Unerwartet und viel zu früh verstarb im Dezember 2022 der Lyrikkritiker und Essayist Michael Braun. “Man kann behaupten, dass er Deutschlands wichtigster Lyrikkritiker war”, würdigte ihn Gregor Dotzauer in einem Nachruf. Ich bin sehr dankbar, dass Michael Braun auch hier in dieser Reihe über seinen Klassiker in seiner unnachahmlichen Weise geschrieben hat.
Mein Klassiker von Michael Braun:
Im Zeitalter der beschleunigten Kommunikationsprozesse und des universellen Kommentar-Gezappels auf Facebook und Twitter ist das Schweigen zum Störfall geworden. In der Dichtung von Ilse Aichinger ist das Schweigen jedoch „die Hauptsache“. „Ich habe eigentlich nach langer Zeit erkannt“, so hatte die Dichterin 1993 erklärt, „dass das Schweigen die Hauptsache ist. Ich bin für Langsamkeit, für Verschwiegenheit, dass man nur dann schreibt, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt.“ Der Glaube daran, dass es notwendig ist, den Wörtern „die Lautlosigkeit zurückzugewinnen, aus der sie entstanden sind “ – das ist der Ausgangspunkt jeder substantiellen Poetik, das ist die Voraussetzung für einen gültigen Satz.
Mit Ilse Aichinger, am 1. November 1921 in Wien geboren, ist die letzte lebende Zeugin der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur am 11. November 2016 gestorben. Über ihrem Leben lag früh eine Todesdrohung. Da sie nach den Kriterien der Nationalsozialisten als „Halbjüdin“ galt, wuchs sie in Wien unter schwierigsten Bedingungen auf, immer in Gefahr, von den neuen Machthabern nach 1938 deportiert und ermordet zu werden. Nur mit viel Glück überlebte sie mit ihrer Mutter, einer jüdischen Ärztin, die Barbarei. Vor ihren Augen wurde ihre Großmutter 1942 in Wien verschleppt und dann später im Vernichtungslager Minsk ermordet. Diese Erfahrung der fortdauernden Todesdrohung hat Ilse Aichinger das Sprachvertrauen geraubt.
Ihr Buch „Schlechte Wörter“, das erstmals 1976 erschien, ist zu meinem Lebensbuch geworden, zu meinem poetischen Evangelium. Es müsste zur Pflichtlektüre für alle literarisch Ambitionierten erklärt werden. Denn dem bewusstlosen, reflexhaften Gebrauch der Sprache, dem Herumfuchteln mit den instrumentalisierten, ideologisch verseuchten Wörtern wird hier der Boden entzogen. Ilse Aichingers Schreiben vollzieht den poetischen Widerstand gegen eine Sprache der Lüge, die stets dort beginnt, wo man sich den gefälligen Wörtern, den verführerischen Großbegriffen überlässt. Der Titeltext des Bandes „Schlechte Wörter“ beginnt daher mit einem Misstrauensvotum gegen die „besseren Wörter“: „Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr. ‚Der Regen, der gegen die Fenster stürzt.‘ Früher wäre mir da etwas ganz anderes eingefallen. Damit ist es jetzt genug. ‚Der Regen, der gegen die Fenster stürzt.‘ Das reicht.“ In einem späteren Buch, dem „Journal des Verschwindens“ (in „Film und Verhängnis“, S. Fischer Verlag, 2001), deutete Aichinger an, sie wolle selbst eigentlich nicht existieren, sie wolle verschwinden. Sie möchte das nachvollziehen, was ihre Angehörigen unfreiwillig getan haben, als sie ermordet wurden. Schon in ihrem phänomenalen Aufzeichnungsbuch „Kleist, Moos, Fasane“ hatte sie 1985 ihren Weg vorgezeichnet: „Schreiben ist sterben lernen.“ Und: „Die Hölle himmelt mich ein.“
Michael Braun
Ilse Aichinger: Schlechte Wörter. S. Fischer Verlag (Fischer Taschenbuch), Frankfurt am Main 1976 ff. 112 Seiten, 5,95 Euro.
„Der nächste Morgen brachte uns gute Nachricht – unsere Reisekoffer waren endlich aus Hamburg eingetroffen. Dies möge dem Leser als Warnung dienen. Die Deutschen sind sehr gewissenhaft, und dieser Charakterzug macht sie sehr umständlich. Sagt man daher einem Deutschen, man möchte irgend etwas sofort erledigt haben, nimmt er einen beim Wort; er glaubt, man meint, was man sagt; also erledigt er es sofort – in Übereinstimmung mit seiner Vorstellung von sofort – nämlich in etwa einer Woche; das heißt, sofort bedeutet eine Woche, wenn es sich um die Herstellung eines Kleidungsstückes handelt, oder anderthalb Stunden, wenn es um die Zubereitung einer Forelle geht. Schön; sagt man einem Deutschen, er möge einem den Koffer „nicht als Eilgut“ nachschicken, nimmt er einen beim Wort, er schickt ihn „nicht als Eilgut“ und man kann sich gar nicht vorstellen, wie lange man seine Bewunderung angesichts der Ausdruckskraft dieser Wendung der deutschen Sprache wachsen lassen darf, bevor man seinen Koffer schließlich in Empfang nimmt. Das Fell meiner Seekiste war weich und dicht und jugendfrisch, als ich sie in Hamburg zum Versand aufgab; sie war kahlköpfig, als sie Heidelberg erreichte.“
Mark Twain, „Bummel durch Europa“
Der Blick der Amerikaner auf die Alte Welt war ja schon immer von Merkwürdigkeiten geprägt. Wahrscheinlich ist Mark Twain daran schuld (ich denke, das hätte dem Alten Spaß gemacht, diese Schuldzuweisung). Denn in den Jahren 1878 und 1879 bummelte er – einen stattlichen Tross an Familie und Freunden im Anhang – durch Europa.
Soll heißen: Vor allem durch Süddeutschland, die Schweiz, Italien und Frankreich. Der deutsche Norden wurde nur kurz gestreift, Skandinavien fand er auf seiner Landkarte wohl noch nicht, Südosteuropa war gerade in Urlaub und die iberische Halbinsel hatte keine Zeit.
“A Tramp Abroad” vermengt Fakten und Fiktion
„A Tramp Abroad“ erschien 1880. Und Mark Twains Landsleute erfuhren dadurch von allerhand Merkwürdigkeiten, Sitten und Gebräuchen. Am allermeisten jedoch beschäftigten den Schriftsteller die alten Sagen – herrliche Vorlagen, um fact und fiction zu vermengen, kleine Lügenmärchen zu spinnen und assoziativ abzuschweifen. „Bummel durch Europa“ ist sowieso das Buch eines passionierten Spaziergängers, der seinen Beinen und Gedanken freien Lauf lässt. Mit Mark Twain wäre ich gerne gebummelt – ein netter, schwadronierender Herr an meiner Seite, so stelle ich mir das vor, der mit lustigen Einfällen und bissigen Bemerkungen nicht spart.
Ich kann nur jedem raten, auf diesen „Bummel durch Europa“ mitzugehen – man erfährt so viele Dinge über die eigene Heimat, von denen wohl nie mehr ganz zu klären sein wird, ob sie den Tatsachen entsprachen oder Mark Twains Hirn entsprangen. Zumindest stützte er sich auf eine seriöse Quelle: „Rheinsagen von Basel bis Rotterdam“ von F. J. Kiefer (ein Buch, das es tatsächlich gab, ungelogen). Vielleicht lag es aber auch an „Die schreckliche deutsche Sprache“, dass Mark Twain so manche geschichtliche Fakten durcheinanderwirbelte – der herrliche Sprachaufsatz ist dem „Bummel durch Europa“ angehängt:
„Ich ging oft ins Heidelberger Schloß, um mir das Raritätenkabinett anzusehen, und eines Tages überraschte ich den Leiter mit meinem Deutsch, und zwar redete ich ausschließlich in dieser Sprache. Er zeigte großes Interesse; und nachdem ich eine Weile geredet hatte, sagte er, mein Deutsch sei sehr selten, möglicherweise einzigartig; er wolle es in sein Museum aufnehmen.“
In Heidelberg und Baden hielt sich Mark Twain länger auf – und hatte neben Ironie und Spott vor allem wohlwollende Worte für Stadt, Land und Leute übrig:
„Das Schloß blickt auf die dichtgedrängte, braungedachte Stadt hinunter; und von der Stadt aus überspannen zwei malerische alte Brücken den Fluß. Nun weitet sich der Blick; durch das Tor der Schildwache stehenden Vorgebirge schaute man auf die weite Rheinebene hinaus, die sich sanft und vielfarbig ausbreitet, allmählich und traumhaft verschwindet und schließlich im fernen Horizont verschmilzt. Ich habe mich noch nie einer Aussicht erfreut, die solch einen heiteren und befriedigenden Zauber gewährte wie diese.“
So erheitert, kann sich Mark Twain auch den eigenartigen Sitten des Studentenlebens widmen. Er schreibt mit spürbar irritierter Faszination (oder faszinierter Irritation) über die Verbindungen, deren Duellgebräuche und den berühmten Studentenkarzer, der heute noch besichtigt werden kann.
„Die Decke war vollkommen mit Namen, Daten und Monogrammen bedeckt, die man mit Kerzenrauch daruntergeschrieben hatte. Die Wände waren dicht mit Zeichnungen und Porträts (im Profil) bedeckt, von denen einige mit Tinte, andere mit Ruß, andere mit Bleistift und wieder andere mit roter, blauer oder grüner Kreide angefertigt worden waren; und überall dahin, wo zwischen den Bildern ein Daumenbreit Platz freigeblieben war, hatten die Häftlinge Klageverse oder Namen und Daten geschrieben. Ich glaube nicht, daß ich jemals in einem sorgfältiger ausgemalten Zimmer gewesen bin.“
Im Studentenkarzer der Universität Heidelberg wurden von 1823 bis 1914 Studenten arretiert: Die Universität hatte das Privileg, über ihre Mitglieder selbst Recht sprechen zu dürfen, ab 1886 galt dies jedoch nur noch für Disziplinarverfahren. Bei den Studenten handelte es sich dabei meist um nächtliche Ruhestörungen und ähnliche Verstöße gegen die öffentliche Ordnung. Zwar konnte man während der Karzerzeit seine Vorlesungen besuchen – die meisten „Inhaftierten“ fanden das Karzerleben jedoch recht gemütlich, schwänzten die Uni und malten lieber Bilder an die Wand.
Besuch im Nationaltheater Mannheim
Doch besuchte Mark Twain nicht nur Duelle und das Heidelberger Schloß, sondern widmete sich auch richtiger, ernsthafter Kultur: Mehrmals besuchte er das Nationaltheater in Mannheim. Mit wenig Freude:
„An einem Tag fuhren wir nach Mannheim und hörten uns eine Katzenmusik, will sagen: eine Oper an, und zwar jene, die „Lohengrin“ heißt. Das Knallen und Krachen und Dröhnen und Schmettern war unglaublich. Die mitleidlose Quälerei hat ihren Platz in meiner Erinnerung gleich neben der Erinnerung an die Zeit, da ich mir meine Zähne in Ordnung bringen ließ.“
An Mark Twains Wagner-Antipathie, die sich so herrlich lesen lässt, musste ich dieser Tage in Mannheim denken: Das Nationaltheater, in dem „Die Räuber“ uraufgeführt wurden und Schiller Mannheims erster Theaterdichter war, gibt es nicht mehr – 1943 wurde es bei einer Bombardierung zerstört. Das war eine Folge davon, dass eine irregeleite Nation die Welt für einige Jahre mit teutonisch-wagnerianischem Knallen, Krachen, Dröhnen und Schmettern überzogen hatte.
Roger Willemsen war ein feiner Beobachter alles Zwischenmenschlichen – das zeigt sich auch in seiner 2002 erschienenen Deutschlandreise.
Bild: (c) Michael Flötotto
“Der Pabba bestellt sich einen Champagner Rosé, dreht sich zu den Umsitzenden wie einer jener Hartgummi-Cowboys, die sich nur noch um die eigene Taille drehen können, und setzt noch einen drauf: noch die Blattsalade mit Tausend-Eiland-Dressink und die Flasch Wasser. Herrlich, so ein Sonntag in der Fußgängerzone Heidelberg, findet er und eröffnet das Gespräch mit seiner Frau durch den Ausruf: „Wat Menschen! Wat Menschen!“ Das findet seine Frau auch.“
Roger Willemsen, „Deutschlandreise“
Nun, irgendwo müssen sie ja hin, die vielen Touristen: Nicht alle bewältigen den Aufstieg zum Schloss oder haben den Nerv, an der Schlossbahn in den Warteschlangen auszuharren. Für viele ist bei der berühmten Neckar-Brücke Schluss. Und so erlebt man in der Heidelberger Fußgängerzone täglich die oben beschriebene Parade – denn irgendwo müssen sie ja hin, die vielen Touristen in der Stadt mit dem höchsten Besucheraufkommen Deutschlands. Für einen wie Roger Willemsen boten solche Biotope genügend Stoff für feinkritische Beobachtungen – sie sind versammelt in dem 2002 erschienenen Buch „Deutschlandreise“.
Eine Expedition durch das Heimatland
Willemsen fuhr 2001 und 2002 kreuz und quer durch seine Heimatland. Ein reizvoller Gedanke: Die Heimat aus den Augen eines Reisenden, eines „Fremden“ zu betrachten. Aber ahnt man nicht schon beim Aufschlagen des Buches, wie das Deutschlandbild eines Willemsen sein wird? „Denk ich an Deutschland in der Nacht …“: Heine lässt grüßen. Das Leiden an der Heimat, an „den Deutschen“ und an „Schland“, eine intellektuelle, kulturhistorische Tradition.
„Ich sitze im Zug und fahre weit weg. Nach Deutschland. Oder besser zu den so genannten Menschen draußen im Lande. Aber wo ist das? (…) In Deutschland nach Deutschland zu reisen, das ist die Exkursion zu einer Fata Morgana. Am schönsten ist das Land als Versprechen, weit weg. Ein Weiler unter der Hügellinie, drei rote Dächer und eine Birke, ein Windstoß in den Sträuchern und eine Frau, die zum Wäscheaufhängen unter die Bäume tritt. Gute Menschen, die Milch aus zottigen Viechern melken und vor dem Essen beten. Das unausrottbar Schöne, doch, das gibt es, aber man darf ihm nicht zu nahe kommen.“
Nun, keiner kann sich von Klischees befreien. Auch ein Willemsen nicht, der offenbar die Erfindung der Melkmaschine ignoriert. Ganz frei vom intellektuellen Hochmut des Einzelgängers – oder besser: „Einzelfahrers“ – ist dieses Buch nicht, nicht ganz frei von Denkschablonen. Aber das tut dem Lesevergnügen beim Mitleiden an “Schland” keinen Abbruch – wenn man die Klischees teilt, wenn man ähnlich denkt.
Dorthin, wo es weh tut
Natürlich schaute Willemsen dorthin, wo es wehtut: Dem Volk aufs Maul. Ich frage mich, wie dieses Buch heute wohl aussehen würde, da sich die „besorgten Bürger“ offen zu artikulieren wagen, verbale Hemmschwellen gefallen sind, da dieses „Ich bin stolz auf mein Land“, ausgesprochen mit dem fürchterlichen Ton des Herrenmenschen, so schreckliche Assoziationen mit sich bringt.
Insofern sind die Reisebeobachtungen des Roger Willemsen zwar von gestern, aber nicht überholt: Er zeichnet das Bild einer Nation, in denen Shopping-Malls zu Lebenssinnerfüllungszentren werden. In der die Angst, die sich in diesen Tagen äußert, die Angst vor dem „Fremden“, der uns den Wohlstand streitig macht und damit die innere Leere enthüllt, in der eben diese Angst regiert. Er zeichnet ein Bild vom Boden, aus dem in den jetzigen Zeiten die Hetze kriecht … Und, weil es an dieser Stelle passt: Er fehlt, dieser feine Beobachter, diese kritische Stimme.
Mit dem Blick des Ethnologen
Man mag manches überzeichnet finden, manches überhöht: Doch Willemsen warf eben nicht den nüchtern-sachlich-wissenschaftlichen Blick eines Ethnologen auf das Land, nicht den eines Insektenforschers, der das Treiben geschlechtsreifer Großstädter und des Landvolkes kalt durch das Mikroskop betrachtet. Sondern den wehmütigen Blick eines dessen, der „sein“ Land trotz aller Kritik liebt:
„Vermutlich würde es den Menschen das Sprechen über ihr Land erleichtern, wenn sie sich alle als Heimatvertriebene erkennen wollten, davongejagt aus künstlichen Paradiesen. Von der Heimat lohnt es sich nur zu sprechen als von einem Mangel, dem Inbegriff des Verlorenen.“
Das Buch (in der Taschenbuch-Ausgabe beim Fischer Verlag erschienen) habe ich übrigens bei meinen derzeitigen Deutschlandreisen in einer Bahnhofsbuchhandlung erworben. In einer Passage reflektiert Willemsen über jene Bahnhofshallen, die keine Bahnhofshallen mehr sind, sondern Einkaufserlebniszentren, aus denen jene, für die Bahnhöfe seit jeher ein Dach über dem Kopf sind – Obdachlose, Junkies, Ausreißer – verdrängt werden, damit das Konsumerlebnis dem umsatzwilligen Reisenden nicht vergällt wird. Dazu passt die Entwicklung der meisten Bahnhofsbuchhandlungen, bei denen das Wort „Buchhandlung“ zum Euphemismus pervertiert ist: Dort lassen sich zahllose Lifestyle-Magazine erwerben, erstaunlich sind die Massen an Publikationen wie „Landlust“ oder sonstigem ländlichen Leben im Titel – als ob jeder Zugreisende eine innerliche Landflucht erwägt. Daneben Computer-, Wirtschafts – sorry, will meinen: Business – Magazine, Comics, Tageszeitungen, „WELTPRESSE“ schreit aus von den Wänden. Aber „das Buch“: Meist an ein hinteres Ladenregal verbannt, die Auswahl übersichtlich, an der Spiegel-Bestsellerliste orientiert, daneben ein wenig Liebeskram und Vampirzeug. Deutschland, sag mir was du liest, und ich sage Dir …
Es entbehrt nicht der Ironie, dass allerdings in jeder Bahnhofs“buchhandlung“, die ich in letzter Zeit betrat, auch die „Deutschlandreise“ von Roger Willemsen zu finden war. Wohl als „Marketinggag“ für Reisende? Ich frage mich, ob die Bahnhofs“buchhändler“ wissen, was in dem Buch steht…
Bibliographische Angaben:
Roger Willemsen Deutschlandreise Fischer Taschenbuch, 2004 ISBN: 978-3-596-16023-5
Mit Heidelberg ist eine Literaturepoche verbunden: Die „Heidelberger Romantik“. Hölderlin war ein Vorbote, Brentano und von Arnim die wichtigsten Vertreter.
Lange lieb ich dich schon, möchte dich, mir zur Lust, Mutter nennen, und dir schenken ein kunstlos Lied, Du, der Vaterlandsstädte Ländlichsschönste, so viel ich sah.
Wie der Vogel des Walds über die Gipfel fliegt, Schwingt sich über den Strom, wo er vorbei dir glänzt, Leicht und kräftig die Brücke, Die von Wagen und Menschen tönt.
Wie von Göttern gesandt, fesselt` ein Zauber einst Auf die Brücke mich an, da ich vorüber ging, Und herein in die Berge mir die reizende Ferne schien,
Und der Jüngling, der Strom, fort in die Ebne zog, Traurigfroh, wie das Herz, wenn es, sich selbst zu schön, Liebend unterzugehen, In die Fluten der Zeit sich wirft.
Quellen hattest du ihm, hattest dem Flüchtigen Kühle Schatten geschenkt, und die Gestade sahn All` ihm nach, und es bebte Aus den Wellen ihr lieblich Bild.
Aber schwer in das Tal hing die gigantische, Schicksalskundige Burg nieder bis auf den Grund Von den Wettern zerrissen; Doch die ewige Sonne goss
Ihr verjüngendes Licht über das alternde Riesenbild, und umher grünte lebendiger Efeu; freundliche Wälder Rauschten über die Burg herab.
Sträuche blühten herab, bis wo im heitern Tal, An den Hügeln gelehnt, oder dem Ufer hold, Deine fröhlichen Gassen Unter duftenden Gärten ruhn.
Friedrich Hölderlin
Immer wieder suchte der ewig vor sich und anderen flüchtende Friedrich Hölderlin (1770 – 1843), bis er dann seine zweite Lebenshälfte in seinem Tübinger Turmzimmer verbrachte, auch die kühlen Schatten der Stadt Heidelberg auf. 1788 war sein erster Besuch in der Neckarstadt, 1800 entstand sein Gedicht, kurz nachdem die Alte Brücke über den Neckar fertiggestellt worden war. Es ist wohl das berühmteste Heidelberg-Poem. Mit den Zeilen „schicksalskundige Burg nieder bis auf den Grund von den Wettern zerrissen“ bezieht sich Hölderlin auf einen Blitzschlag, der 1764 das Heidelberger Schloss, kaum dass es nach der teilweisen Zerstörung durch die Franzosen 1693 wieder aufgebaut worden war, vollends beschädigte. (Ein ausführlicher virtueller Rundgang durch das Schloss, den Schlossgarten bis hin zum berühmten Riesenfass findet sich hier.)
Die Heidelberger Romantik
Wie die „Weimarer Klassik“ gibt es auch für Heidelberg den Begriff einer Literaturepoche, der mit der Stadt verbunden ist: Die „Heidelberger Romantik“. Hölderlin war ein Vorbote, verknüpft ist sie vor allem mit Clemens von Brentano und Achim von Arnim, die zweitweise in Heidelberg lebten (datiert wird die Heidelberger Romantik für die Jahre zwischen 1804 und 1818), dort an „Des Knaben Wunderhorn“ arbeiteten und die „Zeitung für Einsiedler“ herausgaben. Darüber hinaus studierte Joseph von Eichendorff von 1807 bis 1808 ebenfalls in Heidelberg, hatte aber wohl keine Kontakte zu Brentano/Arnim.
Die Romantik als Literaturepoche zeichnet sich durch Kritik an der Vernunft und auch in der Abgrenzung zur Aufklärung aus, zielt auf die Aufhebung der Trennung zwischen Philosophie, Literatur und Naturwissenschaften ab, greift die einfache Sprache des Volkes und seine Erzählungen auf – kurz: Zurück zur Natur, back to the roots.
Ländlich-schönes Heidelberg
Heidelberg, die „Ländlichschönste“, bot dafür das ideale natürliche Ambiente. Und weil die Romantiker auch gerne schwelgten, so ist es denn kein Wunder, dass manch einer von ihnen sich hier auch unglücklich verliebte – Joseph von Eichendorff beispielsweise in Käthchen Förster, die ihn wahrscheinlich zu „In einem kühlen Grunde“ inspirierte.
Die Ära der Heidelberger Romantik ging vorüber, literaturwissenschaftlich gesehen. Die Romantik in Heidelberg jedoch blieb. Jahrzehnte später traf es Gottfried Keller, der sich in die Tochter eines Heidelberger Politikers und Philosophieprofessors verschaute, als er sich von 1848 bis 1850 in der alten Universitätsstadt aufhielt. Auch ihm wurde die berühmte Brücke zu einer Metapher:
Schöne Brücke, hast mich oft getragen, Wenn mein Herz erwartungsvoll geschlagen Und mit dir den Strom ich überschritt. Und mich dünkte, deine stolzen Bogen Sind in kühnerm Schwunge mitgezogen Und sie fühlten mein Freude mit.
Weh der Täuschung, da ich jetzo sehe, Wenn ich schweren Leids hinübergehe, Daß der Last kein Joch sich fühlend biegt; Soll ich einsam in die Berge gehen Und nach einem schwachen Stege spähen, Der sich meinem Kummer zitternd fügt?
Aber sie, mit anderm Weh und Leiden Und im Herzen andre Seligkeiten: Trage leicht die blühende Gestalt! Schöne Brücke, magst du ewig stehen Ewig wird es aber nie geschehen, Daß ein bessres Weib hinüberwallt!
War niemands Zeitgenosse, wars in keiner Weise, solch Ehre ist zu hoch für mich. Ein Greul, wer da so heißt, wie sie mich heißen, das war ein andrer, war nicht ich.
Ossip Mandelstam in der Übertragung von Paul Celan (1959, Quelle: „Gedichte“, Fischer Taschenbuch Verlag, Ausgabe 1983).
Kein Zeitgenosse wollte er sein – und wurde zu einem Zeitlosen der Poesie: Ossip Mandelstam, 1891 – 1938, verstorben in einem Gulag. Die Sprache dieses „modernen Orpheus“ (Joseph Brodsky) sie trifft uns auch heute noch mitten ins Herz, packt den Verstand – einer, der den „ganzen“ Menschen meint.
„Auch unsere Zeit darf Mandelstams Poesie in Anspruch nehmen, deren lyrische Intensität und Klangmagie, die Kraft unerhörter Bilder, das weite Netz der kulturellen Assoziationen, die Tiefe eines Gedächtnisses ebenso wie eine bestürzende Widerständigkeit. Diese Poesie spricht von der Zerbrechlichkeit des Menschen in einer Zeit größter Gefährdung.“
Ralph Dutli, Herausgeber des Ossip-Mandelstam-Lesebuch „Bahnhofskonzert“, Fischer Taschenbuch, 2015.
Celan und Dutli, die beiden Übersetzer des russisch-jüdischen Dichters, auch sie waren in der Ausstellung „Wort und Schicksal“ vertreten, die 2016 in Heidelberg zu sehen war. Der Dichter lebte einige Zeit in der heutigen UNESCO-Literaturstadt.
Studium in Heideberg
Hier immatrikulierte sich Mandelstam 1909 für ein Studium der Romanistik und Kunstgeschichte, er blieb bis zum März 1910. In seiner russischen Heimat bestand zu jener Zeit eine Dreiprozentquote für jüdische Studenten, das Studium in der Heimat war ihm verschlossen. Schließlich, 1911, lässt Mandelstam sich christlich taufen, um dann doch noch an der Petersburger Universität studieren zu können.
Erste Gedichte in Briefen an Woloschin
Die ersten veröffentlichten Gedichte Mandelstams entstanden in der Stadt am Neckar: „Vom feuchten Stein herunterschauend …“, „Nur sprecht mir nicht von Ewigkeit…“, sie waren Briefen an seinen Freund, den russischen Maler und Dichter Maximilian Woloschin, beigelegt. Kopien des Autographs (das Original wird im Institut für russische Literatur, dem Puschkin-Haus in Moskau, aufbewahrt) waren in der Ausstellung ebenso zu sehen wie das „Studien- und Sittenzeugnis“ der Universität Heidelberg und einige wenige persönliche Gegenstände – ein Reisewecker, eine Dante-Ausgabe aus dem Besitz der Mandelstam-Witwe Nadeschda, ein Sofa, auf dem er ab und an nächtigte. Wie wenig von einem Leben bleibt, vor allem von einen unter diesem Umständen gelebten Leben, den Umständen der eigenen Rastlosigkeit, des Bewusstseins, ein Reisender zu sein, aber auch den Umständen der Verfolgung, verfolgt, weil Poet, Intellektueller, Seher, Jude, und unter den Umständen der Armut… Wie wenig also von einem Leben bliebe, wäre da nicht das Wort des Dichters, die Worte, die uns bis heute erreichen, obwohl sie teils von der Witwe nur durch Auswendiglernen gerettet werden konnten.
„Wie immer die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts aussehen werden – das Wort der Poesie wird noch lange nicht überflüssig sein“, schreibt dazu Dutli und zitiert Mandelstam: „Das Lied, das selbstlos ist, ist selbst sein Lob, und strahlt – Den Feinden: Teer, den Freunden: Trost, Erkennungsmal.“
Bild: Birgit Böllinger
Wie man aus wenig viel machen kann – das verdeutlichte die Mandelstam-Ausstellung auf das Feinste. Sie zeichnet mit Originaldokumenten und Kopien (beispielsweise der KGB-Akten) das kurze Leben dieses Dichters nach, er selbst kommt mit einer der wenigen erhaltenen Tonaufnahmen zu Wort, die einzige Filmaufnahme der alten Nadeschda lassen deren ärmliche Lebensumstände in Moskau erahnen, sprechen aber ebenso von einer anhaltenden innigen Verbundenheit zu ihrem früh verstorbenen Mann.
Kooperation mit Heidelberg und Granada
Die Ausstellung „Wort und Schicksal“ war eine Kooperation des Staatlichen Literaturmuseums Moskau und der Mandelstam-Gesellschaft Moskau in Kooperation mit den UNESCO Cities für Literature Heidelberg und Granada. Für Heidelberg war es das internationale Auftaktprojekt als UNESCO-Literaturstadt, die Stadt ist seit Dezember 2014 Mitglied im „UNESCO Creative Cities Netzwerk“.
Auch der Ausstellungsort in Heidelberg ist geschichtsträchtig – sie ist in der „Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte“ zu sehen. Ebert, das erste demokratische gewählte Staatsoberhaupt in Deutschland, wurde am 4. Februar 1871 in Heidelberg geboren. Der Sohn eines Schneidermeisters war das vierte von sechs Kindern. Die Familie lebte in sehr bescheidenen Verhältnissen – einen eigenen Eindruck davon kann man sich im Geburtshaus machen, das öffentlich zugänglich ist. Angeschlossen sind den Wohnräumen eine Ausstellung zu Leben und Werk und eine umfangreiche Bibliothek.