Lesezeichen von: Herta Müller

Lesezeichen sind kurze Zitate von Autor*innen über das Leben, Lesen, Schreiben. Gedankenanstöße, Diskussionsstoff, Merkmale.

“Wenn ich erklären soll, warum für mich ein Buch rigoros ist oder flach, kann ich nur auf die Dichte der Stellen hinweisen, die im Kopf den Irrlauf hervorrufen, Stellen, die mir die Gedanken sofort dorthin ziehen, wo sich keine Worte aufhalten können. Je dichter diese Stellen im Text sind, um so rigoroser ist er, je schütterer sie stehen, um so flacher ist der Text. Das Kriterium der Qualität eines Textes ist für mich immer dieses eine gewesen: kommt es zum stummen Irrlauf im Kopf oder nicht.”

Aus: “Der König verneigt sich und tötet”, Herta Müller, Hanser Verlag, 2003.

Was Sprache ausmacht, wie Muttersprache den Menschen prägt, was Worte verschweigen, was Schweigen sagt, was Reden und Schreiben in einer Diktatur bedeutet, um all dies dreht sich dieser Band der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, angesiedelt zwischen Autobiographie und Essay. Ein Grundriss ihrer Poetologie, ein Zeugnis davon, wie ihre Dichtkunst geprägt wurde durch das Aufwachsen in einer Gesellschaft, in der das Schweigen alles überlagerte.
Und der Text einer Schriftstellerin, die bei mir immer das eine erreicht: den stummen Irrlauf im Kopf in Gang zu setzen.

Wilhelm Genazino: Aus der Ferne. Auf der Kippe

Postkarten, Bilder, Fotos – alles birgt für Wilhelm Genazino Anregungen. Kurze Bildbetrachtungen voller Gehalt, ein Streifzug durch die Wunderkammer Genazinos.

charlie-chaplin-2754312_1280
Bild von Momentmal auf Pixabay

“Wenn dieses Bild aufscheint, am Ende von “Modern Times”, sind die Zuschauer erleichtert, daß Charlie und die schöne junge Frau endlich zusammengefunden haben. Nach hundert Fehlschlägen leuchtet ihnen die Utopie des Glücks, der sie nun, auf einer von allen Niederlagen gereinigten Straße, entgegengehen. In unserer Begeisterung übersehen wir, daß sich in diesem Schlußbild noch eine andere, viel verstecktere Hoffnung zu Wort meldet, eine Sehnsucht, die wir vielleicht deswegen nicht bemerken, weil unser Innerstes ihr Scheitern schon lange ahnt. Erst eine Postkarte wie diese hier, die das Schlußbild einfriert und es damit für ein beliebig langes Betrachten freigibt, läßt uns mehr sehen als das Offenkundige. Das Paar – der haarsträubende Trottel, dem es gegen alle Wahrscheinlichkeit gelungen ist, eine wundervolle Frau für sich einzunehmen – erinnert uns an all die Menschen, die wir außerhalb des Kinos kennen und die sich oft verzweifelt anstrengen, richtige Paare zu sein. Vermutlich gibt es auf der ganzen Welt nicht ein einziges Paar, das wirklich zusammenpaßt, und vielleicht kann es auch keines geben. Jedem einzelnen von ihnen haftet etwas Falsches an, etwas sanft Erzwungenes oder heiter Gelähmtes, jene nicht tilgbare Spur von Überredung und Gewalt, ohne die wir unser Leben nicht aufbessern können. An dieser wunden Stelle setzt Charlie die verborgene Utopie an. Er zeigt uns zwei in ihren Äußerlichkeiten kraß auseinanderstrebende Menschen, die trotzdem ein Paar sind. Ein Paar freilich, das keinen Versuch unternimmt, einander passend zu machen, worin es sich von allen “Paaren” der Wirklichkeit unterscheidet. Kurz bevor wir aufatmend das Happy-End beklatschen, sehen wir die traumhafte Utopie einer Annäherung ohne Verähnlichung. Eine Utopie ist dann echt, wenn sie uns an etwas Unwirkliches wie an etwas Wirkliches glauben läßt. In dieser für das Bewußtsein kaum erträglichen Fallhöhe liegt die fast läppische Größe dieses Schlußbilds.”

Wilhelm Genazino: Auch aus einer kurzen Bildbetrachtung macht er einen Text voller Welt. “Aus der Ferne. Auf der Kippe” beinhaltet Texte zu Fotos und Postkarten, die der Spaziergänger Genazino auf Flohmärkten, in Trödelläden und bei seinen Streifzügen erstand.

Informationen zum Buch:

Wilhelm Genazino
Aus der Ferne. Auf der Kippe
dtv Verlag, 2012
ISBN 978-3423141260