommt sie dafür das nötige Rüstzeug mit: Neben ihrem künstlerischen Talent die entsprechende Ausbildung und kaufmännisches Geschick. Später wird sie dies als Verlegerin ihrer Werke – heute wäre sie „Selfpublisherin“ – gut gebrauchen. Neben der künstlerischen Ader ist die junge Merian jedoch auch noch von einer anderen Eigenschaft geprägt: Einer unbändigen Neugier auf alles, was kreucht und fleucht.

Aus den wenigen Quellen geht nicht eindeutig hervor, warum sich die 13-jährige plötzlich mit Seidenraupen beschäftigte – ein doch etwas ungewöhnliches Hobby zu jener Zeit. Barbara Beuys, die 2016 ihre ebenso kenntnisreiche wie unterhaltsame Merian-Biographie veröffentlichte, verweist auf den damals gängigen Handel mit Seide und Seidenraupen. Der Bruder von Merians Stiefvater ist ebenfalls in diesem Metier tätig. Vielleicht wurde so das Interesse des Mädchens an den Insekten geweckt. Im Vorwort zu ihrem Surinam-Buch schreibt sie:

„Ich habe mich von Jugend an mit der Erforschung der Insekten beschäftigt. Zunächst begann ich mit Seidenraupen in meiner Geburtsstadt Frankfurt am Main. Danach stellte ich fest, dass sich aus anderen Raupenarten viel schönere Tag- und Eulenfalter entwickelten als aus Seidenraupen. Das veranlasste mich, alle Raupenarten zu sammeln, die ich finden konnte, um ihre Verwandlung zu beobachten. Ich entzog mich deshalb aller menschlichen Gesellschaft und beschäftigte mich mit diesen Untersuchungen.“

Grundlagen der modernen Insektenforschung gelegt

Woher auch immer das Interesse kam, „das junge Mädchen füttert in einer Spanschachtel, die geschlossen, aber mit Luftlöchern versehen ist, über Tage und Wochen eine Seidenraupe. Es beobachtet, wie das Tier mit dem Spinnen des Seidenfadens beginnt und nach acht Tagen von einem festen Seidenkokon umgeben ist.“ Es ist der Beginn einer Karriere, die Maria Sibylla Merian in den Rang einer der wegweisenden Insektenforscherinnen erheben wird, auch wenn sie manchmal einseitig nur als „Künstlerin“ wahrgenommen wird. Tatsache aber ist, dass sie durch ihre jahrzehntelange Beobachtung und Protokollierung der Entwicklung von Raupen, deren Nahrungsgewohnheiten, deren Entwicklungsstadien usw., die Grundlagen für die moderne Insektenforschung mitbestimmte. Barbara Beuys betont:

„Forschung und Kunst, Kunst und Forschung sind bei Maria Sibylla Merian nach ihrer eigenen Auskunft von Anfang an eine ausgewogene Partnerschaft eingegangen. Es gab keinen Bruch. Sie war nicht hin- und hergerissen, sondern führte die beiden Begabungen auf ideale Weise zusammen.“

1665 heiratet Maria Sibylla den Maler Johann Andreas Graff, ebenfalls ein Schüler ihres Vaters. Das Paar bekommt zwei Töchter, die das naturwissenschaftliche Interesse der Mutter später teilen, sie in ihrer Arbeit unterstützen und das Ganze zu einem Familienunternehmen ausbauen. Doch zunächst ist ein Ortswechsel angezeigt: 1670 zieht die Familie nach Nürnberg, wo die junge Frau durch Zeichenunterricht und den Handel mit Malutensilien zum Lebensunterhalt der Familie beiträgt. In Nürnberg entstehen zudem ihre ersten Bücher. Das „Neue Blumenbuch“, ein Musterbuch für stickende Damen, und das zweiteilige „Raupenbuch“. Es muss recht eigenartig ausgesehen haben in diesem Haushalt: Neben den Handwerksutensilien der Maler standen wohl allerorten Schachteln mit Raupen. Und es konnte, wie Barbara Beuys erläutert, durchaus geschehen, dass die Hausfrau beim Bearbeiten von Geflügel mehr Interesse für die Maden aufbrachte, die sie im Inneren der Vögel fand, als für die Zubereitung des Mittagessens.

Umzug zu einer Kolonie von Urchristen in den Niederlanden

Daran ist die Ehe wohl nicht gescheitert – die eigentlichen Gründe dafür werden für immer im Dunkeln bleiben. Allerdings ist das Geschehen, wie Briefzeugnisse zeigen, vor allem für Johann Andreas Graff dramatisch: Nach zwanzig Jahren Ehe beschließt die Merian, gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Töchtern in eine urchristliche Kolonie im niederländischen Friesland zu ziehen. Was Barbara Beuys über das Leben der Labadisten schreibt, erinnert an strenges, engherziges Sektierertum – dennoch aber scheint Maria Sibylla Merian hier den nötigen Abstand und die Ruhe für ihre Arbeiten zu finden. 1692 wird die Ehe geschieden.

1691 zieht sie nach Amsterdam, damals das Tor zur Welt. Es gelingt ihr auch dort wieder, ein eigenes Leben, eigene Geschäftstätigkeit und Beziehungen aufzubauen. Mit ihrem anschließenden Umzug nach Amsterdam habe sich Merian wiederum „genau die internationalen Kontakte“ gesucht, die sie für ihre weitere Forschungsarbeit benötigt habe, meint Barbara Beuys:

„Amsterdam war damals die Weltmetropole. Dort kamen Schiffe an aus aller Welt, mit exotischen Gewürzen aber auch Pflanzen und Tieren. Und dort ist sie ein- und ausgegangen bei den Gelehrten, sie war befreundet mit dem Bürgermeister, auch das in damaliger Zeit kein Problem.“ 

Vielleicht trieb sie dabei auch die Neugier auf ein fernes Land namens Surinam an: Denn die frühpietistische niederländische Sekte, der sie angehörte, war eng mit dem Gouverneur von Surinam verbunden. Schon in Friesland muss sie viel über die Kolonie erfahren haben. Dennoch: Von der Neugierde bis zur selbstfinanzierten Forschungsreise ohne männlichen Begleitschutz ist es ein weiter Weg. Das ganze Vorhaben war seinerzeit die reinste Sensation, viele Freunde rieten der Merian von der Reise ab. Ohne Erfolg: 1699 schiffte sie sich ein.

Rückkehr nach Amsterdam

Zwar von der Malaria und anderen Krankheiten geschwächt, nahm die Forscherin dennoch nach ihrer Rückkehr zu den Grachten 1701 ihr geschäftiges Leben wieder auf. Auch nach einem Schlaganfall arbeitete sie trotz der körperlichen Einschränkungen noch bis zu ihrem Tod 1717 diszipliniert weiter. Zumal ihr auch nichts anderes übrig blieb: Trotz ihrer guten Kontakte und vielfältigen Beziehungen, trotz ihres Handels mit Malutensilien und dem Verkauf ihrer Bilder und Präparate sowie anderer geschäftlicher Unternehmungen, verstarb Maria Sibylla Merian unvermögend. Viel Geld wird in die von ihr mit viel Aufwand und Liebe zum Detail erstellten Bücher geflossen sein.

Und gerade deshalb, weil sie sich diese Neugier an einem bis dahin unbeachteten Element der Natur – Insekten waren für die Forscher jener Zeit kein bemerkenswerter Gegenstand – von ihren Mädchenjahren bis ins hohe Alter bewahrte, weil sie sich von der Lust an der Erkenntnis leiten ließ, gerade deshalb kann man von einem erfüllten Leben sprechen. Barbara Beuys schreibt:

„Was von Maria Sibylla Merian bleibt, ist das Bild einer Persönlichkeit, deren Leben trotz der selbstgewählten Umbrüche und inmitten des dramatischen Übergangs von mittelalterlichen Gewissheiten in eine moderne, ungewisse Zeit, gelassen und beständig verlief. Maria Sibylla Merian behauptet sich neben ihren eindrucksvollen Büchern als eine Frau, die verwirklichte, was sie früh als ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten erkannte. Die mit konzentriertem Ernst und Ehrgeiz bei der Sache war.“

Informationen zum Buch:

Barbara Beuys
Maria Sibylla Merian: Künstlerin, Forscherin, Geschäftsfrau.
Insel Verlag, 2016
ISBN: 978-3-458-36180-0

Patricia Highsmith: Zeichnungen

Die Malerin Patricia Highsmith stellt sich in einem ganz anderen Licht dar als der mürrische Mensch Highsmith: Hell, verspielt, harmoniebedürftig.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Warum sollte es erstaunlich sein, daß viele Schriftsteller gerne zeichnen oder bildhauern? Vielleicht versuchen sich einige hie und da auch im Komponieren. Alle Künste sind eins, und jede Kunst – auch das Ballett – ist ein Mittel, Geschichten zu erzählen.“

Patricia Highsmith, „Zeichnungen“


„Sie war nicht nett“: Mit diesem Satz beginnt die 2014 in deutscher Übersetzung erschienene Patricia Highsmith-Biographie von Joan Schenkar („Die talentierte Mrs. Highsmith“, Diogenes Verlag). Das Buch, immerhin über 1000 Seiten stark, zeichnet das Portrait einer ebenso talentierten wie schwierigen Persönlichkeit: Eine misanthropische, geizige, kinderhassende (dafür Katzen und Schnecken liebende), ab und an seltsam dümmlich antisemitische, gruselige Person. Wenn ich auch erst im zweiten Drittel der Biographie stecke – ja, für Highsmith-Fans ist sie empfehlenswert, schon wegen  der Materialfülle und weil es sonst wenig mehr über die amerikanische Schriftstellerin gibt. Zwar hat die Biographie ihre Mängel – manches wird ausgewalzt, wiederholt sich, sie ist, trotz des Umfangs, stark auf den Charakter konzentriert und vernachlässigt die literarische Interpretation der Highsmith-Werke – aber Joan Schenkar hat ihr „Objekt“, die talentierte Mrs. Highsmith gut im Griff. Ihr gelingt die Gratwanderung, die dunklen Seiten der Autorin so darzustellen, dass dies den Respekt für die literarische Leistung nicht mindert. Und – je nach Leser – auch Verständnis wächst für die psychischen Auffälligkeiten der am Ende ihres Lebens von Alkoholmissbrauch und Depressionen gezeichneten Frau.

Die Einsiedlerin im Tessin

„Sie war nicht nett“: Nein, beileibe nicht. Aber sie war trotz (oder hinter) ihrer Schroffheit, ihrer Menschenfeindlichkeit ebenso ein Mensch mit einer harmoniebedürftigen, humorvollen, liebevollen, zärtlich-sehnenden Seele. Die jedoch nicht ans Licht durfte, zu sehr überlagert von der gewachsenen Weltablehnung der Einsiedlerin im Tessin.

Man sollte dennoch beim Lesen der Biographie oder einem der Highsmith-Thriller ein besonderes Buch griffbereit haben: 1995 erschienen, ebenfalls beim Diogenes Verlag, „Zeichnungen“ von Patricia Highsmith. Ließ sie in ihren Texten ihren mörderischen, psychopathologischen Anlagen ihren freien Lauf, so stellt sich die Malerin Patricia Highsmith in einem ganz anderen, helleren Licht dar.

Auch Karriere als Graphikerin war denkbar

In jungen Jahren schwankte Highsmith, die aus einer Graphiker-Familie stammte, zwischen ihren beiden Talenten: Malen oder Schreiben? Wohin die Waagschale ausschlug, wissen wir, spätestens ab dem Erfolg von „Der Fremde im Zug“ war der Zug abgefahren und Patricia Highsmith hauptsächlich, hauptberuflich Autorin. Den Zeichenstift zückte sie vor allem nur noch für das Privatvergnügen, Ausstellungen lehnte sie überwiegend ab. Es war daher eine besondere Geste, dass sie 1994 ihrem Verleger Daniel Keel Einblick gab in ihr bildnerisch-künstlerisches Schaffen. Auch weil die unzähligen Bilder die Geschichte ihres Lebens schreiben. Darunter sorgfältig ausgearbeitete Aquarelle, aber auch flüchtige Bleistiftskizzen, sie alle aber halten Lebensstationen, Orte, Menschen, die geliebten Katzen, Reiseskizzen, Begegnungen, Träume fest – die Highsmith, die sonst in der Öffentlichkeit kaum Privates und Persönliches preisgab, öffnete damit ein Stück ihres Innenlebens. Und sie zeigt ein anderes Gesicht: Die Bilder haben nämlich eines gemeinsam – sie sind überwiegend anmutig-heiter, verspielt.

Unterschiedliche Auseinandersetzungen mit der Realität

Für das Buch, das es nur noch antiquarisch gibt, wählte der Verleger 106 Bilder in chronologischer Reihenfolge aus. Patricia Highsmith, die im Februar 1995 starb, schrieb noch ein Vorwort. Dort betont sie:

„Ich befasse mich lieber mit der helleren Seite der künstlerischen Nebenbeschäftigung, wie Zeichnen und Malen. Meine eigenen Werke nehme ich nicht ernst.“

Für Anna von Planta, die dem Bildband ein Nachwort hinzufügte, sind Zeichnen und Schreiben bei der Highsmith „zwei verschiedene Konfrontationen mit der Realität.“

„Kunst, so hat die Schriftstellerin in Interviews wiederholt zu Protokoll gegeben, sei eine Möglichkeit, die Realität auszuhalten, sie zu kontrollieren. Ganz offensichtlich meinte und brauchte sie dazu beides: Malen und Schreiben.“

Mit dem Schreiben, so meine ich, kontrollierte Patricia Highsmith, nach Graham Greene die „Dichterin der unbestimmten Beklemmung“ ihre Ängste, ihre Wut, ihren Zorn auf die Welt. Im Malen kam dagegen – diese Sprache sprechen jedenfalls die Bilder – ihre Liebe zum Dasein (oder auch die Sehnsucht nach einem anderen psychischen Da-Sein) zum Ausdruck.