Björg Björnsdóttir: Der sechste Wintermonat

Mit den Gedichten von Björg Björnsdóttir, die erst im vergangenen Jahr in Island in erschienen sind, haben Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer, zwei unermüdliche Botschafter für die isländische Literatur, deutschsprachigen Leserinnen und Lesern ein besonderes Geschenk gemacht.

Eine sonntägliche Ruhe liegt über der Stadt. Noch setzt sich das Vogelgezirpe gegen den Straßenlärm durch. Durch die Zimmer weht eine frische Brise, die eine Ahnung vom heißen Tag, der kommen wird, mit sich bringt. Gewitterschwüle ist vertagt. Die Nacht wird aus den Augen gerieben, der Tag liegt vor mir wie ein offenes Buch. Das sind Morgenstunden, wie ich sie liebe – und wann, wenn nicht dann, ist die Zeit geeigneter, um Gedichte zu lesen, sich langsam in den Sinn und Gehalt lyrischer Sätze hinzutasten? Wie passend an solchen Tagen auch ein Zyklus über die Jahreszeiten:

Bild von David Mark auf Pixabay

Eine Welt in voller Blüte.

Eine Hummel.
Ein Rasenmäher in einem fernen Garten.

Eine Welt, die war,
eine Welt der Schwerelosigkeit.

Aus: „Heyannir – Der vierte Sommermonat“.

Mit den Gedichten von Björg Björnsdóttir, die 2020 in Island erschienen sind, haben Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer, zwei unermüdliche Botschafter für die isländische Literatur, deutschsprachigen Leserinnen und Lesern ein besonderes Geschenk gemacht.

Der Band „Der sechste Wintermonat“ umfasst einen Jahresreigen. Zwölf Gedichte haben die beiden Übersetzer aus Björnsdóttirs erstem Gedichtband „Árhringur / Jahresring“ übertragen. Dem Zyklus, der wie der isländische Kalender nur die beiden Jahreszeiten Winter und Sommer kennt, ist eine feine Melancholie eingeschrieben, das Wissen vom Werden und Vergehen:

An diesem Morgen
ist die Stadt still.

Wir sind allein,
ich und die Ankunft des Herbstes.

(aus dem „fünften Sommermonat“).

Erinnert an Rilke, gewiss. Doch die isländische Dichterin braucht nicht das ästhetisch Überhöhte, das zuweilen Bombastische, um ihrem lyrischen Ich eine Stimme zu geben, die die „Angst vor dem Unwiderruflichen“ und das „Bedauern“ im Herzen angesichts des Vergehens, vielleicht auch dieser Angst vor einem langen Winter, zum Ausdruck bringt. Wissend, dass der Sommer zwar groß ist, der Winter aber wiederkommen wird, feiert sie vielmehr in zurückhaltenden, stillen Zeilen die „Sanftheit des Augenblicks“. Das ist alles fein und genau beobachtet, voller poetischer Bilder. Naturlyrik, die zeitlos und doch zugleich auch ganz zeitgemäß wirkt. Gedichte, mit denen sich der Sommer genießen lässt – aber Achtung:

Die Tage der Faulenzerei sind vorbei.
Vor mir steht das Fahrrad.

Wehendes Haar,
wilder Wind,
das Stahlross im Windschatten.

Dieser Zyklus, ein poetisches Juwel, kommt auch in einer besonderen, ihm angemessenen Verpackung daher: „Der sechste Wintermonat“ erschien zunächst in der Corvinus Presse als limitierte „Volksausgabe“. Es folgte ein Künstlerbuch mit den signierten Grafiken von Jón Thor Gíslason, handgebunden und in einer Kassette. Doch allein schon die Volksausgabe ist ein Beispiel allerfeinster Buchkunst: Mit den Radierungen des Künstlers, Gedicht für Gedicht sorgsam gesetzt auf einer Linotype und Buch für Buch nach japanischer Art offen gebunden, ist es ein wahrer bibliophiler Schatz.

Wolfgang Schiffer erläutert in einem Beitrag die Entstehung des Buches von der ersten Idee bis zur Herstellung: https://wolfgangschiffer.wordpress.com/2021/04/26/vom-buch-ubers-manuskript-zu-einem-neuen-buch/

Zwei Gedichte in voller Länge bei Signaturen: https://www.signaturen-magazin.de/bjoerg-bjoernsdottir–zwei-gedichte-aus–der-jahresring–.html

Und hier alle Informationen zur Corvinus Presse: https://www.corvinus-presse.de/