NICHITA DANILOV: Die blinden Adler

Der 1952 in der Bukowina geborene rumänische Dichter und Prosaist Nichita Danilov gehört zu den wichtigsten lyrischen Stimmen seines Landes. Übertragen von Jan Koneffke erscheint nun eine Auswahl seiner Gedichte bei der edition pudelundpinscher.

Am 30. Oktober erscheint in der Schweizer „edition pudelundpinscher“ mit dem Band „Der blinde Adler“ eine ins Deutsche übertragene Auswahl mit Gedichten aus dem Gesamtwerk von Nichita Danilov. Der Schriftsteller und Übersetzer Jan Koneffke hat das Werk des Rumänen, einem der wichtigsten Lyriker aus dem Kreis der legendären rumänischen „80er Generation“, intensiv studiert: 

„Das Ungewöhnliche seiner visionären und fantastischen Verse wurde im Übrigen auch von der heimatlichen Kritik hervorgehoben. Sie konstellieren das Material eines an der Grenze verbrachten Lebens, an der Grenze zwischen Kulturen und Sprachen, vor allem auch zwischen Gestern und Heute: Von der archaischen Dorfwelt der Kindheit, in die der Proletkult einbrach, dem repressiven Regime der Kommunisten und seinem gewaltsamen Umsturz von 89, der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit der Transformationszeit bis zu den jüngsten Erschütterungen imperialer Aggression in der Nachbarschaft, konstellieren all diese Beben und Brüche der rumänischen Welt mit der von weither überlieferten Glaubenswelt. Deshalb klingen Gedichte wie ‚Der Präsident‘ oder ‚Die blinden Adler‘, die sich einer archaischen und zugleich ironischen Bildersprache bedienen, nach lyrischen Echos sowohl auf erinnerte als auch auf ganz aktuelle Erfahrungen von totalitärer Herrschaft und Krieg“.

„Der Schnee fällt nun stärker.
Große Flocken bedecken den Körper des Kindes.
Große Krähen kreisen über dem Buch der Geschichte.
Leise verlassen die Zuschauer den Saal.“
(Finita la commedia) 

Eine Leseprobe findet sich hier unter diesem Link.


Stimmen zum Buch:

„Danilov geizt nicht mit Pathos und grellen Metaphern, um den Totalitarismus russischer und rumänischer Couleur einzufangen, zugleich setzt er dieser gottlosen Welt mit ihrem Personenkult Landschaften und Dorfszenen von stiller Schönheit entgegen. Ein metaphysischer Drang durchzieht seine Gedichte, ein philosophischer Impetus, der nicht aufhört, Fragen nach dem Sein und Nichtsein zu stellen.“ – Ilma Rakusa in der NZZ

„Bildstark, sprachmächtig, melancholisch, ironisch“, findet Hermann Barth die Lyrik Nichita Danilovs. Und meint in seiner Kritik im Stadtmagazin InMünchen (Ausgabe 11/2023): „Eine (grandiose) Auswahl, erstmals auf Deutsch – und mit einem instruktiven Nachwort – von Jan Koneffke.“

„Danilovs Dichtungen wissen zu faszinieren, zu betören und wecken Leserinnen und Leser aufs Neue die Freude am Staunen über manche Schönheit dieser Welt, wie über den „lieblichen Vogelgesang“, der trotz allem und in allem melodisch erklingt.“ – Thorsten Paprotny bei literaturkritik.de

„Danilovs Lyrik lässt einen ratlos zurück, aber nicht verzweifelt. Sie ist gläubig, aber nicht fromm. Melancholisch, aber nicht verzweifelt. Sie geht ins Große, vergisst aber das Kleine nicht.“ – Paul Hübscher gibt bei litteratur.ch ein große Empfehlung für „Die blinden Adler“ aus: „Summa summarum ein allen Liebhaber:innen von Lyrik überaus zu empfehlendes kleines Büchlein.“

„Und also ist Lyrik, das zeigt uns Danilov, einmal mehr auch ein Beleg dafür, wie das Spiel mit Sprache in früher Kindheit, als Abzählreim, als Finger- oder als Kniereiterspiel uns alle lebenslang prägt und unsere Phantasie nährt.“ – Eric Giebel bei Vitabu Vingi

Herausgeber und Übersetzer Jan Koneffke im Interview mit Maike Albath im „Büchermarkt“ beim Deutschlandfunk

Das Gedicht VULTURII ORBI in zweisprachiger Auswahl auf dem Lyrikblog „Aus dem Alltag“

„Wer Nichita Danilov bisher nicht kannte, möge ihn nun also unbedingt entdecken.“ – Katharina J. Ferner auf der Lyrikplattform lyristix


Zum Autor:

Nichita Danilov, geboren 1952 im rumänischen Dorf Climăuți (Bukowina) an der ukrainischen Grenze, Dichter, Prosaist und Essayist, studierte Wirtschaftswissenschaften in Iași. Seine Gedichte wurden in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Seit 1980 veröffentlichte er zwölf Gedichtbände, fünf Romane und eine Reihe von Büchern mit Erzählungen, Prosa, Essays, literarischen Porträts und Pamphleten. Nichita Danilov lebt in Iași.
Bild: Privat


Jan Koneffke, geboren 1960 in Darmstadt,
Lyriker, Schriftsteller, Kinderbuchautor,
Publizist, Übersetzer aus dem Rumänischen und Italienischen, studierte Philosophie und Germanistik
in Berlin.
Zuletzt erschienen: Als sei es dein, Gedichte,
Heidelberg 2018; Die Tsantsa-Memoiren, Roman, Berlin 2020; Dudek, Jugendroman, Zürich 2023.
Bild: Johannes Kauper


Bibliographische Angaben:


Nichita Danilov
Vulturii orbi / Die blinden Adler
Poezii / Gedichte
Übersetzung aus dem Rumänischen: Jan Koneffke
Umschlag: Niklaus Lenherr und mondo Messmer
232 Seiten, zweisprachig, 17.6 x 13.2 cm
ISBN 978-3-906061-35-1
28 Franken, 28 Euro
30. Oktober 2023
Mit einem ausführlichen Nachwort von Jan Koneffke

Zum Verlag:
edition pudelundpinscher
Al Puntígn 4
CH-6682 Linescio
T 041 879 00 05
post@pudelundpinscher.ch
www.pudelundpinscher.ch
Verlagsvorschau Herbst 2023


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Lesezeichen von: Herta Müller

Lesezeichen sind kurze Zitate von Autor*innen über das Leben, Lesen, Schreiben. Gedankenanstöße, Diskussionsstoff, Merkmale.

„Wenn ich erklären soll, warum für mich ein Buch rigoros ist oder flach, kann ich nur auf die Dichte der Stellen hinweisen, die im Kopf den Irrlauf hervorrufen, Stellen, die mir die Gedanken sofort dorthin ziehen, wo sich keine Worte aufhalten können. Je dichter diese Stellen im Text sind, um so rigoroser ist er, je schütterer sie stehen, um so flacher ist der Text. Das Kriterium der Qualität eines Textes ist für mich immer dieses eine gewesen: kommt es zum stummen Irrlauf im Kopf oder nicht.“

Aus: „Der König verneigt sich und tötet“, Herta Müller, Hanser Verlag, 2003.

Was Sprache ausmacht, wie Muttersprache den Menschen prägt, was Worte verschweigen, was Schweigen sagt, was Reden und Schreiben in einer Diktatur bedeutet, um all dies dreht sich dieser Band der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, angesiedelt zwischen Autobiographie und Essay. Ein Grundriss ihrer Poetologie, ein Zeugnis davon, wie ihre Dichtkunst geprägt wurde durch das Aufwachsen in einer Gesellschaft, in der das Schweigen alles überlagerte.
Und der Text einer Schriftstellerin, die bei mir immer das eine erreicht: den stummen Irrlauf im Kopf in Gang zu setzen.

Kristiane Kondrat: Abstufung dreier Nuancen von Grau

Kristiane Kondrat erzählt die Geschichte einer Traumatisierung vor dem Hintergrund ihrer Lebenserfahrung während der kommunistischen Diktatur in Rumänien.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Dieses Niemandsland war für mich ein sich stets verlängernder Zwischenzustand, ein Zustand wie das allmähliche Erwachen aus einem Albtraum. Ich wusste nie, ob ich noch im Traum war oder bereits herausgetreten und im Begriff, in einen anderen einzusteigen, ob der Albtraum das Reale war oder der Zustand des Austretens, ob das, was wir Realität nennen, nicht vielleicht aus einem immerwährenden Austreten aus Träumen und Wiedereintreten in Albträume bestand, aus einem ständigen Übergang. Ich konnte es nicht beurteilen, ob ich, wenn ich mich aus einem Albtraum herauswand, nicht vielleicht schon in die Irrealität eingetreten war. Auch ich wusste oft nicht, wo ich mich gerade befand, denn auch die Stadt änderte von Stunde zu Stunde ihr Gesicht.“

Kristiane Kondrat, „Abstufung dreier Nuancen von Grau“


Albtraumhaft ist auch der Unterton dieses Romanes. Eine namenlose Ich-Erzählerin erwacht in einem Krankenhaus, umgeben von Weiß, eingepackt in den Wunsch nach „Weißsein“. Sie erinnert sich an eine Vergangenheit in einem anderen Land, der alten Heimat, an einen Krankenhausaufenthalt unter anderen Umständen. Schritt für Schritt lernt sie wieder gehen, irrt schließlich an Krücken durch eine nicht benannte Stadt.

Surreale Szenen, Schlangen, die aus Stoffmustern kriechen, Geisterzüge, einsame Bahnhöfe, ein Feuerball über einem Dorf. Es verwischen sich die Perspektiven, Orte und Zeiten, manches Mal ist man im Ungewissen, ob man sich nun mit der Erzählerin in der neuen oder in der alten, oder in einer „neuen alten Heimat“ befindet. Hier wie dort eine kafkaesk anmutende Bürokratie, anders wohl in der neuen Heimat, auf andere Art bedrohlich – aber jedes Mal Abstufungen und Nuancen von Grau.

Ein sperriger Roman

Das Herumirren der Protagonistin durch die Stätten ihres Lebens, der Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der manches Mal unvermittelt eintritt, er macht das Lesen dieses sperrigen, nicht leicht zugänglichen Romans zu einer Übung in Konzentration. Es ist weniger die fehlende stringente Handlung oder der zuweilen etwas spröde Sprachstil, der einem am Lesen hält, sondern die rätselhafte, unterschwellig bedrohliche Atmosphäre, die sich nach und nach entwickelt.

Es ist klar: Hier schreibt eine Autorin, die die Erfahrung, wie es ist, in einer Diktatur zu leben, ganz tief in sich trägt. Die weiß, was es heißt, ständig beobachtet, bespitzelt, ausgehorcht zu werden, die weiß, wie schwierig es ist, in den Zeiten der Finsternis selbst den engsten Mitmenschen zu vertrauen.

„Ich habe nie erfahren, was sie von uns wissen wollten. Sie befragten uns immer wieder, und es boten sich viele Gelegenheiten dazu. Sie wollten etwas erfahren, das es gar nicht gab, und waren sehr beharrlich. Sie, das waren jene dort, die ich nie beim Namen genannt hatte. Ich war mit dem Wissen aufgewachsen, dass es sie gibt, dass man aber ihren Namen nicht aussprechen dürfe, das bringe Unglück. Sie waren unberechenbar, nicht erfassbar, mit Logik war ihre Existenz, ihr Tun und die Art und Weise, wie sie es taten, nicht erklärbar, keine Logik der Welt konnte sie verständlich machen.“

„Sie“, soviel wird klar, das sind die Männer der Securitate während des Ceauşescu-Regimes in Rumänien. Kristiane Kondrat wurde 1938 als Aloisia Bohn im Banat geboren. Nach einem Studium der Germanistik und Rumänistik konnte sie dort zwar als Deutschlehrerin und Redakteurin der „Neuen Banater Zeitung“ arbeiten, doch die deutschsprachige Minderheit geriet unter dem Regime zunehmend unter Druck.

Der Diktatur entkommen

Zwar konnte Kristiane Kondrat noch in Rumänien einen Lyrik-Band beobachten, doch an eine Veröffentlichung von Texten wie jenen, die zur Grundlage für den hier besprochenen Roman wurden, war nicht zu denken. Die Literaturwissenschaftlerin Christina Rossi (die übrigens eine Dissertation über Herta Müller schrieb, an die man beim Lesen dieses Buches zwangsläufig denken muss), schildert in ihrem Nachwort, wie die von der Autorin als „Schubladentexte“ bezeichneten Blätter zunächst versteckt, dann Mitte der 1970er-Jahre in den Innensaum eines Wintermantels eingenäht, über die rumänische Grenze nach Deutschland geschmuggelt und schließlich zum Roman wurden.

Später arbeitete die Autorin immer wieder an der „Abstufung dreier Nuancen von Grau“: Das an manchen Stellen fast schon fragmentarisch anmutende Erzählen fügt sich mit einer Biographie, der von der Staatsgewalt immer wieder Brüche zugefügt werden, zusammen.

Der Roman erschien dann erstmals in einem bundesdeutschen Verlag 1997 und wurde nun bei „danube books“ wieder aufgelegt. Der Ulmer Verlag hat sich auf Bücher aus den Ländern an der Donau entlang spezialisiert: Grenzenlose Literatur entlang eines Flusses. „Mit unseren Büchern wollen wir nationale Grenzen überwinden und die kulturelle Vielfalt der Donauregion fördern“, heißt es auf der Homepage.


Informationen zum Buch:

Kristiane Kondrat
Abstufung dreier Nuancen von Grau
danube books Verlag
160 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
16,50 Euro
ISBN  978-3-946046-14-1

Otto Dov Kulka: Landschaften der Metropole des Todes. Aharon Appelfeld: Geschichte eines Lebens

Die Bücher von Aharon Appelfeld und Otto Dov Kulka, die als Kinder den Nazi-Terror erlebten, zeigen, wie wichtig es ist, über diese Vergangenheit zu sprechen.

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Bild von Dariusz Staniszewski auf Pixabay

„Damals baute das Vergessen sich seine tiefen Keller, und die nahmen wir später mit nach Israel. (…)
Dieses Buch ist keine Zusammenfassung, sondern eher der – wenn man so will – verzweifelte Versuch, die verschiedenen Teile meines Lebens wieder mit einer Wurzel zu verbinden, aus der sie erwachsen sind.“

Aharon Appelfeld, „Geschichte eines Lebens“, 1999

„Für mich endete diese Reise als etwas, das eigentlich niemals in der Freiheit ankam. Ich blieb in jener Metropole, ein Gefangener jener Metropole, dieses unabänderlichen großen Gesetzes, das keinen Platz ließ für eine Rettung, für eine Verletzung dieser fürchterlichen „Gerechtigkeit“, der zufolge Auschwitz immer Auschwitz bleiben muss. So blieb mir das unabänderliche Gesetz erhalten, und ich blieb in ihm gefangen (…).“

Otto Dov Kulka, „Landschaften der Metropole des Todes“, 2013

In einer Zeit, in der es möglich ist, den Überdruss an der Erinnerungsarbeit an die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte und des jüdischen Volkes öffentlich zu formulieren, in einer Zeit, in der Gedenken mancherorts zur bloßen Form und Formel erstarrt, in dieser Zeit ringen die Opfer dennoch immer noch um ihre Sprache, ihre Sprache, ihre Geschichte, ihre Würde.

Mag mancher sich von der scheinbaren „Monotonie des Grauens“ abwenden, uninteressiert oder überdrüssig, so möchte man jenen die Zeugnisse derer geben, die die Hölle der Vernichtung überlebten: Für das Individuum gibt es keine Monotonie im Grauen, die Grausamkeit führte stets zur individuellen Zer- oder Verstörung. Zu den literarischen Zeugnissen trugen Imre Kertész, Jorge Semprun, Louis Begley, Primo Levi und viele andere bei. Doch Schreiben ist hier mehr als das Wenden an die Außenwelt, als öffentliche Erinnerungsarbeit– es ist vor allem Schreiben, um die Autonomie über das eigene Leben nach der Versklavung wiederzuerlangen.

Eindrucksvoll deutlich machen dies die Bücher zweier Autoren, die bereits als Kinder in die Maschinerie des Todes gerieten: Aharon Appelfeld und Otto Dov Kulka. Beide konnten entrinnen – um einen hohen Preis.

Elternlos, heimatlos, sprachlos.

Otto Dov Kulka

Otto Dov Kulka musste fast 80 Jahre alt werden, bis er die Geschichte einer Kindheit, die in Theresienstadt zu Ende ging, in Sprache festhalten konnte. Seine nun erschienenen „Landschaften der Metropole des Todes – Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und Vorstellungskraft“ sind ein eindrückliches Ringen – das Ringen um die Sprache, die das Unsagbare erfassen kann, das Ringen um die eigene Geschichte. „Auf der Suche nach Geschichte und Gedächtnis“ ist ein Kapitel überschrieben: Zentral in seinem Lebenswerk sei die historische, wissenschaftliche Forschung zu Fragen des Holocaust gewesen, ein Mittel, biografische Elemente auszuklammern, die Distanz zu wahren. Aber es gelingt nicht, die Vergangenheit unter Verschluss zu halten, Auszüge aus den Tagebüchern und festgehaltene Träume verdeutlichen dies.

Die entsetzliche Stille in Auschwitz

Die Erinnerung bricht sich Bahn – und dabei sind nicht prägend Szenen haltloser Gewalt. Ergreifender ist das, was Kulka aus seinem Gedächtnis als die Erfahrungen eines Kindes herausholt: Der blaue Himmel mit Silberstreifen über dem Todeslager, „die große Stummheit, die entsetzliche Stille“, die über Auschwitz während einer Hinrichtung lastet, der Kinderchor, der unweit der Krematorien die „Ode an die Freude“ einstudiert:

„Wenn ich die Welt von Auschwitz und ihre Realität betrachte – als Junge von zehn Jahren habe ich diese scharfe, brutale, zerstörerische Dissonanz und Pein wohl nicht gespürt, die jeder erwachsene Häftling erlebte, der aus seiner Welt der Kultur mit ihren Normen der Grausamkeit und des Todes geworfen wurde. Diese Konfrontation, die jeder Häftling, der am Leben blieb, durchlebte und die fast immer einen Teil des Schocks ausmachte, der ihn oft schon nach kurzer Zeit niederstreckte – sie existierte für mich nicht. Denn das war die erste Welt und die erste Lebensordnung, die ich kennenlernte: die Ordnung der Selektionen und der Tod als einzige Gewissheit, die die Welt regiert.“

Das Gesetz des „Großen Todes“ als kindliche Urerfahrung – dem zu entkommen, „damit zu ringen, mit der hoffnungslosen Aussichtslosigkeit, und sich dennoch verzweifelt zu bemühen, ihm zu entkommen, wie ich es dort versucht habe, war eine prägende Erfahrung.“ Und dem zu entkommen, einen Abschluss zu finden, dafür scheint auch Kulkas Buch geschrieben worden zu sein.

Aharon Appelfeld

Aharon Appelfeld klammert die Lagererfahrung in seiner „Geschichte eines Lebens“ dagegen bewusst aus. Ein Entkommen und ein Wiederfinden der Kindheit davor, die Auseinandersetzung mit dem Geschehenen, das Wiederfinden der Sprache als Heimat – das sind die Themen,  mittels derer die beiden Autoren nebst ihrer vergleichbaren Biographie, sich intensiv berühren. Auch Appelfeld, der sich als Literat jahrzehntelang mit der Shoah auseinandersetzte, braucht lange, um zu seiner eigenen Geschichte zu gelangen.

„Seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind bereits über fünfzig Jahre vergangen. Vieles habe ich vergessen, vor allem Orte, Daten und die Namen von Menschen, und dennoch spüre ich diese Zeit mit meinem ganzen Körper. Immer wenn es regnet, wenn es kalt wird oder stürmt, kehre ich ins Ghetto zurück, ins Lager oder in die Wälder, in denen ich so lange Zeit verbracht habe. Die Erinnerung hat im Körper anscheinend lange Wurzeln. Manchmal genügt der Geruch von gammeligen Stroh oder ein Vogelschrei, um mich weit weg und tief in mich hineinzuschleudern.“

Das Jiddische ist die Sprache der Heimat

Appelfeld erzählt in nüchternem, aber deshalb auch umso anrührenderem Ton die Geschichte eines Schriftstellers, der sein Leben lang versucht, eine Sprache zu finden – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Die Sprache der geliebten Mutter ist die Sprache ihrer Mörder. Das Jiddische ist die Sprache der Großeltern, das in Israel als rückständig abgelehnt wird. Ruthenisch, rumänisch, deutsch, jiddisch – die Vielsprachigkeit seiner Heimat, sie droht verloren zu gehen, während das Hebräische ihm nicht zuwächst.

Der Verlust der Worte, das Ringen um sie – das ist auch das Ringen um die innere und äußere Heimat. Das Buch endet bezeichnenderweise mit der Auflösung des Clubs „Das neue Leben“, der 1950 von Überlebenden aus Galizien und Bukowina in Jerusalem gegründet worden war. In der neuen Zeit hat das alte Leben keinen Platz mehr – ein melancholischer Fingerzeig auf den Niedergang einer ganz eigenen Kultur. Appelfeld stammte aus Czernowitz – jener rumänischen Stadt, in der das geistige Leben, vor allem aber die jüdische Kultur ein blühendes Leben erlangte. Paul Celan, Rose Ausländer, Klara Blum – nur einige der Schriftsteller, die mit dieser Stadt verbunden sind.

Begegnung mit Samuel Agnon

Die Wörter können Vergangenes weder zurückholen noch ungeschehen machen. Appelfeld bleibt skeptisch, was die der Sprache zugeschriebene Heilkraft betrifft. Aber – auch geprägt durch die  Begegnung mit Samuel Agnon (1888-1970) – wird sie nicht nur zum Mittel, um das Stammesgedächtnis zu erhalten, eine für ihn denkbare Definition des Schriftstellers. Sondern auch, um das Schweigen zu überwinden:

„Mein Schreiben begann mit einem starken Hinken. Die Erlebnisse des Krieges lasteten auf mir, und ich wollte sie weiter überwinden. Über meinem bisherigen Leben wollte ich ein neues erbauen. Es brauchte Jahre, bis ich zu mir zurückkehrte, und als es soweit war, hatte ich noch einen langen Weg vor mir. Wie gibt man diesem brennenden Inhalt Form? Wo anfangen? Wie die Teile zusammenfügen? Und mit welchen Worten?“.

Otto Dov Kulka und Aharon Appelfeld: Es ist gut, dass sie ihre Sprache wieder gefunden haben.

Otto Dov Kulka, geb. 1933 in der Tschechoslowakei, kommt mit seiner Mutter zunächst nach Theresienstadt, 1943 in das sogenannte Familienlager nach Auschwitz-Birkenau. Dort trifft er wieder mit seinem Vater Erich zusammen. Die beiden Männer überleben. Seit 1949 lebt Kulka in Israel und widmet sich der Geschichtsforschung. Er ist emeritierter Professor für die Geschichte des jüdischen Volkes an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er wird am 18. November 2013 mit dem Geschwister-Scholl-Preis in München ausgezeichnet.

Otto Dov Kulka
Landschaften der Metropole des Todes
Deutsche Verlagsanstalt DVA, 2013
ISBN 978-3-421-04593-5

Aharon Appelfeld, geb. 1932 bei Czernowitz (heute Ukraine), verliert beide Eltern im Holocaust. Ihm gelingt die Flucht aus einem Lager, er schlägt sich auf Bauernhöfen und im Wald durch. Seit 1946 lebt er in Israel. Er ist emeritierter Professor für hebräische Literatur an der Ben-Gurion-Universität in Beerscheba.

Aharon Appelfeld
Geschichte eines Lebens
rororo-Taschenbuch, 1999
ISBN 978-3-499-24247-2

Die „Zeit“ meint – diese Bücher überdauern die Zeit

Die Redaktion der ZEIT stellte einen „Kanon des jungen Jahrhunderts“ zusammen. 15 lesenswerte und wichtige Romane.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Die Zeit stellte 2015 die wichtigsten Romane der aktuellen Literatur zusammen. Man habe die Weltliteratur durchforstet, leidenschaftlich diskutiert und sich für 15 Romane dieses Jahrhunderts entschieden, die die Redaktion für die besten hält, „für Meisterwerke, die bleiben werden und nicht mit dem Tag vergehen.“ Die Redaktion ruft ausdrücklich zu Widerspruch und Diskussion auf – und weist fürsorglich darauf hin, dass „Unendlicher Spaß“ bereits 1996 erschien.

Und das sind die Titel der Liste:

  1. Jonathan Franzen – Die Korrekturen. Jan Brandt schreibt: „Wenn es einen Einwand gegen Franzen gibt, dann ist es diese ästhetische Rückwärtsgewandtheit: Er ist ein reaktionärer Idealist, der einen Feldzug gegen die Verlockungen des Informationszeitalters führt.“
    Beitrag: „Der analoge Triumph“
  2. Jennifer Egan – Look at me. Der Roman erschien kurz vor 9/11 und handelt von einem geplanten Terrorakt in New York. „Mir kam der furchtbare Gedanke, dass ich eine Komplizin war“, äußert Jennifer Egan im Interview mit Susanne Mayer.
    Beitrag: „Ahnen, was passieren wird“
  3. Orhan Pamuk – Schnee. „Orhan Pamuk hat sein Meisterwerk Schnee vor den Attentaten von 9/11 geschrieben, der Roman spielt in den 1990er Jahren, erschienen ist er 2002, und er nimmt vorweg, was seit dem Einsturz des World Trade Center die globalisierte Welt aus den Fugen hebt: dass der Fundamentalismus im Namen des Islams in die westliche Modernisierung eingewoben ist, noch im abgelegensten Nest der Provinz und dass der Staat kaum Antworten auf die Gewalt kennt, außer seinerseits durch Gewalt, Militär, Überwachung zu reagieren“, schreibt Elisabeth von Tadden.
    Beitrag: „K wie Kristall“
  4. Daniel Kehlmann – Die Vermessung der Welt. Ulrich Greiner nimmt Stellung für das Buch: „Nein, Kehlmann war nicht dabei, und dies ist kein historischer Roman, sondern ein virtuoses Spiel mit Dichtung und Wahrheit. Die historischen Fehler, die dem Buch vorgeworfen werden, hat Kehlmann in poetischer Freiheit absichtsvoll eingebaut.“
    Beitrag: „Ein virtuoses ironisches Spiel“
  5. Marie NDiaye – Drei starke Frauen. „Als ich das Buch vor acht Jahren schrieb, sprach noch niemand von den Flüchtlingen. Für mich waren sie Helden“, äußert die Schriftstellerin im Gespräch mit Iris Radisch. Heute würde sie dieses Buch nicht mehr so schreiben – auch wenn sie hofft, „dass seine Geschichten wahr bleiben.“
    Beitrag: „Eine Chiffre für das Fremdsein“
  6. Péter Nádas – Parallelgeschichten. „Es gibt keinen anderen Autor, der mit dieser obsessiven Insistenz jede Pore der Epidermis untersucht hat, die dünne Membran zwischen innen und außen“, meint Michael Krüger. Und sagt: „Vielleicht lesen künftige Generationen dieses Buch als düstere Prophetie dessen, womit sie sich herumzuschlagen haben. Sie werden es nicht bereuen.“
    Beitrag: „Die Haut und das Ich“
  7. Haruki Murakami – 1Q84. „Japanische Literatur wirkt auf den Außenseiter so klar und so verschlossen wie ein Zengarten, der bei aller Übersichtlichkeit doch einen Sinn hat, der sich ihm nicht erschließt“: Burkhard Müller versucht dem Sinn, im „Opus Magnum“ des japanischen Starautors nachzuspüren.
    Beitrag: „Waisenkinder dieser Zeit“
  8. Herta Müller – Atemschaukel. „Das Besondere an diesem Buch ist die Sprache, in der das Schicksal von Leopold Auberg, dem Alter Ego Pastiors, in 64 kurzen Kapiteln erzählt wird“, meint Alexander Cammann. „Denn Müller poetisiert das Grauen.“
    Beitrag: „Die Schönheit der Wörter, das Grauen der Lager“
  9. Vladimir Sorokin – Der Schneesturm. Stefanie Schlamm sprach mit Sorokin über dieses Werk. Auf ihre Frage „Sie selbst werden gerne als moderner Klassiker bezeichnet. Doch sind Sie nicht eher ein düsterer Romantiker?“ antwortet Sorokin ganz lapidar: „Dazu möchte ich nichts sagen.“
    Beitrag: „Das eisige Drama der Provinz“
  10. Michel Houellebecq – Karte und Gebiet. Für den Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich ist der im Roman portraitierte Künstler, „der, gerade weil er als solcher unfasslich bleibt, viel provokanter als die Künstlerfiguren anderer Romane der letzten Jahre.“
    Beitrag: „Der Wahnwitz des Betriebs“
  11. John M. Coetzee – Tagebuch eines schlimmen Jahres. „In Coetzees Tagebuch eines schlimmen Jahres kehren die früheren Möglichkeiten des Romans zurück. Der Ruhm des Nobelpreisträgers macht sie auf der großen literarischen Bühne salonfähig“, urteilt Stephan Wackwitz.
    Beitrag: „Die erneuerte Tradition“
  12. Chimamanda Ngozi Adichie – Americanah. „Es passiert viel in diesem Roman, der auf drei Kontinenten spielt, doch es werden diese Blogeinträge sein, die Americanah seinen Nachhall bescheren. Sie sind ein Zeitdokument der Ära Obama, sie sind erhellend und unterhaltsam, ernüchternd und brutal“, urteilt Jackie Thomae.
    Beitrag: „Was Sie schon immer über Farben wissen wollten“
  13. Karl Ove Knausgård – Sterben/Lieben/Spielen/Leben/Träumen. „Aber ich wollte mich mit Min Kamp auch befreien von diesen stilistischen Erwartungen. Ob es gut oder schlecht geschrieben ist, finde ich uninteressant. Interessant ist, was darin zum Ausdruck kommt. Also versuchte ich, schnell zu schreiben und unterhalb meiner eigenen Standards, dafür näher am Leben.“ Der Norweger im Interview zu seinem Mammut-Schreib-Projekt.
    Beitrag: „Ein Bedürfnis nach Revanche“
  14. Rainald Goetz – Klage. In diesem Buch, meint David Hugendick, lärmt die Gegenwart so oft, „dass es bisweilen kaum auszuhalten ist.“ Aber der aktuelle Büchner-Preisträger lärmt halt besonders gut. AMORE!
    Beitrag: „Tiefenamputiertheit“
  15. Roberto Bolaño – 2666. „Aber oh Wunder: Bolaño lesen, das gilt auch für das von Christian Hansen bewunderungswürdig übersetzte 2666, ist ganz leicht. Er verzichtet auf hochtrabende Stilistik und geht seinen Lesern nie mit überlegener Besserwisserei auf die Nerven“, meint Heinrich von Berenberg. D`accord!
    Beitrag: „Ästhet und Folterknecht“