Mike Johansen – ein wiederentdeckter Autor ukrainischer Literatur

Mike Johansen darf als einer der begabtesten Vertreter der „erschossenen Wiedergeburt“ gelten, eine Generation ukrainischer Intellektueller, die dem Stalin-Terror zum Opfer fielen. Sein wichtigster Roman zeigt, wie eng verbunden er sich kulturell mit Westeuropa fühlte.

„Selbst der Stein, der rissig und verschlafen zwischen zwei alten Eichen am abgelegten Ufer des bewaldeten Dinez liegt und auf dem emsige, rotbraune Ameisen umherwandern – auch er reist. Nun ist der Mensch aber kein Stein. Der Mensch will mindestens die Umgebung seines Zuhauses bereisen, noch mehr aber ferne Länder.“

Mike Johansen, „Die Reise des Gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alceste, in die Slobidische Schweiz“


Wer die Slobidische Schweiz auf einer Landkarte sucht, wird dies vergebens tun: Es ist ein Toponym, eine Metapher. Mike Johansen (1895 – 1937), einer der prägendsten ukrainischen Schriftsteller seiner Generation, zeichnet das Bild einer atemberaubend schönen Region, „ein Netz aus Seen und Biegungen“ und einer „Vielzahl dunkler bewaldeter Berge“, die jedoch allein in der Imagination des Schriftstellers besteht. Und doch eine symbolhafte Bedeutung für ihn und seine Altersgenossen hat: Sie steht für eine Ukraine, die sich kulturell, literarisch und politisch eng mit Europa verbunden fühlt.

Seine Vision von einer eigenständigen ukrainischen Literatur, die in der westeuropäischen Tradition verankert ist, bezahlte Mike Johansen mit dem Leben: 1937 wurde er wegen „ukrainischem Nationalismus“ in Charkiw verhaftet und am Jahrestag der Oktoberrevolution am 27. Oktober in Kiew bei einer Massenhinrichtung erschossen. Knapp zwanzig Jahre später erschien in Paris ein Lyrikband unter dem Titel „Die erschossene Wiedergeburt“, der den ukrainischen Schriftstellern gewidmet war, die dem Stalinistischem Terror zum Opfer fielen. Mike Johansen darf als einer ihrer begabtesten, eloquentesten Vertreter gelten.

Sonnenuntergang am Dnjepr. Bild von Александр Красовский auf Pixabay

Und so ist die deutsche Erstübersetzung dieses burlesken Romans mit seinem sperrigen Titel auch eine Art „Wiedergeburt“, die von hoher Bedeutung in Zeiten des russischen Angriffskrieges ist: Man kann das Buch nicht lesen, ohne Zorn und Wut zu empfinden über eine Diktatur, deren brutaler Vernichtungswille ein Jahrhundert später wieder darauf abzielt, die lebendige, ukrainische Kultur und ihre Protagonisten zu zerstören.

Burleske Reise mit dadaistischen Zügen

Dabei bietet die von grotesken Vorkommnissen und Wendungen übersprudelnde Reise des Gelehrten Leonardo selbst genügend Stoff zum Amüsement. Und führt die Leser fortlaufend in die Irre (was nicht sonderlich dramatisch ist, solange sie sich in der schönen Slobidischen Schweiz befinden). Denn zunächst folgt man einem Don José Pereira, einem selbsternannten Tyrannenmörder aus Barcelona, der wiederum im Körper von Danko Charytonowytsch Pererwa, Mitglied des steppischen Bezirksverwaltungskomitees, haust und später in der Inkarnation eines Wolfes wieder auftritt – als hätte Mike Johansen das Schicksal der erschossenen Wiedergeborenen vorausgeahnt. Neben Anleihen aus der Welt der Fabel und dadaistischen Zügen schöpft das Buch zugleich aber auch aus dem Reichtum der slawischen Literatur, insbesondere festzumachen am sonstigen Personal, unter anderem verkörpert durch eine alte „Baba“, einem stets betrunkenen Bauern und einem sinistren Baumpflanzer.

Derweil tritt der von Schopenhauer geprägte Leonardo seine Reise an, die insbesondere zum Ziel hat, die zukünftige Geliebte zur gegenwärtigen Geliebten zu machen. Die Slobidische Schweiz soll mit ihrer Naturschönheit die Dame entsprechend beeindrucken. Der Weg ist jedoch nicht nur das Ziel, sondern bereits das vorgezeichnete Ende:

„Er dachte an die langen Jahre der Reise mit der schönen Alceste, die schönen, unvollendeten Jahre. Heute sollten sie zum ersten Mal vollendet werden. Er wusste, dass diese erste Vollendung für ihn nicht die letzte sein würde (…). Aber er wusste auch, dass dieser Reichtum und diese Fülle bald zur Neige gehen würden, vielleicht in einem Monat, vielleicht in einem halben Jahr, sie würden jedenfalls austrocknen und sich erschöpfen.“

Ob Leonardo, diese Mischung aus Don Juan und Don Quichotte, zum Zuge kommt? Eigentlich egal, wie es Mike Johanson im Epilog kurz und knapp auf den Punkt bringt, denn: „Ich habe sie erfunden.“

Personal als dekorative Pappkameraden

So ist der Roman, in dem immer wieder ein allwissender Erzähler auftritt, der beispielsweise Exkurse über „Zoologieliteraturhistoriker“ bietet, auch ein Buch, das über das Schreiben und die Poetologie reflektiert: Was will ein Autor, ein Schriftsteller transportieren, wozu dient eine Geschichte? Mike Johansen klärte über seinen Ansatz in einem Nachwort auf:

„Landschaft kann in der Literatur also in der herkömmlichen deskriptiven Form nicht adäquat behandelt werden. Aber falls ein Autor zufällig auf die Idee kommen sollte, die reziproken Rollen von Landschaft und handelnden Personen zu vertauschen, wäre das eine andere Sache.“

Mit anderen Worten: Leonardo und Alceste sind in Mike Johansens Auffassung „reine Pappkameraden“ und „bewegliche Dekoration“, die den Landschaftsroman lesbar machen, weil der Leser ihren Wegen folgt. Das Mittel zum Zweck, um eine imaginäre Landschaft zu beschreiben, die für Mike Johansen, den polyglotten und mehrsprachigen Poeten mit lettischen, deutschen und skandinavischen Wurzeln die geistige Heimat war: Die ukrainisch-europäische Literatur.

Doch ganz gleich, unter welchen Vorzeichen man diesen von fantastischen Einfällen übersprudelnden Roman liest, ob unter dem Eindruck des derzeitigen oder des vergangenen Terrors gegen die Ukraine, ob als Literaturexperiment, als Landschaftsroman oder imaginären Reiseführer, eines ist gewiss: Die Reise des Gelehrten ist eine fabelhafte Wiederentdeckung, ein quirliges, überwältigendes Lesevergnügen.  


Bibliographische Angaben:

Mike Johansen
Die Reise des Gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alceste, in die Slobidische Schweiz
Übersetzt von Johannes Queck
Secession Verlag, 2023
ISBN 978-3-96639-064-4

Arthur Koestler: Sonnenfinsternis

1940 entstand dieser Roman über Stalins „Säuberungen“. Nun liegt er erstmals nach dem 2018 wiederentdeckten Originaltyposkript vor.

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Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

„Seine ganze Vergangenheit war wund, sie eiterte bei jeder Berührung. Die Vergangenheit, das war die Bewegung, die Partei; auch Gegenwart und Zukunft gehörten der Partei; waren untrennbar mit ihrem Schicksal verflochten; aber die Vergangenheit war mit der Partei identisch. Und diese Vergangenheit war plötzlich in Frage gestellt. Der heiße, atmende Leib der Partei erschien ihm von Geschwüren überzogen, eiternden Geschwüren, blutenden Stigmen, aus denen die rostigen Nägel hervorragten. Wann und wo in der Geschichte hatte es jemals so defekte Heilige gegeben? Wann war eine gute Sache schlechter vertreten worden? Wenn die Partei den Willen der Geschichte verkörperte, dann war die Geschichte selbst defekt.“

Arthur Koestler, „Sonnenfinsternis“

Wenn es ein belletristisches Werk gibt, von dem man zugleich sagen kann, dass es nicht nur eine Epoche des Zeitgeschehens frühzeitig und hellsichtig aufgriff, sondern selbst dieses Zeitgeschehen prägte, dass es Geschichte schrieb und allein schon seine Entstehung wieder eine ganz eigene Geschichte ist, ja dann ist dies wohl „Sonnenfinsternis“ von Arthur Koestler.

Koestler, 1905 in Budapest in eine deutschsprachige jüdische Industriellenfamilie hineingeboren, beginnt seine Berufslaufbahn als Journalist: 1926, vom Zionismus begeistert, wandert er nach Palästina aus und sendet von dort erste Reportagen an die Zeitungen des Ullstein Verlags. 1930 kehrt er nach Berlin zurück, arbeitet als Redakteur und tritt ein Jahr später in die Kommunistische Partei ein. 1954 schreibt er über diese Zeit:

„Ich war 26 Jahre alt, als ich in die Kommunistische Partei eintrat, und dreiunddreißig, als ich sie verließ. Die Jahre dazwischen waren meine besten Jahre, sowohl dem Alter nach, als wegen der bedingungslosen Hingabe, die sie ausfüllte. Nie zuvor oder nachher schien das Leben so übervoll an Sinn wie während dieser sieben Jahre. Sie hatten die Überlegenheit eines schönen Irrtums über die schäbige Wahrheit.“

Die schäbige Wahrheit, das war das Aufkommen des Faschismus. Für viele Schriftsteller jener Generation wurde das revolutionäre Russland zum utopischen Gegenbild. Der Kommunismus als Vision einer Gesellschaft der Gleichen – zum Zeitpunkt der Moskauer Schauprozesse von 1936 bis 1938 ist dieser Traum für Arthur Koestler bereits ausgeträumt.

Die Diktatur unter Stalin

Nicht von ungefähr lässt Koestler daher auch die Hauptfigur seines Romans, den langedienten Volkskommissar Rubaschow, unsanft aus einem Traum erwachen. Rubaschow, der immer wieder im Schlaf von seiner Verhaftung im Ausland (gemeint ist damit wohl das nationalsozialistische Deutsche Reich), den anschließenden Verhören und der Folter träumt, wird dieses Mal von seinen eigenen Landsleuten aus dem Schlaf gerissen, verhaftet und wochenlangen Verhören ausgesetzt. Er wird der oppositionellen Gesinnung, der Verschwörung und eines Mordkomplotts an „Nummer Eins“ (unschwer zu erkennen, dass damit Josef Stalin gemeint ist) beschuldigt.

Rubaschow weiß, was auf ihn zukommt. Er erinnert sich an eine Fotografie der Delegierten zum ersten Parteikongreß, alle an einem langen hölzernen Tisch, Nummer Eins noch abseits am unteren Ende sitzend. Von diesem Bild, nicht von ungefähr an das Abendmahl erinnernd, leben nur noch wenige:

„Ihre Gehirne hatten das Schicksal der Welt verändert; dann bekam jedes seine Ladung Blei.“

Schon 1935 sieht Koestler das kommen, was später als „Große Säuberung“ bezeichnet wird. 1940 veröffentlicht Koestler, der inzwischen in England arbeitete, seinen zweiten Roman, „Sonnenfinsternis“. Das Buch, das am Beispiel des altgedienten Volkskommissars Rubaschow zeigt, wie die Revolutionäre der ersten Stunde unter Stalin den Säuberungen zum Opfer fallen, erregt Aufsehen. Insbesondere im Frankreich der Nachkriegszeit, als dort die Kommunisten kurzzeitig dominieren, wird der Roman leidenschaftlich diskutiert und über 400.000 Mal verkauft. Eine führende Zeitung schreibt gar, es sei der wichtigste Einzelfaktor gewesen, der zur Niederlage der Kommunisten in der Abstimmung über die Verfassung führte, so Koestler in seiner Biographie „Die Geheimschrift“ (1954). In mehr als 30 Sprachen übersetzt, entfaltete der Roman eine ungeheure politische Wirkung. Koestler, der sich selbst zunächst noch im linken Flügel der Labour Party engagierte und zeitlebens antifaschistisch aktiv blieb, wurde von den staatstreuen Kommunisten heftigst angefeindet.

Eines der berühmtesten Werke über den Stalinismus

Im deutschsprachigen Raum spielte dieses „Enthüllungsbuch“ nicht ganz dieselbe Rolle, wurde aber in entsprechenden Enzyklopädien und Aufsätzen zur politischen Literatur als eines der berühmtesten Werke über den Stalinismus immer mit aufgeführt, gleichbedeutend neben den Romanen von Orwell und den Gulag-Erzählungen von Solschenizyn. Zugleich wurde Koestler auch hier für sein Werk angefeindet, beispielsweise von Ernst Bloch und Robert Havemann, der „Sonnenfinsternis“ als Propaganda des „Klassenfeindes“ abtat.

Erneut von hoher Aktualität

Dass der Roman jetzt, 2018, in den deutschen Medien wieder breit diskutiert und von vielen Menschen gelesen wird, hängt mit zwei Faktoren zusammen. Zum einen ist „Sonnenfinsternis“ heute, da in ganz Europa der Zulauf zu den politischen Extremen rechts und links zunimmt, wieder von hoher Aktualität. Zum anderen ist die Geschichte hinter dem Buch abenteuerlich genug. Während Koestler an dem Buch arbeitete, übersetzte seine Freundin Daphne den Text ins Englische. Im Chaos der Flucht ging jedoch das deutsche Originalmanuskript verloren, für den deutschen Buchmarkt musste Koestler „Sonnenfinsternis“ praktisch aus dem Englischen zurückübertragen.
Das Original galt als verschollen. Bis der Kasseler Germanistik-Doktorand Matthias Weßel durch eine Computerrecherche 2015 im Archiv der Universität Zürich auf einen Eintrag stieß: Tatsächlich war die erste Textfassung, mit handschriftlichen Anmerkungen Koestlers, vorhanden.

Die Originalfassung macht im Vergleich zur von Koestler später überarbeiteten Rückübersetzung an Stil und Sprache auch deutlich, unter welchen Umständen „Sonnenfinsternis“ entstand. Die Hetze, das Ungewisse, das ein Leben auf der Flucht prägt, wird bemerkbar, macht das Buch aber auch umso authentischer. Dieses wiederentdeckte Manuskript, das nun im 2006 gegründeten unabhängigen Elsinor Verlag erschien (der „Sonnenfinsternis“ in der „alten“ Fassung bereits im Programm gehabt hatte), bescherte dem Roman und dem Verlag nun große Aufmerksamkeit.

Schuld und Sühne von Dostojewski

Zu Recht: Denn „Sonnenfinsternis“ beschreibt nicht nur eine geschichtliche Epoche, die man überwunden glaubte – zumal man nicht wissen kann, wohin die neue Entwicklung unter Putin führen wird. Sondern der Roman wirft die großen Fragen nach Schuld und Sühne auf (im Verhör diskutieren der Gefangene Rubaschow und sein Gegenspieler eben diesen Roman von Dostojewski): Heiligt der Zweck alle Mittel? Dient eine Revolution den Menschen, die dem Individuum alle Rechte, selbst das wichtigste, das Recht auf Leben, abspricht? Sind politische Utopien angesichts der menschlichen Disposition nicht sowieso von vornherein zum Scheitern verurteilt?

Rubaschow, dessen Schicksal angelegt ist an jene von Leo Trotzki, Karl Radek und Nikolai Bucharin, erkennt im Lauf der Verhöre, wie er sich selbst schuldig machte, weil er die Menschheit über den Menschen stellte. Und obwohl im Lauf seiner Inhaftierung seine Zweifel am System, seine Kritik an „Nummer Eins“ (Stalin wird namentlich nie genannt) wachsen, bekennt er sich am Ende der Vorwürfe, die haltlos sind, schuldig. Er stellt sich ein letztes Mal in den Dienst der Partei.

Als Koestler dieses fiktive Verhör schrieb, wusste die Außenwelt noch nicht sehr viel über die inneren Vorgänge in der Sowjetunion. Man staunte, warum sich langjährige Parteimitglieder einer demütigenden öffentlichen Gehirnwäsche unterwarfen. Erst später wurden Protokollauszüge solcher Verhöre bekannt. Umso hellsichtiger durchschaute damals schon der Autor die Mechanismen des Stalinismus.

Die Verhöre, die in geschichtsphilosophische Diskurse münden, bieten auch bei der heutigen Lektüre noch Denkanstöße, die über die beschriebene historische Epoche hinausgehen. Im Deutschlandfunk sagte Michael Opitz dazu:

„Wie weit Koestler seiner Zeit mit „Sonnenfinsternis“ voraus war, zeigte sich erst Jahre später. Dass das Buch nun in seiner ursprünglichen Fassung vorliegt, ist ein Glücksfall. Hinterfragt wird jene Selbstherrlichkeit der Mächtigen, die glauben, der Zweck heilige die Mittel. Solange dieser Grundsatz als politisch vertretbar gilt, bleibt der Roman aktuell.“

Weitere Informationen:

Arthur Koestler
Sonnenfinsternis
Elsinor Verlag, 2018, 256 Seiten
ISBN 978-3942788533

Besprechung im Deutschlandfunk von Michael Opitz

Zur weiteren Lektüre ein paar Vorschläge:

„Radek“ von Stefan Heym

„Der Lärm der Zeit“ von Julian Barnes

„Der Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn

„Die Revolution entlässt ihre Kinder“ von Wolfgang Leonhard

Ulrich Peltzer: Das bessere Leben

Ein literarischer Trip durch die komplexe Welt der Manager mit Abstechern in die Kunstszene, zudem ein Parforceritt durch die Utopien des 20. Jahrhunderts.

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Bild: (c) Michael Flötotto

Please allow me to introduce myself
I’m a man of wealth and taste
I’ve been around for a long, long year
Stole many a man’s soul and faith…

Pleased to meet you: Es gibt Bücher, die entwickeln ihren eigenen Sound. Und manche setzen diesen Sound im Kopf frei, beim Lesen jagen Versatzstücke durchs Hirn, Stimmen, Sätze, Songs. „Das bessere Leben“ von Ulrich Peltzer ist ein derartiges Buch für mich. Ein vielstimmiger literarischer Trip durch die komplexe, unüberschaubare Welt der Manager, Global Player und Businesstypen, mit Abstechern in rheinländische Reihenhausbiederkeit und in die hippe Kunstszene, zudem ein Parforceritt durch die gescheiterten Utopien des 20. Jahrhunderts. Moskau, Wien, Rotterdam, London, Mailand, Frankfurt, Turin, China, Brasilien, USA – nur einige der Schauplätze, die im Roman eine Rolle spielen. Und die Sprache sitzt. Das Fragmentarische, Zersplitterte der Sätze, die ständigen Wechsel der Erzählerstimmen, das Gehetzte der Gedanken, die Gedankensprünge, ein stetiger Strom, ein Bewusstseinsstrom, die lose verknüpften Erzählstränge, die doch so dicht verwoben sind: Das alles macht das Buch zu einer Herausforderung. Ja, die ersten Seiten sind mühsam, aber dann entwickelt sich ein Sog des Erzählens, der das Buch herausfordernd und herausragend macht.

„Was möglich gewesen wäre, unter Umständen, aber nicht eingetreten ist. In der Wirklichkeit gibt es keinen Konjunktiv als Rettung, dachte Möhle, nur in der Kunst. Die aus einem einzigen Hätte-könnte-würde besteht und mit den Fakten macht, was sie will. Beziehungsweise … sich das Recht nimmt, zu entscheiden, wie eine Erzählung in Worten und Bildern zusammenhängen soll, solange die Wahrscheinlichkeit gewahrt bleibt. Sie nicht vollends ins Phantastische abdriftet, oder? Was ist denn schon wahrscheinlich? Eins so gut wie das andere, im Prinzip, in der Vorstellung. Nur leider mangelt`s an der oft im Leben, im Wirklichen. Wo man wie festgenagelt an Dingen festhält, die es nicht wert sind, die ihrer Bedeutung verlustig gegangen sind, manchmal von heut auf morgen.“

Zwei Typen stellt Peltzer aus der Armee moderner Geschäftsleute in seinem  Roman in den Mittelpunkt: Den Sachlichen, der im Getriebe weltweiter Geschäfte eher verfangen ist und den Strippenzieher, der vom Spiel an sich gefangen ist.

Sales Manager in der Midlife-Crisis

Jochen Brockmann, einer der beiden Hauptfiguren des Romans, steht vor dieser Situation: Der kühl denkende Ingenieur und Sales Manager, Anfang 50, geschieden, die Exfrau sucht ihr Heil in Yogaübungen und Zen, die Tochter in der Kunst, die Geliebten in der Flucht (resp. er in der Flucht vor ihnen), der Kontakt zu Geschwistern und Eltern lose und unterkühlt. Privat ist da nicht viel in diesem Leben, das auf Geschäftsreisen spielt. Und auch beruflich wird ihm der Boden unter den Füßen weggezogen: Das italienische Familienunternehmen wird von jungen Dynamikern überrollt, Brockmann ist ein Auslaufmodell. Midlife-Crisis setzt ein: War es dass, das gute Leben? Konsumkäufe auf Reisen und eine kleine Grafiksammlung?

Faust:

„Ich fühl`s, vergebens hab`ich alle Schätze
Des Menschengeists auf mich herbeigerafft,
Und wenn ich mich am Ende niedersetze,
Quillt innerlich doch keine neue Kraft;
Ich bin nicht um ein Haar breit höher,
Bin dem Unendlichen nicht näher.“

Sein Gegenpart: Sylvester Lee Fleming, ebenfalls ein „global player“, Strippenzieher und Verstrickter zugleich – in undurchsichtige, nur scheinbar legale „Versicherungs“-geschäfte. Einer, der verführerisch ein besseres Leben verspricht – seinen Kunden, Jungmanagern, die er an der goldenen Leine hält, auch den wenigen Menschen, die er etwas weiter hineinlässt in seine private Gefahrenzone. Ein Mephisto mit Beschädigung: Sich unruhig in Hotelzimmer wälzend, an der Vergangenheit knabbernd, ein vereinsamter Höllenhund. Getrieben von Überdruss, Zynismus, scheinbarer Abgeklärtheit (auch da liegt eine buchstäbliche Leiche im Keller des Gewissens).

Mephistopheles:

„Wer lange lebt, hat viel erfahren,
Nichts Neues kann für ihn auf dieser Welt geschehn.“

Ganz wie Mephistopheles trifft Fleming den Brockmann in der Phase seines größten Zweifels und der Resignation an, versucht ihn, in seine zwielichtigen Geschäfte zu verstricken, ist der Verführer. Brockmann widersteht. Das Ende bleibt offen. Das Flugzeug zum nächsten Geschäft hebt ohne ihn ab. Der letzte Satz eine Andeutung:

„Darf ich mich Ihnen vorstellen?“, sagt plötzlich der Mann auf dem Nebensitz. Warum nicht?

Mephisto alias Fleming verführt das nächste Opfer, money makes the world go round, die Kapitalismusmaschine dreht sich weiter.

Und Brockmann, findet er vielleicht das bessere Leben? Im Rückzug ins Private? Von den Boni an der Seite von Angelika lebend – jene durchaus kein naives Gretchen, sondern eine gestandene, kluge, welterfahrene Frau? Auch dies muss sich die Leserin, der Leser selbst zu Ende schreiben, diese nur „angezettelte“ Liebesgeschichte.

Leerstellen in den Lebensgeschichten

Vielfach wurde in den Rezensionen auf die „Leerstellen“ hingewiesen, die Peltzer in seinem Buch hinterlässt: Nicht „zu Ende“ erzählte Lebensgeschichten, lose verlaufende Erzählstränge. Scheinbare Erklärungen liefert die Politik am Fließband. Erklärungsversuche sind Sache der Philosophen. Die Literatur – wenn sie denn in so gelungener Form daherkommt – erfüllt eine andere Funktion: Sie erzählt von der Welt und zwingt im besten Falle zum Weiterdenken. Zum Selberdenken.

Und gerade dies ist eine der großen Stärken dieses Romans: Peltzer ist nicht nur ein hochverdichtetes Abbild unserer durchkapitalisierten Gegenwart gelungen, eine Darstellung des Hamsterrades, in dem sich Menschen bewegen. Die zahlreichen Bezüge und Hinweise auf vergangene und verlorene Utopien und Illusionen – jenen der Studentenbewegung, die im Terror der RAF endeten bis hin zu jenen des Sozialismus, die im Blut des real existierenden Stalinterrors versanken – münden alle in die Frage: Was ist es, „Das bessere Leben“?

„Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär`s, daß nichts entstünde.“

Solch mephistophelischen Fatalismus hinterlässt der Peltzer-Roman dennoch nicht – aber er bedient auch nicht mit oberflächlichen Antworten in billiger Ratgeber-Manier.


Bibliographische Angaben:

Ulriche Peltzer
Das bessere Leben
S. Fischer Verlage, 2015
ISBN: 978-3-596-18742-3