
„Seine ganze Vergangenheit war wund, sie eiterte bei jeder Berührung. Die Vergangenheit, das war die Bewegung, die Partei; auch Gegenwart und Zukunft gehörten der Partei; waren untrennbar mit ihrem Schicksal verflochten; aber die Vergangenheit war mit der Partei identisch. Und diese Vergangenheit war plötzlich in Frage gestellt. Der heiße, atmende Leib der Partei erschien ihm von Geschwüren überzogen, eiternden Geschwüren, blutenden Stigmen, aus denen die rostigen Nägel hervorragten. Wann und wo in der Geschichte hatte es jemals so defekte Heilige gegeben? Wann war eine gute Sache schlechter vertreten worden? Wenn die Partei den Willen der Geschichte verkörperte, dann war die Geschichte selbst defekt.“
Arthur Koestler, „Sonnenfinsternis“
Wenn es ein belletristisches Werk gibt, von dem man zugleich sagen kann, dass es nicht nur eine Epoche des Zeitgeschehens frühzeitig und hellsichtig aufgriff, sondern selbst dieses Zeitgeschehen prägte, dass es Geschichte schrieb und allein schon seine Entstehung wieder eine ganz eigene Geschichte ist, ja dann ist dies wohl „Sonnenfinsternis“ von Arthur Koestler.
Koestler, 1905 in Budapest in eine deutschsprachige jüdische Industriellenfamilie hineingeboren, beginnt seine Berufslaufbahn als Journalist: 1926, vom Zionismus begeistert, wandert er nach Palästina aus und sendet von dort erste Reportagen an die Zeitungen des Ullstein Verlags. 1930 kehrt er nach Berlin zurück, arbeitet als Redakteur und tritt ein Jahr später in die Kommunistische Partei ein. 1954 schreibt er über diese Zeit:
„Ich war 26 Jahre alt, als ich in die Kommunistische Partei eintrat, und dreiunddreißig, als ich sie verließ. Die Jahre dazwischen waren meine besten Jahre, sowohl dem Alter nach, als wegen der bedingungslosen Hingabe, die sie ausfüllte. Nie zuvor oder nachher schien das Leben so übervoll an Sinn wie während dieser sieben Jahre. Sie hatten die Überlegenheit eines schönen Irrtums über die schäbige Wahrheit.“
Die schäbige Wahrheit, das war das Aufkommen des Faschismus. Für viele Schriftsteller jener Generation wurde das revolutionäre Russland zum utopischen Gegenbild. Der Kommunismus als Vision einer Gesellschaft der Gleichen – zum Zeitpunkt der Moskauer Schauprozesse von 1936 bis 1938 ist dieser Traum für Arthur Koestler bereits ausgeträumt.
Die Diktatur unter Stalin
Nicht von ungefähr lässt Koestler daher auch die Hauptfigur seines Romans, den langedienten Volkskommissar Rubaschow, unsanft aus einem Traum erwachen. Rubaschow, der immer wieder im Schlaf von seiner Verhaftung im Ausland (gemeint ist damit wohl das nationalsozialistische Deutsche Reich), den anschließenden Verhören und der Folter träumt, wird dieses Mal von seinen eigenen Landsleuten aus dem Schlaf gerissen, verhaftet und wochenlangen Verhören ausgesetzt. Er wird der oppositionellen Gesinnung, der Verschwörung und eines Mordkomplotts an „Nummer Eins“ (unschwer zu erkennen, dass damit Josef Stalin gemeint ist) beschuldigt.
Rubaschow weiß, was auf ihn zukommt. Er erinnert sich an eine Fotografie der Delegierten zum ersten Parteikongreß, alle an einem langen hölzernen Tisch, Nummer Eins noch abseits am unteren Ende sitzend. Von diesem Bild, nicht von ungefähr an das Abendmahl erinnernd, leben nur noch wenige:
„Ihre Gehirne hatten das Schicksal der Welt verändert; dann bekam jedes seine Ladung Blei.“
Schon 1935 sieht Koestler das kommen, was später als „Große Säuberung“ bezeichnet wird. 1940 veröffentlicht Koestler, der inzwischen in England arbeitete, seinen zweiten Roman, „Sonnenfinsternis“. Das Buch, das am Beispiel des altgedienten Volkskommissars Rubaschow zeigt, wie die Revolutionäre der ersten Stunde unter Stalin den Säuberungen zum Opfer fallen, erregt Aufsehen. Insbesondere im Frankreich der Nachkriegszeit, als dort die Kommunisten kurzzeitig dominieren, wird der Roman leidenschaftlich diskutiert und über 400.000 Mal verkauft. Eine führende Zeitung schreibt gar, es sei der wichtigste Einzelfaktor gewesen, der zur Niederlage der Kommunisten in der Abstimmung über die Verfassung führte, so Koestler in seiner Biographie „Die Geheimschrift“ (1954). In mehr als 30 Sprachen übersetzt, entfaltete der Roman eine ungeheure politische Wirkung. Koestler, der sich selbst zunächst noch im linken Flügel der Labour Party engagierte und zeitlebens antifaschistisch aktiv blieb, wurde von den staatstreuen Kommunisten heftigst angefeindet.
Eines der berühmtesten Werke über den Stalinismus
Im deutschsprachigen Raum spielte dieses „Enthüllungsbuch“ nicht ganz dieselbe Rolle, wurde aber in entsprechenden Enzyklopädien und Aufsätzen zur politischen Literatur als eines der berühmtesten Werke über den Stalinismus immer mit aufgeführt, gleichbedeutend neben den Romanen von Orwell und den Gulag-Erzählungen von Solschenizyn. Zugleich wurde Koestler auch hier für sein Werk angefeindet, beispielsweise von Ernst Bloch und Robert Havemann, der „Sonnenfinsternis“ als Propaganda des „Klassenfeindes“ abtat.
Erneut von hoher Aktualität
Dass der Roman jetzt, 2018, in den deutschen Medien wieder breit diskutiert und von vielen Menschen gelesen wird, hängt mit zwei Faktoren zusammen. Zum einen ist „Sonnenfinsternis“ heute, da in ganz Europa der Zulauf zu den politischen Extremen rechts und links zunimmt, wieder von hoher Aktualität. Zum anderen ist die Geschichte hinter dem Buch abenteuerlich genug. Während Koestler an dem Buch arbeitete, übersetzte seine Freundin Daphne den Text ins Englische. Im Chaos der Flucht ging jedoch das deutsche Originalmanuskript verloren, für den deutschen Buchmarkt musste Koestler „Sonnenfinsternis“ praktisch aus dem Englischen zurückübertragen.
Das Original galt als verschollen. Bis der Kasseler Germanistik-Doktorand Matthias Weßel durch eine Computerrecherche 2015 im Archiv der Universität Zürich auf einen Eintrag stieß: Tatsächlich war die erste Textfassung, mit handschriftlichen Anmerkungen Koestlers, vorhanden.
Die Originalfassung macht im Vergleich zur von Koestler später überarbeiteten Rückübersetzung an Stil und Sprache auch deutlich, unter welchen Umständen „Sonnenfinsternis“ entstand. Die Hetze, das Ungewisse, das ein Leben auf der Flucht prägt, wird bemerkbar, macht das Buch aber auch umso authentischer. Dieses wiederentdeckte Manuskript, das nun im 2006 gegründeten unabhängigen Elsinor Verlag erschien (der „Sonnenfinsternis“ in der „alten“ Fassung bereits im Programm gehabt hatte), bescherte dem Roman und dem Verlag nun große Aufmerksamkeit.
Schuld und Sühne von Dostojewski
Zu Recht: Denn „Sonnenfinsternis“ beschreibt nicht nur eine geschichtliche Epoche, die man überwunden glaubte – zumal man nicht wissen kann, wohin die neue Entwicklung unter Putin führen wird. Sondern der Roman wirft die großen Fragen nach Schuld und Sühne auf (im Verhör diskutieren der Gefangene Rubaschow und sein Gegenspieler eben diesen Roman von Dostojewski): Heiligt der Zweck alle Mittel? Dient eine Revolution den Menschen, die dem Individuum alle Rechte, selbst das wichtigste, das Recht auf Leben, abspricht? Sind politische Utopien angesichts der menschlichen Disposition nicht sowieso von vornherein zum Scheitern verurteilt?
Rubaschow, dessen Schicksal angelegt ist an jene von Leo Trotzki, Karl Radek und Nikolai Bucharin, erkennt im Lauf der Verhöre, wie er sich selbst schuldig machte, weil er die Menschheit über den Menschen stellte. Und obwohl im Lauf seiner Inhaftierung seine Zweifel am System, seine Kritik an „Nummer Eins“ (Stalin wird namentlich nie genannt) wachsen, bekennt er sich am Ende der Vorwürfe, die haltlos sind, schuldig. Er stellt sich ein letztes Mal in den Dienst der Partei.
Als Koestler dieses fiktive Verhör schrieb, wusste die Außenwelt noch nicht sehr viel über die inneren Vorgänge in der Sowjetunion. Man staunte, warum sich langjährige Parteimitglieder einer demütigenden öffentlichen Gehirnwäsche unterwarfen. Erst später wurden Protokollauszüge solcher Verhöre bekannt. Umso hellsichtiger durchschaute damals schon der Autor die Mechanismen des Stalinismus.
Die Verhöre, die in geschichtsphilosophische Diskurse münden, bieten auch bei der heutigen Lektüre noch Denkanstöße, die über die beschriebene historische Epoche hinausgehen. Im Deutschlandfunk sagte Michael Opitz dazu:
„Wie weit Koestler seiner Zeit mit „Sonnenfinsternis“ voraus war, zeigte sich erst Jahre später. Dass das Buch nun in seiner ursprünglichen Fassung vorliegt, ist ein Glücksfall. Hinterfragt wird jene Selbstherrlichkeit der Mächtigen, die glauben, der Zweck heilige die Mittel. Solange dieser Grundsatz als politisch vertretbar gilt, bleibt der Roman aktuell.“
Weitere Informationen:
Arthur Koestler
Sonnenfinsternis
Elsinor Verlag, 2018, 256 Seiten
ISBN 978-3942788533
Besprechung im Deutschlandfunk von Michael Opitz
Zur weiteren Lektüre ein paar Vorschläge:
„Radek“ von Stefan Heym
„Der Lärm der Zeit“ von Julian Barnes
„Der Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn
„Die Revolution entlässt ihre Kinder“ von Wolfgang Leonhard