Sabine Schiffner: Nachtigallentage

Die Nachtigall singt für die Liebenden: Doch die Protagonistin in diesem Roman hat zwar Vögel im Garten, aber vor allem eine Männerleiche im Keller. “Nachtigallentage” von Sabine Schiffner ist ein poetisches Lesevergnügen mit einer äußerst sympathischen, traumverlorenen Hauptfigur.

„Irgendwie ist alles ja schon fast so, als ob ich die Hauptfigur in einem Stück Literatur bin. Ich habe doch immer davon geträumt, aber dass sich mein Leben eines Tages in einen Roman verwandeln würde, dass hätte ich nicht gedacht. All das, was ich dir hier erzähle, kommt mir vor, als sei es erfunden und nicht erinnert.“

Sabine Schiffner, „Nachtigallentage“


Gevatter Freud hätte an diesem Roman seine helle Freude gehabt: Ein verträumtes Stück Literatur, eine Protagonistin, immer wieder an der Grenze zwischen Wachzustand und Tagtraum, beinahe somnambul. Die Kölner Schriftstellerin Sabine Schiffner betreibt in diesem Roman ein vergnügliches (und zugleich spannendes) Spiel auf mehreren Ebenen: Erzählt wird von einem Gattenmord und seinen Folgen, aus Sicht der Täterin, die dies ihrem späteren Geliebten, einem Polizisten gesteht. Doch schon im Vorsatz wird gewarnt:
„Es könnte so gewesen sein. Aber in Wirklichkeit war es ganz anders.“

Von außen betrachtet, klingt alles traumhaft schön: Ein Haus mit einem wunderbaren Garten, ein Mann und zwei niedliche Kinder. Sigune Vorinsfeld (allein schon dieser Name!) könnte glücklich oder wenigstens zufrieden sein. Aber, ach:

„(…) Sigune hat nur noch eine schwache Erinnerung an den Gesang der Nachtigall, vielleicht würde sie sie nicht einmal wiedererkennen, vielleicht verklärt sie in der Erinnerung die Sängerin (…). Seit Sigune von zu Hause ausgezogen ist, hat sie jedenfalls nie wieder eine Nachtigall singen gehört.“

Die Nachtigall, ein Symbol für die Liebe, die den Frühling ankündigt, sie flattert zugleich wie ein roter Faden und ein blaues Band durch diesen Roman: Immer wieder werden Zeilen des Liedes „Frau Nachtigal“ von Achim von Arnim aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ zitiert.

Nachtigall, ick hör dir trapsen

Schon bald hört man die Nachtigall durch die vermeintliche Vorstadtidylle trapsen: Eins der Kinder ständig krank, der Gatte Andreas meist abwesend, ohne einen größeren Teil zur Finanzierung der Familie beizutragen, Sigune schlägt sich mit gelegentlichen Lektorats-Jobs durchs Leben und ist im Grunde ständig überfordert und dauernd müde. Liebesgezwitscher zwischen ihr und Andreas ertönt schon lang nicht mehr (wenn es denn je erklungen wäre), herrscht Schweigen und viel Unausgesprochenes. Sigunes Ventil ist messerscharf: Regelmäßig ritzt sie sich an den Armen, seelische Narben, die nach außen sichtbar werden.

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Die sprichwörtliche Leiche im Keller

Und an einem von „diesen langweiligen Sonntagen in einem dieser typisch deutschen verregneten Maimonate“, in dem die Nachtigall natürlich nicht für Sigune singt, geschieht es, dass ihr Andreas nachts im dunklen Flur ins Messer läuft. Was sich danach entwickelt, ist Psychothriller und augenzwinkernde Komödie zugleich: Sigune, in ihrer ganzen tollpatschigen Verträumtheit und freundlich-liebenswürdigen Art, ist sicher eine der sympathischsten Mörderinnen, die mir bislang in der Literatur begegnet sind. Wobei es sogar offen bleibt, ob es ein Mord ist oder Andreas einfach nur ins offene Messer rennt …

Jedenfalls: Sigune hat nun eine Leiche, die sie loswerden muss und erst einmal kurzerhand im Keller einmauert. Kritisch wird die Situation erst, als sie sich ausgerechnet in Thomas, den Polizisten, der nach dem verschwundenen Mann fahndet (aufgrund einer Anzeige der Geliebten von Andreas, die nun auch auf der Bildfläche erscheint), verliebt. Thomas zieht bei ihr ein, will den Keller sanieren, die Leiche muss weg. Da helfen auch keine Beschwörungsformeln mit Achim von Armin mehr:

Nachtigal ich hör dich singen,
Das Herz möcht mir im Leib zerspringen,
Komme doch und sag mir bald,
Wie ich mich verhalten soll.

Welche organisatorische und kriminelle Energie Sigune plötzlich aufbringt, ist amüsant bis hin zu den Verwicklungen mit rumänischen Gangstern und nervigen Nachbarn. Das hat, trotz der Leiche im Keller, urkomische Momente:

„Sigune muss an ihre Großmutter denken, was die wohl sagen würde, wenn sie sehen könnte, was sie hier tut, in ihrem alten Küchenbüffet den Leichnam ihres Mannes transportieren?“

Trouble in der Vorstadt und Sigune, in deren Kopf es ziemlich „saust“, bleibt nur die Flucht nach vorn, was Thomas anbelangt: In die Erzählebene schiebt Sabine Schiffner immer wieder in kurzen Häppchen eine zweite Ebene ein, ein Dialog zwischen Sigune und Thomas, der sich vor den Augen der Leser immer mehr als nachgereichtes Geständnis entfaltet. Wie Thomas die Nachricht aufnimmt, dass er da eine Mordsfrau an seiner Seite hat? Das weiß die Nachtigall …

Der Garten als Paradies und Fluchtort

Dass „Nachtigallentage“ trotz des turbulenten Plots nicht „nur“ als Mordsgeschichte mit komödiantischen Zügen zu lesen ist, liegt auch an der Sprache der Autorin: Man spürt, vor allem wenn Sigune ihren Garten betrachtet, der ihr kleines Paradies, Rückzugs- und Fluchtort vor den quengelnden Kindern ist, dass Sabine Schiffner von der Lyrik kommt. Das ist voller poetischer Momentaufnahmen:

„Der nächtliche Dunst ist feucht und schwer. In das Dunkelgrün der Rhododendronblätter im Garten mischt sich als einziger Lichtblick das kleine Weiß der süßen Blüten vom Waldmeister, der nahe am Haus wächst.“

Zudem thematisiert „Nachtigallentage“ ganz unaufdringlich hinter der Kriminalgeschichte ein wichtiges Thema: Die Rolle der alleinerziehenden Frau, die Sigune in der Ehe mit Andreas faktisch ist, die unter allen ihren Pflichten (Versorgerin, Ernährerin, Mutter in ständiger Ansprechbereitschaft) nicht mehr weiß, wer sie eigentlich ist, wovon sie träumt und was sie möchte. Sie sei keine Nachtigall, sondern lang schon eine Lerche, meint Sigune an einer Stelle. “Nachtigallentage” erzählt auch von einer gescheiterten Beziehung und der großen Sehnsucht, es doch noch einmal besser zu treffen – am Ende wünscht man der sympatischen Mörderin Sigune, dass die Nachtigall noch einmal für sie trällert.

Die Nachtigall ist in der persischen Literatur ein Symbol sowohl für die Liebenden als auch für die Figur des Dichters. Eine Symbolik, die Sabine Schiffner wunderbar in diesem feinen Roman, der mit Dichtung und Wahrheit spielt, zusammenbringt.


Bibliographische Angaben:

Sabine Schiffner
Nachtigallentage
Quintus Verlag, Berlin, 2023
ISBN: 978-3-96982-065-0

Homepage von Sabine Schiffner:
https://sabineschiffner.de/

Eine weitere Besprechung gibt es beim Bücheratlas.

THERES ESSMANN: Bernhard Ulbrich über Konflikt, Krise, Kehrtwende und Katharsis

Ein Gastbeitrag von Bernhard Ulbrich: Er beschäftigte sich mit der Novelle “Federico Temperini” von Theres Essmann, die er für seinen Lesekreis analysierte.

EIN GASTBEITRAG VON BERNHARD M. ULBRICH

Jürgen Krause ist Taxifahrer in Köln, lebt alleine, hat Probleme. Er ist schon länger geschieden. Sein geliebter Sohn Leon lebt bei seiner ex-Frau Irene, die vor Jahren mit Ulrich eine neue Beziehung eingegangen. Er kämpft um die Gunst seines postpubertären Sohnes. Beide planten, eine Tour durch Kanada zu machen, was nun der Stiefvater mit Leon realisiert. Jürgen fühlt sich abgehängt.

Der Anruf eines Kunden mit Namen Federico Temperini bringt Änderung in Gang. Er ist ein Mann alter Schule, der ihn als Chauffeur für die Fahrten zu den Konzerten in der Philharmonie bucht. Die Gespräche während der Fahrten sind zunächst reserviert. Es entspinnt sich aber bald eine wundersame, die Leben von Fahrer wie Fahrgast durchleuchtende Geschichte. Wir werden neugierig gemacht.

Als ich ihn so am Arm hatte, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass der alte Herr etwas von mir wollte. Und dass ich keinen blassen Schimmer hatte, was. Nur dass es mehr war als Taxifahren. (39)

Man wird förmlich in die Entwicklung hinein gezogen. Jürgens Freund Wolfgang meint:

Der Typ hat dich ganz schön am Wickel.“ Und Jürgen selber denkt sich: Und zieht mich in etwas hinein, … (56)

Wir merken wieder auf: Da muss noch etwas Unerwartetes kommen. Und die Neugier lässt uns weiterlesen. Nebenbei erfahren wir etwas über Paganini und sein enormes, musikalisches Talent, denn:

Am Ende führten alle Wege zu Paganini. (38)

Microsoft PowerPoint - lbRez_Essmann-Plot-200524-brmuEs erhellen sich die Hintergründe, weil der Alte peu-à-peu Informationen über sein Leben mitteilt. Das bringt Jürgen des Nachts ins Träumen:

Ein Taxi hält am Wiesenrand, als ob er ein Bürgersteig wäre, die Fond-Tür geht auf und Paganini steigt aus, seine Geige in der Hand. Er sieht aus wie Temperini, trägt seinen Hut, seinen Mantel. (59)

Noch ein Fingerzeig. Aber wofür?

Jürgen beginnt, in Paganinis Biographie zu lesen. So kann er sich auch einbringen:

Ich glaube, Paganini hat seine ganze verdammte Seele in das Geigenspiel gepackt. (98)

Das drückt er zwar burschikos aus, trifft aber den Kern der Sache. Genie als die vollkommene Einheit von Wollen, Können und Tun.

Wir erfahren auch, dass der kauzige Alte, der sich wie Paganini in Schwarz kleidet, ebenfalls ein begnadeter Geiger war. Er nennt es:

Kongenial. Die Kritiker nannten mein Paganini-Spiel immer wieder kongenial. (109).

Und ebenso wie Paganini musste er seine Karriere wegen einer unheilvollen Erkrankung der linken Hand aufgeben. Die Ähnlichkeiten mehren sich, bis Jürgen sein Heureka-Erlebnis hat. Er liest alte Rezensionen.

Und dann las ich: „Federico Temperini, Solist.“ Ich schaute in die schwarze Leere vor meinem Fenster, …, und ich dachte: Natürlich. Natürlich, du Depp. (101)

An dieser Stelle legt man das Buch zur Seite und denkt verwundert: wieso Depp? Und der Blick fällt auf das Cover mit der offenen Hand und auf den Begriff „Novelle“. Ist sie nicht charakterisiert durch die vier „K“: Konflikt, Krise, Kehrtwende, Katharsis? Und plötzlich winken Parallelen. Bezogen auf unsere Hauptfigur Jürgen stellt sich der Konflikt mit seiner Frau Irene dar als das Gerangel um die Zeit, die Jürgen mit seinem Sohn Leon verbringen darf. Dieser Konflikt steigert sich über die Jahre bis zur Krise, denn Leon wird mit seinem Stiefvater statt mit Jürgen die Kanadareise unternehmen. Jürgen fürchtet, auch noch die Liebe seines Sohnes zu verlieren. Und dann der innere Wendepunkt, ausgelöst durch Temperini, der Jürgen den Horizont erweitert und ihn von den persönlichen Problemen ablenkt, wie ein Katalysator. Dank seiner hat Jürgen eine Erkenntnis: Natürlich, Natürlich, du Depp.

Dieser Katalysator namens Federico Temperini wird in der Novelle derart gleichartig zu Niccolò Paganini im äußeren Erscheinungsbild wie im musikalischen Talent gezeichnet, dass man stutzt: Das ist gewollt! Könnte es sein, dass uns die Autorin im Realismus des heutigen Stadtlebens einen magischen Aspekt untergeschoben hat? Eine Inkarnation des Paganini? Die Beziehungsprobleme werden dadurch relativiert, der Protagonist wird „ver“-führt, sich mit der Genialität von Paganini zu befassen. Für ihn eine unerwartete Horizonterweiterung. Neuer Blick auf das eigene Leben, auf das Verhältnis zu seinem verstorbenen Vater wie auch das zu seinem Sohn.

Es stellt sich eine Entspannung ein, eine Katharsis. Sein ach so klein geratener Vater hatte nämlich auch dem großen, noch genial geigenden Herrn Temperini als Chauffeur gedient. Jürgen ist verwundert:

Was wissen Söhne schon über ihre Väter. (121)

Diese Erkenntnis gilt auch für das Verhältnis zu seinem Sohn Leon.

Auch wenn es wehtat. Was immer passiert war oder noch passieren würde, es war nur ein Ausdruck dessen, was war, wie es war: Leo hatte zwei Väter. Ich war einer von beiden. (134)

Auf dieser Basis müsste man sich zusammenraufen können.

Wenn Sie nun wissen wollen, wie alles ausgeht, nehmen Sie die Novelle in die Hand und lesen selbst. Es lohnt sich!

© 31.5.2020  Bernhard R. M. Ulbrich / litbiss.de


THERES ESSMANN: Federico Temperini

Sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Der Kölner Taxifahrer Jürgen Krause und sein neuer Fahrgast, Federico Temperini. Den alten Herrn, der Krause als Chauffeur engagiert, umweht ein tragisches Geheimnis. Und Krause, einmal neugierig geworden, lässt sich ein auf die Obsession des Alten, dessen Leben und Denken sich vollständig um den einstigen Geigenvirtuosen Paganini dreht. Langsam entwickelt sich zwischen den beiden ungleichen Männern eine Freundschaft, die auch über den Tod hinaus Bestand hat.

Theres Essmann entfaltet mit “Federico Temperini” auf knappem Raum, gekonnt verdichtet, das Leben zweier Männer, sie erzählt von gescheiterten Lebensentwürfen, von der Kraft des Neubeginns sowie von einer ungewöhnlichen Freundschaft. Eine Novelle über Verlust und Vergänglichkeit. Über die Sehnsucht, geliebt zu werden und die Einsamkeit des Grandiosen. Und über das, was uns wahrhaft groß macht: unsere Menschlichkeit.


Zur Autorin:

Theres Essmann wurde 1967 in Nordwalde (Münsterland) geboren, studierte Literaturwissenschaften und Philosophie, lebt und arbeitet in Stuttgart und Köln. Sie schreibt Lyrik und Prosa. 2018 erhielt sie für ihren Erzählzyklus ein Stipendium des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg.

Homepage der Autorin: https://theres-essmann.de/


Stimmen zum Buch:

“Ein Debüt, das gespannt macht auf mehr.” – Richard Mayer, Augsburger Allgemeine

“Eine mustergültige Novelle.” – Susanne Schramm, Kölner Stadtanzeiger

“Stilistisch ist die Novelle von einer behutsamen Direktheit, die kaum Bilder braucht, um ästhetisch zu funktionieren.” – Guy Helminger, Luxemburger Tageblatt

“Mit „Federico Temperini“ ist der Autorin Theres Essmann eine berührende Novelle über Vergänglichkeit und Verlust gelungen.” – Kathrin Stahl, Südwestpresse

“Theres Essmann hat in ihrem Debüt mit feinem Strich Figuren gezeichnet, die ohne große Geste auskommen, aber dafür umso prägnanter auf den Leser wirken. (…) Unaufdringlich, aber voller Gefühle, leise, aber bis ins Mark. So spannend sind menschliche Begegnungen … wenn die Sprache stimmt.“ – Guy Helminger, Luxemburger Tageblatt

“Essmann ist eine gute Beobachterin der nichtsprachlichen Kommunikation.” – Andreas Sommer, Heilbronner Stimme

“In ihrer Novelle stellt die Literaturstipendiatin des Landes Baden-Württemberg, Theres Essmann, die Frage nach wahrer Größe.” – Silke Arning, SWR 2

“In dieser makellos komponierten Novelle verhandelt Theres Essmann Fragen
nach dem, was einem Menschenleben Größe, Bedeutung und Sinn verleiht.” – Mareike Ilsemann, WDR 5

“Klug komponiert, mehrfach gespiegelt und gebrochen, erzählt Essmann in ihrem gelungenen Debüt in ruhigem Ton, verknüpft mit einer Portion Nonchalance und Humor, von Einsamkeit, von gescheiterten Plänen, aber auch von neuem Halt und Aufbruch.” – Anton Philipp Knittel bei literaturkritik.de

“Die Autorin erzählt mit subtiler Überzeugungskraft.” – Markus Jäger, EKZ

Lesung auf der Verlagsseite:

 

Bibliographische Angaben:

Theres Essmann

Federico Temperini
Novelle
Klöpfer, Narr Verlag
Tübingen
164 Seiten
Hardcover mit Lesebändchen
Erscheinungstermin: Februar 2020
ISBN 978-3-7496-1026-6
18 Euro


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für die Autorin

Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen

Mit dem “kunstseidenen Mädchen” brachte Irmgard Keun einen weiblichen Ton in die Literatur, der so gar nicht zum Frauenbild der Nationalsozialisten passte.

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Bild von Sarah Lötscher auf Pixabay

„Tilli sagt: Männer sind nichts als sinnlich und wollen nur das. Aber ich sage: Tilli, Frauen sind auch manchmal sinnlich und wollen auch manchmal nur das. Und das kommt dann auf eins raus“.

Irmgard Keun, „Das kunstseidene Mädchen“


Sie vertrat die falschen Ansichten. Sie hatte eine Meinung. Und: Sie war selbstbewusst und frei. Alles, was eine Frau in Nazi-Deutschland nicht sein durfte. So musste auch Irmgard Keun (1905 – 1982) den Unrechtsstaat verlassen – kurz, nachdem sie mit dem „kunstseidenen Mädchen“, ihrem zweiten Buch, einen Sensationserfolg erzielt hatte. Aber die darin geschilderte Frauenfigur passte eben so gar nicht zum Frauenideal des Dritten Reiches: Zu kess, zu flatterhaft, zu eigenständig – das ist die 18jährige Doris, die Kunst- und Halbseidene, die in der Metropole Berlin unbedingt „ein Glanz“ werden möchte.

Glamour und Götterdämmerung

Das gelingt am Ende nicht – zum einem, weil Doris mit ihrem weichen Herzen und dem Hang zu falschen Männern halt doch nicht ganz zum Glanz taugt, zum anderen, weil die Umstände nicht so sind in der Weimarer Republik. Denn Doris schildert nicht nur das schillernde und glitzernde Berlin der 20er Jahre in ihrem unablässigen monologischen Gedankenfluss – Keun, als Vertreterin der „Neuen Sachlichkeit“ zeigt in diesem Roman, dass auch sie den „stream of consciousness“ perfekt beherrscht – sondern auch die Schattenseiten. Götterdämmerung ist angesagt: Armut, Arbeitslosigkeit, Nationalismus, Antisemitismus, Rassenhass…all das sind die Unter- und Hintergründe, die durch die (nur scheinbar) belanglose Plauderei der kleingroßen Naiven durchschimmern. Und nicht zuletzt ist „Das kunstseidene Mädchen“ auch einer der herausragenden Großstadtromane dieser Zeit. Die pulsierende Metropole, betrachtet aus den großen Augen einer staunenden Frau:

„Und ich kam an auf dem Bahnhof Friedrichstraße, wo sich ungeheures Leben tummelte. Und ich erfuhr, daß große politische Franzosen angekommen sind vor mir, und Berlin hatte seine Massen aufgeboten. Sie heißen Laval und Briand – und als Frau, die öfters wartend in Lokalen sitzt, kennt man ihr Bild aus Zeitschriften. Ich trieb in einem Strom auf der Friedrichstraße, die voll Leben war und bunt und was Kariertes hat. Es herrschte eine Aufregung! Also ich dachte gleich, daß sie eine Ausnahme ist, denn so furchtbare Aufregung halten auch die Nerven von einer so enormen Stadt wie Berlin nicht jeden Tag aus.“

Zeitgemäßes Frauenbild

Doris, die einerseits ein kunstseidenes Mädchen und andererseits doch eine ganz starke Frau ist, scheitert und bleibt allein – als hätte Irmgard Keun ihren eigenen Lebensweg vorgezeichnet. Man mag an dem Frauenbild und Frauentyp zweifeln – trotz ihres Ehrgeizes, aufzusteigen und aus den kleinen Verhältnissen ihrer Familie auszubrechen, verkörpert Doris eben nicht die neue, emanzipierte Frau, sondern das Mädchen, das sich verkauft. Aber auch das ist immer noch zeitgemäß:

“Aktuell sind gerade heute Stoff wie Schreibweise. Junge Mädchen, die als Germanys next Topmodel oder als Schlagersternchen “ein Glanz werden” wollen, sehen, wie Keuns Doris, in einer Krisenzeit keine anderen Möglichkeiten für sozialen Aufstieg.”

Sonja Hilzinger in einem Portrait bei der Deutschen Welle:

„Und so war auch das Buch, so wie das Leben, so wie im Film, schnell und oberflächlich und genau, weltmitschreibend, sich selbst verschenkend an die Welt, spielend mit der Welt, Schritt für Schritt Berlin erobern, die Männer erobern, das Leben erobern. Nicht mit Arbeit. Mit einem Glanz, der von innen kommt, mit einem Magnetismus, der die Welt tanzen lässt, um das kunstseidene Mädchen herum.“

Volker Weidermann in „Das Buch der verbrannten Bücher“.

Doch der Tanz wird – die Zeitumstände sind schuld daran, zugleich aber auch eine charakterliche Disponierung zum Alles-Verschlingen, zur Sucht, zur Selbstzerstörung – der Tanz also wird zum traurigen Walzer. Denn Irmgard Keun war sicher nicht das, was man eine in sich ruhende Persönlichkeit nennen könnte – zu temperamentvoll, zu sprunghaft, zu lebenslustig und lebenshungrig.

Wenn man Glück mit den Männern haben will, muß man sich für dumm halten lassen.

Und manches Mal auch mutig bis hin zum Übermut: Ihr erster Roman „Gilgi – eine von uns“ (1931) machte sie über Nacht berühmt, 1932 folgt der Bestseller „Das kunstseidene Mädchen“, 1933 werden ihre Bücher von den Nazis beschlagnahmt und verboten. Bevor Keun jedoch ins Exil flüchtet (und dort Joseph Roth, ihrem Schicksalsmann, wie unter anderem auch in Weidermanns „Ostende“ beschrieben, begegnet), legt sie sich mit der Zensur an: Sie erhebt Schadensersatzklage wegen des Verdienstausfalls, den sie durch die Beschlagnahmung ihrer Bücher erlitten habe. Zugleich aber beantragt sie auch die Aufnahme in die Reichschrifttumskammer. Auch das ist ein wenig kunstseidene Doris – die Hin- und Hergerissenheit zwischen den Möglichkeiten und dem Notwendigen. Manches wird später zurechtgebogen von ihr selbst und überhöht – eine Gestapo-Haft erlebte sie nie, auch nicht Folter und Verhöre.

Die Keun-Biografin Hiltrud Häntzschel schreibt in ihrer Monographie (Rowohlt Taschenbuch) über Irmgard Keun:

„Irmgard Keun hatte zur Wahrheit ihrer Lebensumstände ein ganz spezielles Verhältnis: mal aufrichtig, mal leichtsinnig, mal erfinderisch aus Sehnsucht nach Erfolg, mal phantasievoll aus Lust, unehrlich aus Not, mal verschwiegen aus Schonung.“

Ganz so, wie auch das kunstseidene Mädchen war.

In ihrer Heimat kann sie nicht mehr arbeiten, verlassen will sie sie jedoch ebenfalls nicht. 1936 ist es jedoch unumgänglich, Irmgard Keun flieht in das Exil. Es folgen Wanderjahre, Existenzsorgen, zudem ein zunehmender Alkohol- und Tablettenmissbrauch, vor allem aber treibt Irmgard Keun die Sorge um die im Deutschen Reich zurückgebliebene Mutter und das Heimweh um. 1940 kehrt sie heimlich – aber von den Nazis wohl durchaus wahrgenommen – nach Deutschland zurück, überlebt in der Illegalität. Nach Kriegsende fällt es ihr, wie vielen anderen Autoren der Weimarer Republik auch, schwer, im Literaturbetrieb wieder Fuß zu fassen.

Kunstseidene wird Trümmerfrau

Eigentlich wäre „Das kunstseidene Mädchen“ auch eine Frau der zweiten Nachkriegszeit in Deutschland – eine, die sich durchschlagen muss, durchaus selbstbewusst und frech, die aus der Not heraus versucht, das Beste aus ihren Lebensumständen zu machen, eine Frau, die „ihren Mann“ steht. Aber es scheint, als habe die neue Zeit keinen Raum für diese schnodderige Sprache mehr, keinen Sinn mehr für diesen Stil, der doch eng auch mit den „Roaring Twenties“ verknüpft ist. Das Frauenbild der Weimarer Republik hat ausgedient, die Kunstseidene wird zur Trümmerfrau.

Bei Irmgard Keun im wahrsten Sinne des Wortes – sie verarmt immer mehr, lebt kurzfristig in einem zerbombten Haus, immer weiter geplagt von ihren Abhängigkeiten. Kurze Phasen von Produktivität wechseln sich mit Krankenhausaufenthalten ab, 1966 wird sie dann für Jahre in die Psychiatrie eingewiesen. Nach ihrer Entlassung 1972 erlebt sie wenigstens in ihren letzten Lebensjahren als Schriftstellerin neue Beachtung – sie wird als Stimme der Weimarer Republik von Jürgen Serke im Rahmen seiner Recherche für seine verdienstvolle Stern-Serie „Die verbrannten Dichter“ wiederentdeckt, ihre Bücher werden wieder aufgelegt und erfahren erneut größeres Interesse. 1982 stirbt Irmgard Keun in Köln.

Was von ihr bleibt?

Ihre Romane, nicht nur „Das kunstseidene Mädchen“, auch die „Gilgi“ oder das bedrückende Buch „Nach Mitternacht“. Eine Frauenstimme, die klingt zwischen Lebenshunger und Verzweiflung. Die Sehnsucht nach der dunkelblauen Glocke wie im kunstseidenen Mädchen:

„Ich wünsche mir sehr mal die Stimme von einem Mann, die wie eine dunkelblaue Glocke ist und in mir sagt: hör auf mich; was ich sage, ist richtig; und wünsche mir dann ein Blut in mein Herz, was ihm glaubt…“