Neu im axel dielmann – verlag: Drei Romane, drei Facetten des Lebens und Lesens

Mit drei neuerschienenen Romanen rundet der axel dielmann – verlag sein diesjähriges Literaturprogramm ab. Und zeigt damit alle Facetten des Lebens und Lesens – vom aufregenden Spionagethriller über eine Künstlerbiographie bis hin zum Einblick in den Tag einer Familie.

Nach einem kühnen, aber erfolgreichen Lyrik-Halbjahr im Herbst 2022 und dem großen Auftritt mit 16 Titeln in der »BOX – die wilden Slowenen« zum Gastlandauftritt bei der Frankfurter Buchmesse, konzentriert sich der axel dielmann – verlag aktuell in diesem Bücherherbst ganz auf Romane. Man kann sich auf drei Neuerscheinungen freuen:
Dierk Wolters, Kultur-Chef der Frankfurter Neuen Presse, veröffentlicht bei dielmann seinen zweiten Roman »dienstag«, nachdem sein Debüt bei Weissbooks erschienen war;
Jakob Sturm, Künstler und Raumaktivist, legt im axel dielmann – verlag sein nun drittes Künstler-Buch vor, die Neu- und Umschreibung seines Weges in der Kunstwelt;
Siegfried Schröpf, Schriftsteller und Solar-Unternehmer in Amberg, ist mit seinem vierten Band der »Schöngeist-Serie« bei dielmann, und sein nur selten heldenhafter Anwalt-Protagonist Thomas Schöngeist lotet diesmal gemeinsame Vergangenheiten von Chile und Deutschland aus.

Im Frühjahr werden, um die editorische Vielfalt auch in dieser Hinsicht ins Gleichgewicht zu stellen, drei großartige Autorinnen mit ihren Büchern im axel dielmann – verlag erscheinen.


Die drei Romane:

Siegfried Schröpf
Schöngeist und die Chilenin
Spionagethriller

Ein neues Mandat in Chile weckt bei Anwalt Thomas Schöngeist wehmütige Erinnerungen an die leidenschaftliche Liebesbeziehung zu einer Deutsch-Chilenin und an eine wilde Zeit, in der Schöngeist während seines Jura-Studiums in einen Strudel zeitgeschichtlicher Ereignisse gezogen worden war. Doch nun scheinen die kulturellen Differenzen zu María Pilar, Enkelin eines vor den Nazis geflohenen jüdischen Molkerei-Unternehmers, unüberbrückbar: Ein düsteres Geheimnis klingt da an, das nie restlos aufgeklärt wurde. Eine deutsch-jüdische Familiensaga, die in Unterfranken unter dem Hakenkreuz ihren Anfang nimmt und in der Nacht des Wahlsiegs Salvador Allendes in Chile eine dramatische Katharsis erfährt. Unter der Hand entfaltet sich ein verwickelter Spionagethriller, bei dem nicht nur Augusto Pinochets Geheimdienst eine unrühmliche Rolle spielt. Mit von der historischen Partie sind ebenso der amerikanische CIA wie der westdeutsche BND und die Ostberliner Stasi. Siegfried Schröpf, der selbst zwei Jahre lang in Santiago de Chile gelebt hat, entfaltet ein komplexes Panorama deutsch-chilenischer Geschichte im mörderischen 20. Jahrhundert.

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Jakob Sturm
Die geteilte Zeit

Autobiographischer Roman

Jakob Sturm ist Künstler, Raumaktivist und Autor. Er arbeitet u.a. als Initiator von Projekten, die sich mit der Neudefinition und Formatierung bestehender Architekturen und Räume im sozialen und urbanen Kontext, deren Möglichkeiten und Nutzungen beschäftigen. Auch mit seinem dritten Roman bleibt er bei dem, was ihn schon in den beiden vorigen Büchern »Orte möglichen Wohnens / Meine Geschichte, mein Weg in die Kunst und von der Utopie« von 2020 und »Abschied vom Vater – Gegenwart / Ein persönlicher Essay über Kunst« von 2022 umgetrieben hat. Das Schreiben, die Reflexion des Er-Schreibens seiner familären und künstlerischen Hintergünde fließen in eine neue Geschichte ein. Realität und Fiktion gehen ineinander über, Kunst und Leben treffen sich:
»Die Kunst war das Realitätsprinzip, die Familie lebte im Unmöglichen. Leben war plötzlich etwas Ideelles.«

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Dierk Wolters
dienstag
Roman


Die Uhr tickt, läuft durch einen offenbar ganz normalen Tag, einen Dienstag. Von dessen Morgen an bis in den Abend springt Dierk Wolters’ Erzählzeiger zwischen sechs Mitgliedern einer Familie hin und her, lässt hören, was sie umtreibt. Aber Dierk Wolters kratzt in seinem zweiten Roman weit mehr als einen repräsentativen Wochentag frei.
Vom Großvater bis zum Nesthäkchen, von mütterlichen Versorgungssorgen bis zum Ärger im Altenheim, von Freizeitsport bis Berufsnot reichen diese inneren Stimmen, und selbstverständlich nehmen sie auch einander aufs Korn. Unabhängig davon, ob es sich um Gedankensplitter eines der Familienmitglieder oder um eine innere Suada handelt, die teils amüsant, teils tiefgehend, teils bestens vertraut, teils schrullig sind – interessant ist es vor allem, das zu belauschen, was zwischen den Figuren geschieht. Oder eben auch nicht.

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Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag.

John Fante: Voll im Leben

Mit dem ersten Kind steht er plötzlich “voll im Leben”: John Fante, endlich wiederentdeckt, mit einem tragisch-komischen Erzählstück seiner Biographie.

„Hier ist es. Das, wovon ich geträumt habe.“
Er bückte sich und zog ein Büschel wilden Klatschmohn aus der Erde. Die Blumen kamen mit Wurzeln und allem heraus, die schwarze klebrige Erde umarmte die Wurzeln. Er zerdrückte die Wurzeln in der Faust, und die warme feuchte Erde nahm die Form seiner Hand an.
„Hier wächst alles. Pflanz einen Besenstiel und er wächst.“
Ich verstand den Sinn all dessen.
„Willst du es haben, Papa? Willst du das Land kaufen?“
„Nicht für mich“, grinste er und stampfte auf.
„Für das Baby. Hier wird er leben, der Junge. Genau hier.“ Er stampfte noch einmal auf. „Davon träume ich. Du und Miss Joyce und der Kleine. Ich und Mama unten an der Straße. Viel Platz. Vier Hektar. Für dich. Für deine Kinder.“   (…)
Was sollte ich diesem Mann sagen? Konnte ich ihm erzählen, dass ich in einer chaotischen Perversion namens Los Angeles ein Haus gekauft hatte, direkt am Wilshire Boulevard, ein Stück Land, hundertfünfzig auf vierhundertfünfzig, voller Termiten? Hätte ich ihm das erzählt, die Erde hätte mich verschluckt und der Himmel mich zerquetscht.

John Fante, „Voll im Leben“

Ist es verwunderlich, dass ich beim Lesen dieses Romans immer wieder das althergebrachte Sprichwort vom Mann, der ein Haus bauen, ein Kind zeugen und einen Baum pflanzen soll, damit sein Leben einen Sinn ergibt, im Kopf hatte? Irrtümlich wird das Zitat Martin Luther zugeschrieben. Der aber wollte doch nur ein Apfelbäumchen pflanzen. Ursprünglich, so ist es beim Blog für Falschzitate zu lesen, geht das Sprichwort wohl auf die Tora zurück: „Unsere Rabbanan lehrten: ‘Der gebaut hat, der gepflanzt hat, der verlobt hat.’ Die Tora lehrt damit eine Lebensregel, daß der Mensch zuerst ein Haus baue, einen Weinberg pflanze und erst dann eine Frau nehme.”

Wie auch immer: John Fante dreht die Reihenfolge um, zeugt zuerst ein Kind mit seiner großen Liebe, kauft sich dann ein schiefes und schräges Haus und aus dem Weinberg wird es zum Kummer des Familienpatriarchen, den Fante so plastisch unter anderem auch in seinem Erzählband „Little Italy“ beschrieb, auch nichts. Der amerikanische Autor, der für Charles Bukowski das große Vorbild war, schildert in „Voll im Leben“ die vor allem für ihn nervenaufreibenden neun Monate während der ersten Schwangerschaft seiner Frau Joyce.

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Bild von Free-Photos auf Pixabay

„Joyce schlief, als ich nach Hause kam. Es war gegen Mitternacht. Ich ging ins Bett und ließ das Licht brennen und fühlte mir regelmäßig den Puls. Es war eine schwere Nacht. Ich weiß noch, dass es hell wurde, und dann war ich eingeschlafen. Mittags wachte ich auf, und es ging mir gut.
Joyce saß in ihrem Zimmer und schrieb Briefe.
„Wie hast du geschlafen?“
„Schrecklich“, sagte sie. „Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.“

Sind es zu Beginn noch die üblichen paar Paarprobleme, wenn eine Beziehung sich verfestigt und Nachwuchs kommt („Das Kind kam zwischen uns wie ein Stein“) – er trauert dem wilden, freien Leben hinterher, sie sinnt über die Zukunft nach, ihn plagt das Verlangen, sie das Rückgrat – wird es mit einem Schlag bitter ernst: Im gutgläubig erworbenen Haus bricht Joyce eines morgens durch den von Termiten zerfressenen Küchenboden. Die Lösung scheint zunächst genial: Papa, der geniale Handwerker und Bauarbeiter, soll es richten. Doch der alte Mann, einst aus den Abruzzen in das Land der Verheißung eingewandert, der sich und seine Familie wie viele italienische Einwanderer mehr schlecht als recht durchbrachte, bringt eine ganz eigene Dynamik mit ins Spiel. Und fortan ist Fante nicht nur der hyperventilierende werdende Vater, sondern auch der Sohn, der eine einzige Enttäuschung ist ….

Küche, Kirche, Krankenhaus

Die Szenen familiären Zusammenlebens zwischen Küchenboden, Kirche und Krankenhaus sind herzerwärmend erzählt. Das ist stilistisch von einer zurückgenommenen Finesse, einer zurückhaltenden Direktheit, das ist manches Mal schreiend komisch, immer zum Mitfühlen, das ist aber vor allem  eines: Voll das Leben.

Voll im Leben: Mit seinen ersten veröffentlichten Romanen über den Schriftsteller Arturo Bandini – ganz eindeutig sein Alter Ego – hatte John Fante Ende der 1930er Jahre erste Achtungserfolge erzielt und durch seinen klaren, natürlichen Stil unter anderem eben auch Bukowski als Verehrer gewonnen. Doch der ganz große Durchbruch blieb aus, ein Leben als freier Schriftsteller war, zumindest mit Familienanhang, nicht mehr denkbar.

Drehbuchautor für die Traumfabrik

Wie so viele andere talentierte Autoren auch fand John Fante sein Auskommen mit dem Schreiben von Drehbüchern in der Traumfabrik. 1952 erschien noch „Voll im Leben“, für dessen Drehbuch Fante für den Oscar nominiert wurde – der Film mit Judy Holliday und Richard Conte kam 1956 in die Kinos. Dann wurde es literarisch jedoch still um Fante. Zwar schrieb er noch einige herausragende Drehbücher, aber die nächsten Romane erschienen erst wieder in den 1970er-Jahren. Mag sein, dass er dazwischen voll absorbiert war mit dem, was sich in „Full of life“ ankündigt:

„Es war ein großes Haus, weil wir Leute mit großen Plänen waren. Der erste Plan war schon Wirklichkeit, eine Rundung um ihre Mitte, ein Ding, das ständig in Bewegung war, sich krümmte und wand wie ein Schlangenknäuel. (…)
Mein Haus! Vier Schlafzimmer. Platz. Jetzt lebten wir zu zweit dort, und der dritte Bewohner war unterwegs. Irgendwann würden es sieben sein. Das war mein Traum.“

Im vollen Leben wurden es sechs: Fante und Joyce bekamen vier Kinder und waren fast 50 Jahre verheiratet. Seinen letzten Roman diktierte der Schriftsteller, der aufgrund seiner Zuckerkrankheit erblindet war, seiner Frau und besten Kritikerin:

„Wäre sie nicht gewesen, ich hätte mein Leben auch mit einem anderen Beruf zubringen können – als Reporter oder als Maurer, egal. Meine Prosa entstand durch sie. Das war eine Tatsache. Ich wollte ständig aufgeben; ich hasste das Schreiben, verzweifelte, zerknüllte Papier und warf es quer durch das Zimmer. Aber sie durchstöberte das weggeworfene Zeug und förderte Sätze zutage; ich wusste eigentlich nie, wann ich gut war.“

Wer lesen möchte, wie aus einem Talent ein Schriftsteller, aus einem Jungen ein Mann, aus einem Liebhaber ein Gatte und Vater und aus einem Kind ein mitfühlender Sohn wird, der lese „Voll im Leben“.

Informationen zum Buch:

John Fante
Voll im Leben
Übersetzt von Doris Engelke
MaroVerlag, 2018
ISBN: 978-3-87512-482-8

Ruth Klüger: Zerreißproben

Das als Schuld empfundene Überleben – Ruth Klüger trägt diese Last ihr Leben lang mit sich mit. Ihre Gedichte erinnern an Verlorenes, sind “Zerreißproben”.

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Bild von Barak Broitman auf Pixabay

Jom Kippur (Auszug)

Und jedes Jahr wie jedes Jahr
zehrt und zerrt der Hunger der Toten
an dem Fleisch der Lebendigen. Löset die Knoten!
Seid wie ein Kamm im verfilzten Haar.

„Auch hinter einem älteren Bruder, der die Naziherrschaft nicht überlebt hat, bin ich hergelaufen. Yom Kippur heißt der jüdische Fasten- und Versöhnungstag. In meiner Vorstellung sind die Toten aber nicht versöhnlich, weil sie uns nicht verzeihen, dass wir sie überlebt haben.“

Ruth Klüger, „Zerreißproben“


Das als Schuld empfundene Überleben – Ruth Klüger trägt diese Last ihr Leben lang mit sich mit. Wie andere Brandmale, Verletzungen und Ab-Stempelungen, seelisch und körperlich. Nicht nur durch die Nummer am Handgelenk bleiben die Opfer auch Jahrzehnte nach dem Holocaust gebrandmarkt und gepeinigt: „Denn die Folter verläßt den Gefolterten nicht, niemals, das ganze Leben lang nicht“, schreibt Ruth Klüger im ersten Teil ihrer Autobiographie, „weiter leben“ (deutsche Erstausgabe: 1992, Wallstein Verlag Göttingen). Erst in ihren 60igern entschließt sich Ruth Klüger dazu, „dieses Stück Mahnmal“ entfernen zu lassen.

„Da habe ich sie dann endlich auswendig gewußt, denn vorher hatte ich immer Mühe gehabt, sie mir zu merken: A-3537. Sie war immer nur eine Hundemarke in dem Sinne, daß die eigentliche Zahlenfolge bedeutungslos war und ich sie nie als eine Einheit empfunden habe, nicht einmal wie eine Haus- und Telefonnummer, warum sollte ich sie mir dann merken? Die Ziffern waren nur auf der Haut, nicht im Kopf. Nur als Tatsache, als Phänomen, als Zeichen waren sie wichtig, aber dann so sehr, daß man sie für die Toten anbehielt. Anbehielt? Wie ein Kleidungsstück?
Für die Buchhaltung in Auschwitz, wenn man diese makabren Genauigkeiten so nennen kann, war sie unnötig, denn ob markiert oder nicht, die Juden wurden vernichtet.“
(„unterwegs verloren“, Paul Zsolnay Verlag, 2008).

Das Ende der Freundschaft mit Martin Walser

Ruth Klüger verfügt über einen klaren, analytischen Verstand, der vor keiner „Zerreißprobe“ zurückschreckt, der Innerstes offen legt, auch dieses in den familiären und freundschaftlichen Bindungen. Und ihr Verstand ist nicht korrumpierbar, nicht durch Sentiment manipulierbar: Davon zeigt auch das Ende ihrer jahrzehntelangen Freundschaft zu Martin Walser, dem sie in „Tod eines Kritikers“, Walsers Marcel Reich-Ranicki Aufarbeitungsroman, „geradezu klassische Muster der Diskriminierung“ vorwirft.

„Lieber Martin, seit wir uns vor 55 Jahren kennenlernten, ist viel Wasser in den Bodensee geflossen, und nicht nur heilig-nüchternes, für Hölderlins Schwäne zum Tunken geeignetes. Damals war die große Mordwelle gerade vorbei, und Deutschland stand am Anfang der großen Gleichgültigkeitswelle. Darauf folgte die Welle des triefenden Philosemitismus. Jetzt sieht es hierzulande nach einem Rückfall aus in das, was wir Juden in der Nazizeit ironisch-wehmütig >den guten, alten Riches von 1910< nannten, nämlich die gemäßigte Judenverachtung weiter Bevölkerungsschichten aller Klassen, mit der sich (scheinbar) leben ließ. In Deiner Friedenspreisrede hast Du über eine Moralkeule gejammert, mit der Ungenannte Dich und andere Deutsche bedrohen. Jetzt spielst Du >Sieger und Besiegte<, und dabei ist Dir selber unversehens die von Dir heraufbeschworene Keule in die Hände gerutscht, aber wo, bitte, steckt denn hier die Moral?” („unterwegs verloren“ – auch für diese Freundschaft gilt der Buchtitel, auch dies ein weiterer Verlust, denn: „Denn das Judesein ist kein Klub, aus dem man austreten kann.“).

Die Welt der Eltern – die Welt von Arthur Schnitzler

Zeit wird es an dieser Stelle, die biographischen Fakten aufzureihen: Ruth Klüger wird 1931 in Wien geboren, die Eltern, „junge Menschen aus Arthur Schnitzlers Welt“, die Kindheit beinahe behütet – denn an viel kann sich Ruth Klüger später nicht erinnern aus dieser Stadt, in der sie die ersten elf Jahre verbrachte: Mit dem Judenstern an der Kleidung macht man keine Spaziergänge, schreibt sie trocken. Wien ist kalt, kinderfeindlich, „bis ins Mark judenfeindlich“. 1997 kehrt sie für einige Zeit nach Wien zurück, vor der Statue des heiligen Nepomuk kommen ihr einige Zeilen:

Am Bauernmarkt (Auszug)

Lieber Scheinheiler, mach was Fein`s:
nimm dich der jüdischen Kundschaft an,
damit ich nicht ertrinken tu am Bauernmarkt eins.

(In „Zerreißproben”).

Denn die Rückkehr nach Österreich und Deutschland – Jahrzehnte später – bleibt, trotz mancher freundschaftlicher Verbindungen immer auch von „unsichtbaren Gefahren“ geprägt.

Im Alter von elf Jahren wird Ruth Klüger mit ihrer Mutter zunächst nach Theresienstadt, dann Auschwitz und Christianstadt deportiert. Der bewunderte Vater, der ältere Halbbruder – sie überleben nicht.

Mit einem Jahreszeitlicht für den Vater (Auszug)

Meine Kerze will dein Augenlid berühren,
wenn dein Aug´ sie auch nicht sehen kann.
Blinde Väter barfuß durch die Welt zu führen
steht sich leider nur für Königstöchter an.
Wind weht vom Stillen Ozean.

„Ich habe dieses Gedicht jahrelang mit mir herumgetragen und daran herumgebastelt. Ich habe es mir im Stehen und Gehen aufgesagt und es verändert. Jede Änderung war wie ein neues Hinterherlaufen (>mit kurzen Kinderschritten<). Es ist die Suche nach einem Vater – wenn man ein solches Hinterherlaufen eine Suche nennen kann -, den ich nicht gefunden habe. Wie sollte ich auch? Ich habe ihn als Achtjährige zuletzt gesehen und weiß nichts Wissenswertes über ihn. Eines habe ich allerdings im Laufe dieser Bemühungen wiederentdeckt und wiedergewonnen, nämlich die Muttersprache, mein österreichisch gefärbtes Deutsch.“ (Zerreißproben“)

Emigration in die USA

Mit ihrer Mutter gelangt Ruth Klüger 1947 in die USA. Sie erkämpft sich, gegen mancherlei Widerstände, auch gegen materielle Not, gegen eine beklemmende Ehe ein Studium und macht ihren Weg als Germanistin, unter anderem lehrt sie an den Universitäten von Virginia, Princeton und in Irvine/Kalifornien. 1988 nimmt sie eine Gastprofessur in Göttingen wahr. Eine Annährung mit dem Land der Täter wird schrittweise wieder möglich. Mit ihren beiden autobiographischen Büchern „weiter leben“, das von der Kindheit in Wien und der Wirklichkeit in den Konzentrationslagern erzählt, sowie „unterwegs verloren“, das die amerikanischen Jahre und die deutsche Annährung schildert, wird Ruth Klüger auch im deutschsprachigen Raum als Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin bekannt. In den beiden Büchern finden sich auch bereits Hinweise auf die Gedichte – erste schrieb sie bereits 1944 im KZ – die sie ihr Leben lang verfasste.

2013 erschienen einige Gedichte eines Lebens beim Paul Zsolnay Verlag, von der Autorin selbst kommentiert – unter dem programmatischen Titel „Zerreißproben“.

„Ich möchte Gedichte vorstellen, die etwas mit meinem Leben zu tun hatten, und sagen, was es war. Oft war es etwas, was ich verdrängen wollte und das sich nicht verdrängen ließ.“

So handelt diese Lyrik von Verlusten und Ängsten, von den Erinnerungen an das Geschehen am Heldenplatz, die Kindheit in Wien, das Geschehen in den Lagern, aber auch von den späteren Jahren, dem „Scheidungsblues“, den Gefühlen für die eigenen Kinder – Ruth Klüger hat zwei Söhne – und natürlich auch von ihrem Beruf, der ungebrochenen Liebe zur deutschen Dichtung.

Deutsche Sprache (Auszug)

In diesen Lauten, die ich zu verlernen
versuchte, weil die spitzen Konsonanten
das wunde Fleisch der Kinderjahre kannten (…)

In diesen Lauten löst sich nun die schmale,
die Kinderstimme (…)

und zeigt mir (…) den Trost der klaren, offenen Vokale.


Informationen zum Buch:

Ruth Klüger
Zerreißproben
dtv Verlag, 2016
ISBN: 978-3-423-14519-0

Ruth Klüger: unterwegs verloren

Mit ihren autobiographischen Werken wurde Ruth Klüger einem breiten Publikum bekannt. Flucht- und Lagererfahrung prägen sie ein Leben lang.

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Bild von bernswaelz auf Pixabay

„Die Überlebenden der KZ, mit Ausnahme von einigen, die man zu Märtyrern gestempelt hat, sind allen frei gebliebenen Menschen ein Dorn im Auge. Gelitten zu haben ist eine Schande, außer wenn man daran und dafür gestorben ist.

Ruth Klüger, „unterwegs verloren“


Ruth Klüger ist 61 Jahre alt, als 1992 im Literarischen Quartett ihre Erinnerungen „weiterleben“ vorgestellt werden. Mit einem Mal wird die amerikanische Literaturprofessorin und Germanistin auch einem breiten Publikum im deutschsprachigen Raum bekannt. „weiterleben“ erzählt von ihrer Kindheit in Wien, dem Überlebenskampf in den Konzentrationslagern, der Flucht mit der Mutter in die USA.

 „unterwegs verloren“ setzt Jahre später ein – ebenso ein Buch über das Weiterleben. Mit einer ruhigen Sprache, manchmal bis an die Grenze zur Emotionslosigkeit, erzählt Ruth Klüger von einer doppelten Diskriminierung: Als Jüdin und als Frau im amerikanischen Literaturbetrieb. Sie erzählt von weiteren Verlusten, der Entfremdung von den Söhnen, von der Familie, von Freunden. Bis hin zum Bruch mit Martin Walser, den sie als junge Frau noch vor der Emigration in die USA kennenlernete, in ihm einen engen, lebenslangen Freund sah, dem sie jedoch die Darstellung eines jüdischen Kritikers in dem umstrittenen Werk `Tod eines Kritikers´ nicht nachsehen kann.

Wie sehr die traumatischen Erfahrungen ein Leben lang prägen, auch das verdeutlicht diese Autobiographie. Und über alledem überwiegt dennoch eine anhaltende Liebe zur deutschen Sprache, zur deutschen Literatur.

Und bei allem, was Ruth Klüger „unterwegs verloren“ hat, bleibt ein Gewinn am Ende: Das Wissen, dass sie dort, wo Diskriminierung geschah – sei es ihr oder anderen gegenüber – den Mut und das Rückgrat hatte, dagegen einzutreten.


Informationen zum Buch:

Ruth Klüger
unterwegs verloren
dtv Verlag, 2010
ISBN: 978-3-423-13913-7