John Ashbery: Im Ozean der Sprache

John Ashbery, Weltpoet, lyrischer Solitär, Vorbild für zahllose nachfolgende Lyriker, verstarb nun, 90jährig. Ein Nachruf von Literaturkritiker Michael Braun.

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Bild von Roger Mosley auf Pixabay

IM OZEAN DER SPRACHE – Eine Notiz zum Tod des amerikanischen Weltpoeten John Ashbery

Ein Gastbeitrag von Michael Braun

Eine der schönsten Legenden, die diesen Giganten der Weltpoesie umwehen, erzählt davon, dass selbst die Falschschreibung seines Namens Poesie erzeugt hat. „Ash-berry“ – die Asche und die Beere. Die „Beere aus Asche“ verweist auf das beunruhigend Flimmernde seiner Gedichte, das Opake als eine Brücke zum Wunderbaren. John Ashbery, dieser lyrische Solitär und Vorbild für eine unüberschaubare Zahl von poetischen Bewunderern, unternahm über sechzig Jahre lang die „Anstrengung, sich hinzusetzen, und, der Kopf eine tabula rasa, mit dem Schreiben zu beginnen“.
Die Fama besagt, dass der 1927 in Rochester geborene John Ashbery zu den jungen wildern Dichtern der New York School gehörte. 1950 lernte er seine aufrührerischen Kollegen Frank O´ Hara und Kenneth Koch kennen und mischte mit provozierenden „kubistischen“ Gedichten die Feten der avantgardistischen Maler und Bohemiens auf. „Der Wüstling“, so schreibt sein großer Freund und wichtigster Übersetzer ins Deutsche, Joachim Sartorius, „steckt in der frühen Lyrik.“ In seinen frühen Bänden „The Tennis Court Oath“ (1962) und „Rivers and Mountains“ 1966) inszenierte er den Zusammenprall von Alltagsslang und erhabener Metaphorik und collagierte die Sprache des Melodrams mit Fundstücken aus der Medienwirklichkeit. Seine späteren epischen Gedichte, die sich in viele Richtungen verzweigen, die epochalen Bände „Self-Portrait in a  Convex Mirror“ („Selbstporträt im konvexen Spiegel“) von 1975 und „Flow Chart“ (1990)  setzen einen Prozess der Selbsterforschung in Gang, der an kein Ziel führt, sondern nur in der Bewegung des Fragens selbst, im rastlosen Grübeln und Vor-Tasten in eine fremde Welt existiert. Der endlose Dialog, den er in diesen Gedichten mit seinem Bewusstsein führt, so schreibt Joachim Sartorius sehr treffend, „mag noch so trivial, noch so sehr small talk, noch so idiosynkratisch sein, er berührt immer das Universelle.“ Im langen Gedicht „A Wave“ („Die Welle“) ist diese Form von Bewusstseinsstrom prägnant zusammengefasst: „Durch so viele Systeme wie die,/in die wir verstrickt sind, durch ebensoviele/ wurden wir freigesetzt auf einen Ozean der Sprache, der zu einem Teil/von uns wird, als ob wir je davonkämen.“ Es scheint, als teilte sich das lyrische Subjekt immer wieder in mehrere Stimmen – „a kind of crowd of voices“ – , die sich zwischen den Zeiten bewegen.

John Ashbery unterrichtete viele Jahre am Brooklyn College, später am Bard College, als freier Autor vagabundierte er dann viele Jahre zwischen seiner Stadtwohnung in New York, seinem Haus in Hudson und ausgedehnten Reisen nach Europa hin und her, zehn Jahre lang lebte er von 1955 bis 1965 in Paris. Nach zahlreichen Publikationen im Hanser Verlag und im Residenz Verlag war es in den vergangenen Jahren der Luxbooks Verlag, der in Deutschland die Erinnerung an diesen Riesen der amerikanischen Poesie wach hielt. Zuletzt haben Matthias Göritz und Uda Strätling das komplizierte Langgedicht „Flow Chart“ in eine kühne deutsche Fassung („Flussbild“, 2013) gebracht. „Einer von uns bleibt zurück“, heißt es im Gedicht „Hotel Lautréamont“, „Einer von uns geht auf der Brücke weiter / wie auf einem Teppich. Leben – es ist herrlich – folgt und fällt zurück.“ Im Juli hatte er noch seinen 90. Geburtstag gefeiert, am 3. September 2017 ist das herrliche Leben des Weltpoeten und Pulitzer-Preisträgers John Ashbery in seinem Haus in Hudson zu Ende gegangen.

Michael Braun
Michael Braun, geboren 1958, lebt als Literaturkritiker in Heidelberg. Er veröffentlicht Essays zu Fragen einer zeitgenössischen Poetik. Von 2007 bis 2011 gab er Deutschlandfunk-Lyrikkalender heraus, seit 2012 den Lyrik-Taschenkalender (Wunderhorn Verlag). Weitere aktuellere Veröffentlichungen unter anderem: „Jean Krier: Eingriff, sternklar. Gedichte aus dem Nachlass“ (Hrsg., Poetenladen, Leipzig 2014) und „Der gelbe Akrobat 2. 50 deutsche Gedichte, kommentiert“ (Hrsg. zusammen mit Michael Buselmeier. Poetenladen, Leipzig 2016).
Weitere Informationen zum Autoren: http://poetenladen.de/michael-braun.htm

#MeinKlassiker (3): Ilse Aichinger – poetischer Widerstand gegen eine Sprache der Lüge

Literaturkritiker Michael Braun bezeichnet es als sein “Lebensbuch”, sein poetisches Evangelium: “Schlechte Wörter” von Ilse Aichinger.

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Bild von Peter H auf Pixabay

Unerwartet und viel zu früh verstarb im Dezember 2022 der Lyrikkritiker und Essayist Michael Braun. “Man kann behaupten, dass er Deutschlands wichtigster Lyrikkritiker war”, würdigte ihn Gregor Dotzauer in einem Nachruf. Ich bin sehr dankbar, dass Michael Braun auch hier in dieser Reihe über seinen Klassiker in seiner unnachahmlichen Weise geschrieben hat.

Mein Klassiker von Michael Braun:

Im Zeitalter der beschleunigten Kommunikationsprozesse und des universellen Kommentar-Gezappels auf Facebook und Twitter ist das Schweigen zum Störfall geworden. In der Dichtung von Ilse Aichinger ist das Schweigen jedoch „die Hauptsache“. „Ich habe eigentlich nach langer Zeit erkannt“, so hatte die Dichterin 1993 erklärt, „dass das Schweigen die Hauptsache ist. Ich bin für Langsamkeit, für Verschwiegenheit, dass man nur dann schreibt, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt.“ Der Glaube daran, dass es notwendig ist, den Wörtern „die Lautlosigkeit zurückzugewinnen, aus der sie entstanden sind “ – das ist der Ausgangspunkt jeder substantiellen Poetik, das ist die Voraussetzung für einen gültigen Satz.

Mit Ilse Aichinger, am 1. November 1921 in Wien geboren, ist die letzte lebende Zeugin der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur am 11. November 2016 gestorben. Über ihrem Leben lag früh eine Todesdrohung. Da sie nach den Kriterien der Nationalsozialisten als „Halbjüdin“ galt, wuchs sie in Wien unter schwierigsten Bedingungen auf, immer in Gefahr, von den neuen Machthabern nach 1938 deportiert und ermordet zu werden. Nur mit viel Glück überlebte sie mit ihrer Mutter, einer jüdischen Ärztin, die Barbarei. Vor ihren Augen wurde ihre Großmutter 1942 in Wien verschleppt und dann später im Vernichtungslager Minsk ermordet. Diese Erfahrung der fortdauernden Todesdrohung hat Ilse Aichinger das Sprachvertrauen geraubt.

Ihr Buch „Schlechte Wörter“, das erstmals 1976 erschien, ist zu meinem Lebensbuch geworden, zu meinem poetischen Evangelium. Es müsste zur Pflichtlektüre für alle literarisch Ambitionierten erklärt werden. Denn dem bewusstlosen, reflexhaften Gebrauch der Sprache, dem Herumfuchteln mit den instrumentalisierten, ideologisch verseuchten Wörtern wird hier der Boden entzogen. Ilse Aichingers Schreiben vollzieht den poetischen Widerstand gegen eine Sprache der Lüge, die stets dort beginnt, wo man sich den gefälligen Wörtern, den verführerischen Großbegriffen überlässt. Der Titeltext des Bandes „Schlechte Wörter“ beginnt daher mit einem Misstrauensvotum gegen die „besseren Wörter“: „Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr. ‚Der Regen, der gegen die Fenster stürzt.‘ Früher wäre mir da etwas ganz anderes eingefallen. Damit ist es jetzt genug. ‚Der Regen, der gegen die Fenster stürzt.‘ Das reicht.“ In einem späteren Buch, dem „Journal des Verschwindens“ (in „Film und Verhängnis“, S. Fischer Verlag, 2001), deutete Aichinger an, sie wolle selbst eigentlich nicht existieren, sie wolle verschwinden. Sie möchte das nachvollziehen, was ihre Angehörigen unfreiwillig getan haben, als sie ermordet wurden. Schon in ihrem phänomenalen Aufzeichnungsbuch „Kleist, Moos, Fasane“ hatte sie 1985 ihren Weg vorgezeichnet: „Schreiben ist sterben lernen.“ Und: „Die Hölle himmelt mich ein.“

Michael Braun

Ilse Aichinger: Schlechte Wörter. S. Fischer Verlag (Fischer Taschenbuch), Frankfurt am Main 1976 ff. 112 Seiten, 5,95 Euro.